Wann diese Ungerechtigkeit im Iran tatsächlich zu Ende geht, lässt sich zwar nicht voraussagen. Aber wenn jemand wie Mohssen Kadivar behauptet, es wird nicht dauern, dann sollte man hellhörig werden, dann begreift man, welche Zeitbombe im Iran tickt. Denn Mohssen Kadivar ist nicht irgendwer. Der 45jährige Kadivar ist nämlich nicht nur ein Geistlicher, der selbst in der Stadt Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit viele Anhänger hat. Er ist außerdem mit einflussreichen Politikern des Landes familiär verbunden. Seine Schwester Djamileh zum Beispiel ist eine bekannte Professorin an der Universität Teheran und zugleich Abgeordnete des Teheraner Parlaments. Doch trotz seiner Stellung als anerkannter Religionslehrer und trotz seiner vielfältigen Beziehungen wurde Kadivar im vergangenen Jahr zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt, weil er mehr oder weniger die Trennung von Religion und Politik fordert. Auch jetzt, in Freiheit, verteidigt er seine Meinung und sagt offen: Iran muss die Prinzipien der modernen Welt übernehmen.
Wissen Sie: Über die Modernität gibt es hier in der heiligen Stadt Qom unter uns Geistlichen zwei gegensätzliche Meinungen. Die einen sagen, Modernität sei eine westliche Ware, ein Kleid so zusagen, das für westlichen Menschen geschneidert worden sei. Doch ich meine, und viele meine Kollegen teilen diese Meinung, dass die Modernität eine allgemein menschliche Errungenschaft ist. Sie ist zwar zum ersten Mal im Westen verwirklicht worden, aber es gibt keine westliche oder östliche Modernität. Modernität hat Prinzipien, die jenseits der Geographie und jenseits der Unterschiede der Gesellschaften Gültigkeit haben. Wenn man die Modernität als eine Ideologie der Macht versteht, dann kann sie westlich sein. Aber wenn man die Modernität als einen Entwicklungsprozess der Gesellschaft ansieht, dann hat sie, dann kennt sie keine Geographie.
Kühne Ansichten eines schiitischen Geistlichen. Doch Mohssen Kadivar ist nicht der einzige islamische Intellektuelle, der sich mit den Mächtigen innerhalb des Klerus auseinandersetzt. Seit dem Tode von Ayatollah Khomeini im Jahre 1989 wurden die Stimmen immer lauter, die eine neue Lesart des Islam fordern. Das beste Beispiel ist der zum Tode verurteilte Geschichtsprofessor Haschem Aghadjari, der inzwischen auf dem Campus der Universitäten wie ein Held gefeiert wird. Aghadjari war einst glühender Anhänger Khomeinis. Seine Biographie ist mit der Geschichte der islamischen Republik eng verbunden. Der jetzt zum Tode verurteilte Professor verlor im Krieg gegen den Irak ein Bein. Doch Aghadjari hat sich, wie viele einstige Revolutionäre der ersten Stunde, inzwischen völlig gewandelt. Mittlerweile besitzt er sogar die Kühnheit, offen das auszusprechen, was die Mehrheit der Iraner denkt. In seiner letzten aufsehenerregenden Rede, die er im Sommer dieses Jahres in der westiranischen Stadt Hamadan hielt und deretwegen er zum Tode verurteilt wurde, stellte er die gesamte Machtstruktur der Mullahs in Frage. "Im Islam", sagt er, gäbe es keine Kaste der Geistlichkeit. Rang und Titel, wie sie die schiitischen Geistlichen heute tragen, seien nicht älter als fünfzig oder sechzig Jahre. Die schiitische Hierarchie habe einfach die katholische Kirche kopiert. Genauso wie im Katholizismus, wo der Papst an der Spitze steht, hätten die iranischen Mullahs den Titel Großayatollah erfunden. Und nun verlangen diese Geistlichen von den Gläubigen Nachahmungen in allen Lebensbereichen. Die Menschen seien aber keine Affen, die nachahmen müssen. Jede Epoche habe ihre eigene Lesart des Islam, sagt Aghadjari, jeder Iraner soll das Recht haben, selbst die heiligen Texte nach heutigen Methoden zu verstehen. Man brauche keinen Vermittler zwischen sich und Gott.
Kaum war diese Rede aus dem Munde eines landesweit bekannten Professors im Umlauf, da begann eine Hetzkampagne, die ihres gleichen sucht. Er sei schlimmer als Salman Rushdie, schrieben konservative Zeitungen. Danach wurde hinter den verschlossenen Türen eines Provinzgerichts ein Urteil gegen Aghadjari gesprochen, das schrecklich und zugleich absurd klingt. Das Urteil lautete: 74 Peitschenhieben, acht Jahre Gefängnis, zehn Jahre Berufsverbot und anschließend Tod durch den Strang. Der Richter habe Befehl von ganz oben bekommen, heißt es in Teheran. Nach der Veröffentlichung des Richterspruchs fragte einer der bekannten Satiriker des Landes in einer der reformorientierten Zeitungen: In welcher Reihenfolge sollte eigentlich dieses Urteil vollstreckt werden? Und: Ob man gegen einen Toten auch Berufsverbot verhängen könne? Kein Wunder, dass dieses martialische Urteil vor allem unter den Studenten einen politischen Sturm auslöste. Täglich versammeln sich Hunderte, manchmal Tausende an den Universitäten. So sind die Studenten wieder einmal zu einem politischen Machtfaktor des Landes geworden. Und das hat in Iran Tradition: Studenten waren die Speerspitze der Revolution gegen den Schah, sie besetzten die amerikanische Botschaft unmittelbar nach der Revolution und sie verursachten mit ihren Demonstrationen im Sommer 1999 die größte Unruhe in der Geschichte der Islamischen Republik. Und sie melden sich wieder. Zwar ist es noch keine Revolution, doch für die Herrschenden ist die Lage sehr beunruhigend. Denn die Generation, die nach der Revolution geboren wurde, scheint einen eigenen Weg gehen zu wollen.
O-Ton: Student: Was wir wollen, sind offene Verhältnisse. Wir möchten Mädchen ansprechen dürfen. Nicht weil wir Schlechtes wollen. Vielleicht trifft man ja so seine spätere Ehefrau. Wir wollen unsere Wahl unter freieren Umständen treffen.
Zwei Phänomene fallen einem sofort auf, wenn man durch die Straßen Teherans geht. Zum einen sind es die jungen Frauen, die mit allen Tricks versuchen, die Hedjab, die offizielle Kleiderordnung zu umgehen. Das heißt: Die Kopftücher werden bunter und sie rutschen, so weit es geht, immer weiter nach hinten. Das zweite Phänomen ist die Anwesenheit der Jugendlichen, die das Straßenbild prägen. Denn dreiviertel der 70 Millionen Iraner sind unter dreißig, und gerade diese Jugend bildet das Gros der Unzufriedenen, die oft ihre Meinung über die Verhältnisse im Land unverblümt äußern. Privat führen sie ein Leben, das allen Grundsätzen des Islam widerspricht, und wenn es um das andere Geschlecht geht, nehmen sie sogar bestimmte polizeiliche Übergriffe, ja Bestrafung in Kauf:
O- Ton: Student: Wenn wir die Polizei sehen, dann rennen wir sofort in verschiedene Richtungen weg. Ich zum Beispiel wurde kürzlich verhaftet. Sie brachten mich auf einen Polizeiposten. Die Eltern wurden informiert, und gegen eine Kaution wurden wir freigelassen. Jetzt warten wir auf die Verurteilung – wahrscheinlich eine Prügelstrafe – und das ist es.
Doch trotz der Lockerung der Atmosphäre, die seit dem Amtsantritt vom Präsident Khatami überall zu spüren ist, müssen die Jugendlichen bei ihren gemeinsamen Partys oft aufpassen, denn nicht immer sind die Jugendlichen in ihren eigenen vier Wänden frei von Angst:
O-Ton Studentin: Nein, zu Hause herrscht keine Angst, auch kein ungutes Gefühl. Aber bei Partys merkt man, dass der Gastgeber nervös ist, und das überträgt sich dann. Ein Rest von Gefahr bleibt dann eben doch spürbar. Trotzdem, Angstgefühle verfolgen mich nicht. Bei größeren Partys mit den entsprechenden Getränken fühlt man sich dann allerdings nicht mehr so wohl.
Die Mullahs mussten auch die Frauen für ihre Revolution mobilisieren, sie wollten beweisen, dass die islamische Kleiderordnung zwar notwendig, aber keineswegs ein Hindernis für die Tätigkeit der Frauen sei. Die Politik hat für die Herrschenden in diesem Gottesstaat eine paradoxe Situation geschaffen. Trotz der islamischen Kleiderordnung kommen jährlich mehrere hunderttausend Frauen auf den Arbeitsmarkt. 52 Prozent der Studenten im heutigen Iran sind Frauen, und dieser Prozentsatz wird nach offiziellen Angaben in den kommenden Jahren noch weiter steigen. Denn Studieren heißt für viele Mädchen Unabhängigkeit, Studium bedeutet die schnelle Abnabelung von der Familie, und mit dem Studium steigt die Chance, selbst über den künftigen Ehemann entscheiden zu können. Die Frauen trifft man nicht nur an den Universitäten, den Krankenhäuser und den Büros, auch in den Amtsstuben begegnet man Frauen, die oft ihre Arbeit gewissenhafter verrichten als ihre männlichen Kollegen. Und das wissen auch die Mächtigen. Zum Beispiel: Auf dem Teheraner Flughafen sitzen auch Frauen hinter den Schaltern, die den letzten Stempel für die Ausreise erteilen.
12 der 290 Abgeordneten des iranischen Parlaments sind Frauen, eine von ihnen ist die 44jährige Elahe Kulaii, die im außenpolitischen Ausschuss des Parlaments sitzt, doch sie beschäftigt sich auch mit Familien- und Scheidungsrecht.
Doch jene Frauen, die außerhalb des Parlaments für Frauenrechte kämpfen, wissen zu gut, dass noch ein langer Weg vor ihnen liegt. Einer dieser engagierten Frauen ist Schirin Ebadi, die als kompetente und mutige Anwältin landesweit bekannt und geachtet ist. Sie wurde mehrmals verhaftet. Man hat ihr zeitweise die Anwaltslizenz entzogen. Doch unermüdlich kämpft sie gegen die diskriminierenden Gesetze der islamischen Republik, z.B. gegen das Scheidungsrecht oder das niedrige Heiratsalter, das die Frauen sehr benachteiligt:
Schauen sie sich z.B. das Heiratsalter an. Nach iranischem Recht ist dieses Alter für die Mädchen 9 und für Jungs 15. Ein unglaublich niedriges Alter. Dieses Gesetzt, hinter dem keine Logik steckt, wird von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Auch das Parlament hat dies eingesehen und neulich das Heiratsalter für Mädchen auf 15 und für Jungs auf 18 angehoben. Doch der Wächterrat, ein Gremium aus konservativen Geistlichen, hat diese Änderung abgelehnt. Unsere grundsätzliche Forderung ist, dass die Gesetze die Frauen als vollwertige Menschen betrachten müssen, was im Iran derzeit nicht der Fall ist.
Die Rechte der Frauen ist einer der zahlreichen Streitfälle zwischen den Konservativen und den Reformern. Doch es gibt manchmal Momente, über die sich die Frauenrechtler freuen können. Anfang Oktober wurde - nach jahrelangem Streit - endlich das Scheidungsrecht auch für Frauen eingeführt. Anlässlich dieser Gesetzesänderung schrieb ein Kommentator: Wenn sich die Islamische Republik je zum Besseren verändern sollte, dann geschieht es nur durch eine Verbesserung der Frauenrechte, denn wir Männer haben ja versagt.
Doch die Machtstrukturen in der Islamischen Republik sind so kompliziert, dass Gesetzesänderungen Monate, ja Jahre dauern. Denn dieser Gottesstaat ist zwar eine Republik, in dem regelmäßig gewählt, in dem es ja ein Parlament mit unterschiedlichen Fraktionen gibt. Aber über die Legislative herrscht weiterhin der Revolutionsführer als höchster Rechtsgelehrter, der fast alles bestimmen kann. Er bestimmt den Chef des Justizapparates, er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und er kann alle Gesetze des Parlaments verwerfen. Die islamische Republik ist also ein Widerspruch in sich. Mal spricht das Parlament und die gewählte Regierung, mal spricht der Revolutionsführer das letzte Wort über alles. Deshalb befindet sich dieser Gottesstaat seit seinem Bestehen in der Krise. So lange Ayatollah Khomeini am Leben war, waren die Krisen und die Widersprüche nicht so offensichtlich wie jetzt. Denn Khomeinis Charisma überdeckte alles. Auch die Verfassung der Islamischen Republik war maßgeschneidert auf seine Person. Doch der jetzige Revolutionsführer Khamenei ist kein Großayatollah wie einst Khomeini. Doch die Verfassung ist die alte. Das ist der Grund, warum die Politik der Islamischen Republik sowohl nach innen wie nach außen so chaotisch erscheint. Daher kommt auch die Machtlosigkeit des gewählten Präsidenten Khatami. Sie ist das Ergebnis dieser Verfassungskrise. Die verschiedenen politischen Fraktionen innerhalb des Machtapparats haben inzwischen ihre eigenen Machtbereiche geschaffen. So gibt es im Iran oft parallele Machtzentren. Es gibt im Lande inzwischen drei Geheimdienste, die oft neben-, manchmal sogar gegeneinander operieren. An der Spitze des Geheimdienstes, der eigens für den Revolutionsführer arbeitet, steht Ali Fallahain, der auch für das so genannte Mykonos-Attentat verantwortlich ist, bei dem 1992 drei oppositionelle Iraner im Berliner Restaurant erschossen wurden. Auch die von Konservativen beherrschte Justiz hat inzwischen den eigenen Geheimdienst geschaffen, um politische Prozesse nach eigenem Gutdünken durchführen zu können. Denn die Justiz akzeptiert nicht einmal das Gutachten des offiziellen Geheimdienstes des Landes, der unter Kontrolle des gewählten Präsidenten steht. Deshalb halten viele Iraner ihren gewählten Präsidenten Khatami für machtlos. Deshalb breitet sich im Lande ein Gefühl der Enttäuschung aus. Deshalb flüchtet man in das Private. Die kleinen Freiheiten, die man im privaten Bereich zu erobern versucht, scheinen das Wichtigste, ja das Einzige zu sein, was viele Jugendliche in dem Gottesstaat Iran besitzen. Doch der Unterschied zwischen drinnen und draußen, zwischen dem Gesellschaftlichen und dem Privaten, schafft eine Art Doppelmoral, unter der auch viele von ihnen leiden:
Es gibt hier zwei verschiedene Lebensweisen. Ein Leben, das man von außen sehen kann und ein anderes Leben, das vor allem wir Jugendlichen hier leben. Das Leben, das wir führen, ist ein Leben im Geheimen. Es gibt auf dem Land sicher auch andere, die anders denken, die ein religiöses Leben führen. Aber wir hier nicht. Das Leben, das wir führen, kann keiner auf der Welt sehen, weil alles hinter verschlossenen Türen passiert. Alles, was wir machen – zur Unterhaltung, als Hobby oder auch als Beruf – ist zu achtzig Prozent illegal. Deshalb ist unser Leben für andere nicht nachvollziehbar. Sie müssten unser Nachtleben, unsere Partys erleben, dann wüssten Sie, wovon ich spreche.
Wie die Mehrheit der jungen Generation im Iran denkt, welche Vorbilder sie hat und was sie über die Führung des Landes denkt, hat im Sommer dieses Jahres das Meinungsforschungsinstitut Ayandeh, zu deutsch Zukunft, in einer Umfrage dokumentiert. Als das Ergebnis dieser Befragung veröffentlicht wurde, schlug es wie eine Bombe ein. Danach haben nur 1,7 Prozent der Jugendlichen eine positive Meinung über den Revolutionsführer Khamenei, der an der Spitze der Konservativen steht. Noch spektakulärer war ihre Meinung über Amerika. Zwei Drittel der Teheraner Bevölkerung hat sich laut dieser Umfrage für eine sofortige Normalisierung der Beziehung zu den USA ausgesprochen. Und das, obwohl der Revolutionsführer Khamenei eine Woche vor der Veröffentlichung dieser Umfrage nicht nur jegliche Beziehung zu Amerika ablehnte, sondern jedem mit Strafe drohte, der über eine Wiederaufnahme der Beziehung zu den USA öffentlich auch nur zu sprechen wagte. Kein Wunder, dass das Meinungsforschungsinstitut Ayandeh, das dem Informationsministerium unterstellt ist, nach dieser Umfrage geschlossen wurde, drei Direktoren des Instituts, allesamt anerkannte Sozialwissenschaftler, sitzen seitdem im Gefängnis. Gegen sie wurde eine Anklage wegen Spionage erhoben, denn sie hatten diese Umfrage auch im Auftrag des amerikanischen Galup–Instituts durchgeführt. Iran ist demnach das Amerikafreundlichste islamische Land der Erde. So groß kann manchmal die Diskrepanz zwischen Realität und Klischees sein.
O-Ton: Student: Wir leben ein völlig anderes Privatleben. Die Ausländer aber beurteilen uns nach unserem öffentlichen Leben. Wenn sie sehen, was die Regierung so alles macht, glauben sie, dass auch das Volk so denkt und handelt. Doch das ist Unsinn. Unser Leben ist ein völlig anderes. Es ist für uns ein wirklich bedrückendes Gefühl, dermaßen schlecht eingeschätzt zu werden.