Casablanca. Im zentralen Stadtviertel Maarif befindet sich die marokkanische Frauenorganisation Solidarité Féminine. Hier finden diejenigen Hilfe, die von der marokkanischen Gesellschaft geächtet werden: Frauen, die schwanger geworden sind, ohne verheiratet zu sein. Es gibt Unterrichtsräume, eine Kinderkrippe und ein Beratungszentrum. Die Gründerin der Organisation, Aicha Chenna, hält nicht viel davon, dass die Islamisten nun für vier Jahre die stärkste Kraft im marokkanischen Parlament sind. Doch die resolute Siebzigjährige sieht auch keinen Grund zur Panik. Nicht nur die Islamisten seien gegen die Emanzipation. Auch die säkularen Parteien hätten es versäumt, entschlossen gegen frauenfeindliche Gesetze vorzugehen - wie das berüchtigte Gesetz Nr. 446, das außerehelich geborene Menschen als "Kinder der Sünde" stigmatisiert. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1983 wird von marokkanischen Richtern immer noch angewendet.
"Unsere Sozialarbeiterinnen berichten, dass die marokkanischen Gerichte immer wieder Anträge auf Anerkennung der Vaterschaft ablehnen - selbst dann, wenn der DNA-Test positiv ist und wenn der Vater zur Anerkennung bereit ist. Wir hatten jüngst den Fall einer jungen Frau, die das Abi gemacht und Jura studiert hatte. Sie wollte in den Polizeidienst und bestand die Einstellungstests ohne Probleme. Doch als sie ihren Personalbogen ausfüllen musste, wurde sie nach dem Namen ihres Großvaters gefragt. Sie sagte: Ich kenne den Namen meines Großvaters nicht, weil meine Mutter nicht verheiratet war, als ich geboren wurde. Damit war die Sache gelaufen. Sie wurde nicht eingestellt."
Die "ledigen Mütter" sind in Marokko keine Randgruppe: Laut einer Studie der unabhängigen Hilfsorganisation INSAF sollen in Marokko allein zwischen 2003 und 2009 rund eine halbe Million Kinder außerehelich geboren worden sein. Angesichts dieser Zahlen vermisst Aicha Chenna eine klare Aussage der Islamisten. Soziale Gerechtigkeit habe vor der Wahl durchaus eine Rolle gespielt. Aber ...
" ... im Wahlkampf haben sie sich für die Witwen eingesetzt und für die Waisen. Aber unverheiratete Mütter - das ist für die Islamisten und die Konservativen Prostitution. Das Gesetz 446 wurde 1983 verabschiedet. Dieses Gesetz sagt, dass ein sogenanntes "Kind der Sünde" nicht vom Vater anerkannt werden darf, selbst wenn es sich um den biologischen Vater handelt und dieser dazu bereit ist. Die Basis dieses Gesetzes ist nicht die gesellschaftliche Realität, sondern die Aussage irgendeines religiösen Scheikhs, der vor Jahrhunderten gelebt hat."
Während man bei der Frauensolidarität in Casablanca den schwierigen Alltag organisiert, wird in der eine Autostunde entfernten Hauptstadt Rabat heftig debattiert. In den Räumen der demokratischen Frauenvereinigung Marokkos - kurz ADFM - haben sich engagierte Frauenrechtlerinnen aus ganz Marokko zur Krisensitzung eingefunden.
Die ADFM hatte wesentlichen Anteil am neuen marokkanischen Familienrecht, das 2004 in Kraft trat. Seither sind Frauen und Männer im Scheidungsrecht gleichgestellt, die Gehorsamspflicht der Frauen und die Führung des Mannes in der Familie sind gestrichen. Das Recht der Männer, bis zu vier Frauen zu heiraten, ist stark eingeschränkt. Atifa Timjerdine ist Genderexpertin bei der marokkanischen Regierung und ein führendes Mitglied der ADFM. Sie kann sich nicht vorstellen, dass das neue marokkanische Parlament die Gesetzesreformen zurückdrehen wird. Schließlich hätten die Islamisten und die Konservativen im Februar 2004 für die Reform gestimmt. Aber Atifa Timjerdine rechnet damit, dass aktuelle neue Reformpläne nun erst einmal auf Eis gelegt werden. Das betreffe vor allem das marokkanische Strafrecht.
"Es darf nicht sein, dass eine Frau, die vergewaltigt worden ist, dazu gedrängt wird, ihren Vergewaltiger zu heiraten, damit dieser der Strafe entgeht. Auch die eheliche Gewalt beziehungsweise die Vergewaltigung sollte aus unserer Sicht strafbar sein. Und dann das Thema Abtreibung: Die marokkanische Gesetzgebung ist hier sehr streng. Wir wollen, dass Frauen unter bestimmten Bedingungen das Recht bekommen, legal abzutreiben, denn Frauen haben das Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Und die ledigen Mütter. Ihnen wird immer noch unterstellt, sie seien Huren und machten die Gesellschaft kaputt. Dabei sondern sie endlich besser schützen."
Atifa Timjerdine koordiniert ANARUZ, ein landesweites Netzwerk zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Marokko. Zu ANARUZ gehören zahlreiche Beratungsstellen für Frauen in Not. Die meisten dieser Beratungsstellen sind nicht auf staatliche Hilfen angewiesen. Sie werden von internationalen Geldgebern unterstützt oder funktionieren ehrenamtlich. Atifa Timjerdine macht sich deshalb keine großen Sorgen, was diesen Teil der Arbeit angeht.
"Der Stimmenzuwachs für die Islamisten ist natürlich ein Schock, aber praktisch ändert sich für uns erst einmal nichts. Wir sind ja nicht allein, sondern Teil eines großen, stabilen Netzwerkes, das für die Gleichberechtigung aktiv ist."
Atifa Timjerdine ist auch deshalb gelassen, weil die Gleichberechtigung von Männern und Frauen seit dem Sommer 2011 von der marokkanischen Verfassung geschützt wird. Mehr noch: Die reformierte Verfassung schreibt auch vor, dass der marokkanische Staat die Stärkung der Frauen aktiv vorantreiben muss.
In diesem Punkt ist die 70-jährige Aicha Chenna weniger optimistisch: Die neue Verfassung lege schließlich auch fest, dass Staat und Religion in Marokko weiterhin nicht getrennt würden, dass Marokko ein islamisches Königreich bleibe. Und damit bleibe die Diskriminierung von Frauen im Namen der Religion eine Option.
"Wer die Trennung von Religion und Staat fordert, der will die Religion zerstören: Mir ist schleierhaft, wie gebildete Menschen, die zur Schule oder sogar zur Universität gegangen sind, solch einen Unsinn glauben können. Dass Staat und Religion getrennt werden, bedeutet doch nur, dass jeder selbst über sein Verhältnis zu Gott bestimmen kann. Ich hoffe, es wird eine starke Opposition geben."
"Unsere Sozialarbeiterinnen berichten, dass die marokkanischen Gerichte immer wieder Anträge auf Anerkennung der Vaterschaft ablehnen - selbst dann, wenn der DNA-Test positiv ist und wenn der Vater zur Anerkennung bereit ist. Wir hatten jüngst den Fall einer jungen Frau, die das Abi gemacht und Jura studiert hatte. Sie wollte in den Polizeidienst und bestand die Einstellungstests ohne Probleme. Doch als sie ihren Personalbogen ausfüllen musste, wurde sie nach dem Namen ihres Großvaters gefragt. Sie sagte: Ich kenne den Namen meines Großvaters nicht, weil meine Mutter nicht verheiratet war, als ich geboren wurde. Damit war die Sache gelaufen. Sie wurde nicht eingestellt."
Die "ledigen Mütter" sind in Marokko keine Randgruppe: Laut einer Studie der unabhängigen Hilfsorganisation INSAF sollen in Marokko allein zwischen 2003 und 2009 rund eine halbe Million Kinder außerehelich geboren worden sein. Angesichts dieser Zahlen vermisst Aicha Chenna eine klare Aussage der Islamisten. Soziale Gerechtigkeit habe vor der Wahl durchaus eine Rolle gespielt. Aber ...
" ... im Wahlkampf haben sie sich für die Witwen eingesetzt und für die Waisen. Aber unverheiratete Mütter - das ist für die Islamisten und die Konservativen Prostitution. Das Gesetz 446 wurde 1983 verabschiedet. Dieses Gesetz sagt, dass ein sogenanntes "Kind der Sünde" nicht vom Vater anerkannt werden darf, selbst wenn es sich um den biologischen Vater handelt und dieser dazu bereit ist. Die Basis dieses Gesetzes ist nicht die gesellschaftliche Realität, sondern die Aussage irgendeines religiösen Scheikhs, der vor Jahrhunderten gelebt hat."
Während man bei der Frauensolidarität in Casablanca den schwierigen Alltag organisiert, wird in der eine Autostunde entfernten Hauptstadt Rabat heftig debattiert. In den Räumen der demokratischen Frauenvereinigung Marokkos - kurz ADFM - haben sich engagierte Frauenrechtlerinnen aus ganz Marokko zur Krisensitzung eingefunden.
Die ADFM hatte wesentlichen Anteil am neuen marokkanischen Familienrecht, das 2004 in Kraft trat. Seither sind Frauen und Männer im Scheidungsrecht gleichgestellt, die Gehorsamspflicht der Frauen und die Führung des Mannes in der Familie sind gestrichen. Das Recht der Männer, bis zu vier Frauen zu heiraten, ist stark eingeschränkt. Atifa Timjerdine ist Genderexpertin bei der marokkanischen Regierung und ein führendes Mitglied der ADFM. Sie kann sich nicht vorstellen, dass das neue marokkanische Parlament die Gesetzesreformen zurückdrehen wird. Schließlich hätten die Islamisten und die Konservativen im Februar 2004 für die Reform gestimmt. Aber Atifa Timjerdine rechnet damit, dass aktuelle neue Reformpläne nun erst einmal auf Eis gelegt werden. Das betreffe vor allem das marokkanische Strafrecht.
"Es darf nicht sein, dass eine Frau, die vergewaltigt worden ist, dazu gedrängt wird, ihren Vergewaltiger zu heiraten, damit dieser der Strafe entgeht. Auch die eheliche Gewalt beziehungsweise die Vergewaltigung sollte aus unserer Sicht strafbar sein. Und dann das Thema Abtreibung: Die marokkanische Gesetzgebung ist hier sehr streng. Wir wollen, dass Frauen unter bestimmten Bedingungen das Recht bekommen, legal abzutreiben, denn Frauen haben das Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Und die ledigen Mütter. Ihnen wird immer noch unterstellt, sie seien Huren und machten die Gesellschaft kaputt. Dabei sondern sie endlich besser schützen."
Atifa Timjerdine koordiniert ANARUZ, ein landesweites Netzwerk zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Marokko. Zu ANARUZ gehören zahlreiche Beratungsstellen für Frauen in Not. Die meisten dieser Beratungsstellen sind nicht auf staatliche Hilfen angewiesen. Sie werden von internationalen Geldgebern unterstützt oder funktionieren ehrenamtlich. Atifa Timjerdine macht sich deshalb keine großen Sorgen, was diesen Teil der Arbeit angeht.
"Der Stimmenzuwachs für die Islamisten ist natürlich ein Schock, aber praktisch ändert sich für uns erst einmal nichts. Wir sind ja nicht allein, sondern Teil eines großen, stabilen Netzwerkes, das für die Gleichberechtigung aktiv ist."
Atifa Timjerdine ist auch deshalb gelassen, weil die Gleichberechtigung von Männern und Frauen seit dem Sommer 2011 von der marokkanischen Verfassung geschützt wird. Mehr noch: Die reformierte Verfassung schreibt auch vor, dass der marokkanische Staat die Stärkung der Frauen aktiv vorantreiben muss.
In diesem Punkt ist die 70-jährige Aicha Chenna weniger optimistisch: Die neue Verfassung lege schließlich auch fest, dass Staat und Religion in Marokko weiterhin nicht getrennt würden, dass Marokko ein islamisches Königreich bleibe. Und damit bleibe die Diskriminierung von Frauen im Namen der Religion eine Option.
"Wer die Trennung von Religion und Staat fordert, der will die Religion zerstören: Mir ist schleierhaft, wie gebildete Menschen, die zur Schule oder sogar zur Universität gegangen sind, solch einen Unsinn glauben können. Dass Staat und Religion getrennt werden, bedeutet doch nur, dass jeder selbst über sein Verhältnis zu Gott bestimmen kann. Ich hoffe, es wird eine starke Opposition geben."