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Direkter Spiegel der gesellschaftlichen Probleme

Kunst im öffentlichen Raum, darunter fällt eine Menge. Das sind ärgerliche Kritzeleien an Häuserwänden und U-Bahn-Fenstern - die sogenannten Tags - aber auch ästhetisch ansprechende und kunstvolle Gemälde. Eine gute Übersicht über die internationale Urban-Art-Szene bietet jetzt eine große Ausstellung in Berlin.

Von Bettina Ritter | 29.06.2012
    "Die Straße ist eines der stärksten Medien, mit dem man die Menschen erreichen kann."

    Sagt der argentinische Straßenkünstler Ema Alaniz.

    "Die meisten Leute gehen ja nicht in Kunstgalerien. Sie lesen ihre Zeitung und gehen zur Arbeit, aber alle sind in den Straßen unterwegs. Deshalb finde ich die Street Art so bedeutend, weil sie eben alle Menschen erreichen kann."

    Alaniz ist Mit-Organisator der Ausstellung "Silence is a lie". An weißen Stellwänden hängen die Bilder der verschiedenen Künstler. Manche im Original und gerahmt, andere in typischer Street-Art-Technik: auf Papier ausgedruckt und auf den Untergrund aufgeklebt beziehungsweise hier angeheftet. Insgesamt 130 Künstler aus aller Welt haben Alaniz und seine Partnerin, die Architektin Alesa Mustar ausgewählt. Gezeigt werden die Arbeiten auf 2.000 Quadratmetern. Den Titel "Silence is a lie" haben die beiden bewusst gewählt, sagt Alesa Mustar.

    "Der Satz heißt: When truth is replaced by silence, silence is a lie, und das hat ein russischer Schriftsteller gesagt."

    Wenn die Wahrheit durch Stille ersetzt wird, ist die Stille eine Lüge. Von Jewgeni Jewtuschenko.

    "Es ging um die Protestbewegung in den 60er-Jahren. Und wir haben das aufgegriffen, weil wir überlegt haben: Gut, wir protestieren ja jetzt auch, aber doch ganz anders."

    Protest ist noch immer der Grundgedanke der Street Art. Je nach Land, aus dem die Künstler kommen, richtet er sich gegen unterschiedliche gesellschaftliche Phänomene. Die Teilnehmer aus Nord- und Südamerika prangern das übersteigerte Konsumverhalten der westlichen Welt an. Die Künstler aus dem Iran das politische System oder die fehlenden Frauenrechte.

    Alaniz: "Dieser iranische Künstler hat das Gesicht einer Frau gemalt. Es sieht so aus, als wollte sie sich mit den Händen den Schleier vom Mund nehmen. Das ist ehrlich gesagt nicht so kraftvoll und deutlich, wie ich es mir wünschen würde. Aber die Künstler aus dem Iran müssen eben auch in dem Rahmen agieren, der ihnen zur Verfügung steht. Dieses Bild hier aus Kolumbien ist viel stärker: Man sieht einen Soldaten und eine Rakete nebeneinander. Hier ist ein roter Pfeil, an dem man den unteren Teil des Bildes nach oben klappen kann. Dann sieht man den Soldaten ohne Hose und den Schriftzug: Truth is dynamite – die Wahrheit ist Dynamit. Große Rakete, kleiner Penis."

    Die Urban Street Art ist ein direkter Spiegel der gesellschaftlichen Probleme - im Gegensatz zur institutionalisierten Kunst. Das zumindest ist die Meinung der Ausstellungsmacher. Und sie übersehen dabei nicht, dass auch die Straßenkunst bereits kommerziell vereinnahmt worden ist. Der Urban Art Künstler Ken Consumer aus Texas findet das geradezu abstoßend.

    "Ich habe vor 20 Jahren mit Street Art angefangen, weil ich dagegen protestieren wollte, dass die Reichen Houston aufgekauft und umstrukturiert haben. Aber die Kids heute sehen Street Art ganz anders. Es wird ihnen als cool verkauft. Die Werbung ist ja voll davon, die machen Aufkleber und kopieren die Street Art. MTV spielt damit, die Hip-Hop-Typen stellen ihre teuren Sachen zur Schau. Und die Kids machen da einfach mit, ohne sich Gedanken zu machen, wo es herkommt. Ich finde das falsch."

    Für manche Künstler ist die Urban Art inzwischen so profitabel, dass sie hauptsächlich für den Markt arbeiten und nicht mehr, um ihre Message rüberzubringen, meint Ken Consumer. Er selbst stellt übrigens auch in Galerien aus. Aber nur, weil er damit ein anderes Publikum ansprechen kann, sagt er. Protestkultur contra Kulturbetrieb also. Ein Zwiespalt, den die Ausstellung "Silence is a lie" versucht, zu überbrücken.

    Ausstellungsinfos:
    Die Ausstellung "Silence is a lie" dauert noch bis Ende September. Ausstellungsort ist das Sport- und Erholungszentrum (SEZ) in Berlin-Friedrichshain (Landsberger Allee 77). Der Eintritt ist frei.