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Diskurstheater über Menschheitsfragen

Der Bestentreffen der freien Szene entwickelt sich zu einer kuratierten Veranstaltung mit eigenen Premieren. Die Arbeiten sind sehr unterschiedlich. Insbesondere eine Kunstaktion auf Grundlage der Sirenen zum Holocaust-Gedenktag in Israel sorgte im Vorfeld für Diskussion.

Von Dorothea Marcus | 30.06.2013
    Dies sind die Sirenen des Jom HaShoa, aufgenommen in Jerusalem. Zwei Minuten lang wird in Israel jedes Jahr das öffentliche Leben unterbrochen, um der Opfer des Holocaust zu gedenken. In einer umstrittenen Kunstaktion hat die israelische Künstlerin Yael Bartana das israelische Ritual nach Köln geholt. Als "Porno für Intellektuelle" wurde das im Vorfeld kritisiert, als miese Parodie und Instrumentalisierung des Gedenkens. Nun hat sich bei strömendem Regen ein Häuflein Menschen vor dem Kölner Dom versammelt, Blechbläser imitieren die Jom-HaShoa-Sirenen. Doch die Kontextverschiebung geht im Stadtgetümmel unter. Darf man das, Holocaustgedenken so leichtfertig in eins setzen mit einem allgemeinen Gedenken gegen Rassismus? Ist das nicht die Relativierung des Ungeheuerlichen?

    Man kann Bartanas Kunstaktion als gescheitert ansehen. Die emotionale Wucht, die dieser Moment in Israel hat, geht in Deutschland in Beliebigkeit unter. Doch das eigentliche Kunstwerk sind wohl die stundenlangen Diskussionen davor und danach, im Netz, auf dem Platz, auf Podien. Und dennoch ist es eine Schieflage, wenn das eigentliche Ereignis gegenüber der sozialen Plastik unsichtbar bleibt. Allerdings: Was könnte sich besser eigenen, als die auch durch den Holocaust definierte Identität der Deutschen zu befragen? Denn zum ersten Mal steht das Festival Impulse unter einen thematischen Fokus. "Under the influence", "unter Einfluss", soll untersuchen, was die Identität der Deutschen ausmacht. Aber ist es sinnvoll, das ehemalige Bestentreffen der freien Szene jetzt zum kuratierten Festival zu machen, mit eigenen Premieren und Auswahlkriterien? Festivalleiter Florian Malzacher:

    "Ich glaube, dass die Idee der Besten wahrscheinlich früher auch Sinn gemacht hat, weil man die Arbeiten gut vergleichen konnte. Die Szene hat lokal gearbeitet, sich verglichen. Und jetzt glaube ich und das, was es wirklich unterscheidet – so etwas wie eine Definition der freien Szene ist – dass die Arbeiten sehr, sehr unterschiedlich sind. Dass man etwa eine Arbeit wie "Zwei Minuten Stillstand" von Yael Bartana oder Gesine Danckwarts "Chez Icke", was eine Kneipeninstallation ist, tatsächlich nicht vergleichen kann. Man kann sie nur in Bezug zueinander setzen. Und das ist dann interessanter, zu sagen, als zu sagen, das ist besser als das andere. Das ist dann Geschmackssache."


    Chez Icke: "Ich komme in Städten an. Und überall ist Subway. Ich weiß gar nicht, wohin. Ich bin in schland ... es gibt Bahnhofshoppingmalls ... Mülheim.. oder Köln ... oder Mallorca ... und manchmal ist es nass ..."

    Identität ist eben nicht nur Geschichte, sondern auch Gegenwart. Und wenn der Mensch heute schon keine individuelle Heimat mehr hat, weil alles gleich aussieht, dann sollte er sich wenigstens in den Stammkneipen dieser Welt wie zu Hause fühlen. Von diesem Gedanken lebt "Chez Icke" von Gesine Danckwart. Das Absurde daran ist: In der Kneipe, die in allen vier Städten zugleich installiert ist, kann man auch als Festivalbesucher überall zugleich anwesend sein. Eine Utopie des modernen Menschen wird wahr. Barvatare in rosa Cowboyhüten verwickeln ins Gespräch, die im Hut integrierte Live-Cam projiziert die Szene zugleich auf die Kneipenleinwände der anderen Städte. Das wirkt zunächst verspielt und albern. Man kann aber auch tiefer einsteigen: Es spiegelt nämlich genau die Identität der sozialen Networker im Web, überall und nirgends zu sein, öffentlich und privat zugleich. Das privateste Glück kann man im virtuellen Raum finden – und sich auf den gleich aussehenden Einkaufsstraßen der Heimat verlieren.

    "Was macht dir Angst? Folge meiner Stimme. Geh ins Licht. Nein, geh nicht ins Licht."

    Dazu passen wunderbar die Performer der Gruppe "Showcase Beat Le Mot". Nichts Geringeres haben sie sich vorgenommen, als ihrem Publikum "Alles" zu geben. So der Titel der fast vierstündigen Show, in der sie den Zuschauer auf tiefen Sofas in eine Art Trance führen, zwischen psychedelisch bunten Projektionen und meditativ kreisenden Holzmaschinen. Zu treibendem Elektro, mit Minestrone und Bier kann man dabei zusehen, wie sie mit Theater ironisch alles erschaffen, wonach sich der Mensch immer gesehnt hat. Mit Zaubertricks machen sie aus Granulat Gold, lassen den Satan im Schattenspiel über Lust reflektieren, ein Golem aus Buchstaben will bei ihnen Praktikum machen. Alchemie und Mystik, Theater und Leben öffnen gewaltige Assoziationswelten im Kopf. Und so kann man nach dem ersten anregenden Impulse-Wochenende resümieren: Der neue Festivalleiter Florian Malzacher ermöglicht Selbstbefragungen aus vielen Perspektiven. Nicht schlecht, wenn das mit Hilfe von Theater gelingt.