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Disproportion in Leben und Werk

Gisela Elsner ließ keine Balance zu. Sie war menschlich wie politisch unbequem. Es gibt keinen Aspekt ihrer Existenz, der nicht eine Verweigerung von Proportion und Angemessenheit ausdrückte.

Von Ursula März |
    "Keitel, der daraufhin, mit einem aufhorchenden Ausdruck eher, über die so unverfehlbar angegebene Stelle tastete, während sein Vater meinte, er möge das lassen, da um Himmels willen nicht hinfassen, das verschlimmere es nur, Keitel also wirkte, obwohl sie beide gleich großen waren, wie er ein wenig linkisch, ein wenig gebückt, mit durchgeknickten Knien, weil ihm die überschwängliche Umarmung seines Vaters zum vollendeten Aufrichten keine Zeit ließ, nur halbwegs stand, in solchen Augenblicken stets erheblich kleiner."

    Dies ist grammatikalisch und motivisch ein klassischer Gisela-Elsner-Satz. Er stammt aus ihrem 1970 veröffentlichten und im vergangenen Jahr im Berliner Verbrecher Verlag neu aufgelegten Roman "Das Berührungsverbot". Und er veranschaulicht das Thema, dem Gisela Elsners literarisches Werk folgt: Disproportion. Ein erwachsener Sohn verzwergt in der gymnastischen Umarmung seine Vaters zum Kind. Und ein hypotaktisch überfülltes Satzgebilde formt die ungleichen Größen- und Machtverhältnisse durch sprachliche Überladung nach. Peter Hacks äußerte sich zu Gisela Elsner einmal mit der Frage: "Kann es sein, dass sie pro Witz zu viele Worte benötigt?"

    Auch wer nichts von ihr weiß, keine Zeile gelesen hat, weiß zumindest seit dem biografischen Film "Die Unberührbare", den Gisela Elsners Sohn Oskar Röhler drehte, dass sie die Frau mit der monströs übertriebenen Frisur ist, ein schwarzes toupiertes Unding von ausladender Breite. Weniger eine Frisur als ein dem Kopf übergestülptes Attribut, dem man anzusehen glaubt, dass es weniger einer Verschönerungsidee dient, als, mit den Jahren immer breiter werdend, der Idee schieren Volumens, so disproportional wie viele ihrer Romansätze und fast alle ihrer Romanfiguren. Denn ein Elsner-Roman ohne aufgeblasene Patriarchen, aufgeblasene Parvenüs und geblähte Altnazis, ohne Kleinbürger, die zwischen Kühlschrank, Ehebett und Fernseher ihr lächerlich angemaßtes Despotentum ausspielen, ja, ohne Attacke auf die verlogene Aufgeblasenheit der gesamten Bundesrepublik ist gar nicht vorstellbar. Aber auch keiner ohne die entsprechend verkleinerten Gegenfiguren und reduzierenden Gegenreaktionen; ohne Gestauchte, Abgemagerte, Infantiliserte, ohne Menschen in der kümmerlichen Miniaturform ihrer selbst.

    "Wenn Keitels Vater mit diesen Korrekturen und Hinweisen seiner väterlichen Fürsorge Ausdruck verliehen hatte, wenn er durch eine zwar willkürliche, aber gleichmäßige Verteilung von Lob und Tadel den Anschein einer beispielhaften, einer über diesen Dingen stehenden Gerechtigkeit erweckt hatte, wenn sich, mit einem Wort, alle außer seinem Sohn sagten: solch einen Vater hätte man haben müssen, meinte er, von neuem Abstand nehmend, in einem erpresserisch bittenden Tonfall, einem Tonfall, der jede Weigerung als die lächerliche Aufsässigkeit eines selbst in seinen besten Jahren geistig noch nicht ausgereiften Mannes auslegbar machen musste: so setz dich doch, so laß dich einmal ansehn."

    Dieser Typus des gleichsam didaktisch repressiven, unangreifbaren Vaters ist die Zentralfigur in Elsners Werk. Wir begegnen ihm bereits im ersten Satz des ersten Romans der in Nürnberg als Tochter eines Siemens-Direktors vor genau 70 Jahren geborenen Autorin.

    "Mein Vater ist ein guter Esser","

    heißt es in der Eingangsmitteilung des Romans, die den ersten Satz von Adalbert Stifters "Nachsommer", "mein Vater war ein Kaufmann…", ironisch abwandelt. Elsners Debüt erschien im Jahr 1964. Der vielsagende Titel: "Die Riesenzwerge". Es ist bis heute Elsners berühmteste und erfolgreichste Arbeit. In dem Romantitel steckt die ätzende Sicht der späterhin glücklosen, vom literarischen Betrieb in den 80er und 90er Jahren immer stärker abgewiesenen Vorläuferin Elfriede Jelineks auf Menschen und Gesellschaft. In diesem Titel steckt auch ihre Kunstmethode aus Verkleinerung und Vergrößerung, aus Schrumpfung der Welt in der Erzählperspektive eines Kindes und gnadenloser Übertreibung der Welt in den Formen der Groteske und der Farce. Diesen Gattungen blieb Gisela Elsner vom ersten bis zum letzten Roman "Fliederalarm" aus dem Jahr 1989 treu.

    Die Tochter aus wohlhabendem, sehr bürgerlichem Haus, Gymnasiastin vom Chauffeur zur Schule gebracht, war 27 Jahre alt, als die "Riesenzwerge" auf der Bühne des literarischen Lebens erschienen. Sie hatte schlagartig Erfolg, beim Publikum und bei der Gruppe 47. Und sie hatte schnell das Prestige einer skandalisierenden Autorin, einer beunruhigenden Person, deren stürmischer Stimmungshaushalt nicht ohne Alkohol, Zigaretten und Tablette auskam. Mit 17 ging sie in den Aufstand gegen das Elternhaus, brannte mit dem späteren Ehemann und Verlagslektor Klaus Röhler durch, dem die Eltern Elsner auf dem Höhepunkt des Autoritätsdramas einen Detektiv hinterherschickten. Drei Jahrzehnte später bedurfte sie noch immer der wirtschaftlichen Unterstützung dieser Eltern. Mit 40 trat sie in die kleinbürgerlichste als westkommunistischen Parteien, in die DKP ein. Kurz vor der Wende trat sie aus, kurz nach der Wende aus Protest gegen das Ende der DDR wieder ein. Die Kritik, ihre Romane beruhten auf einem überholten, veralteten Bild der Gesellschaft, projizierten diese auf Milieus der 50er Jahre oder gar der wilhelminischen Epoche, pralle an ihr ab.

    Unzeitgemäß, quer zu kulturellen und ästhetischen Trends, ist Gisela Elsners Literatur wohl tatsächlich. Aber in doppelter Hinsicht: Nämlich nicht nur verspätet, sondern, wenn man so will, auch verfrüht. Der Roman "Berührungsverbot" beispielsweise, eine Sexualsatire, rechnet schon im Jahr 1970 mit der sexuellen Revolution ab, als sich diese gesellschaftlich im vergnügtesten Stadium befand, Jahre vor Elfriede Jelineks satirischem Antiporno "Lust". Vor kurzem brachte der Verbrecher Verlag den Roman "Heilig Blut" heraus, eine bizarre Geschichte um jagdfreudige Altnazis, die eine nicht minder bizarre Publikationsgeschichte hinter sich hat. "Heilig Blut" von deutschen Verlagen abgelehnt, erschien 1984 ursprünglich in russischer Übersetzung in einem sowjetischen Verlag und ist nun zum ersten Mal in deutscher Sprache zu lesen.

    ""Um nicht in die Schusslinie zu geraten, sprang der junge Gösch zwar zur Seite. Als er jedoch feststellte, dass der Wolf ihm nachsetzte, stürzte er voller Kopflosigkeit in Lüßls Richtung und rannte geradewegs in die Kugel hinein, die der letztere, enerviert, wie er es nach zwei schlaflosen Nächten war, ebenfalls voller Kopflosigkeit abgefeuert hatte. Sie durchbohrten seine linke Brusthälfte in Herzhöhe. Während der Wolf, aufgeschreckt durch den Knall des Schusses, mit großen Sätze davonjagte, stieß er einen langgezogenen Jammerlaut aus, tat darauf ein paar taumelnde Schritte und fiel schließlich vor Lüßls Füßen zu Boden."

    Man erkennt in "Heilig Blut" Elsners typische Stärken Dialogkomik, Szenen-Slapstick, Antipsychologie und Gisela Elsners literarische Schwäche, die Verengung des Stoffes in ideologischer Mechanik. Wie auch immer man diese Schriftstellerin betrachtet, literarisch, biographisch oder politisch, es gibt keinen Aspekt ihrer Existenz, der nicht eine Verweigerung von Proportion und Angemessenheit, der, anders gesagt, nicht Negation ausdrückt. Optisch betrachtet verweigerte Gisela Elsner vor allem eines: erwachsen zu werden, den Gang der Zeit zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Frisur war ja nicht nur exzentrisch. Mit dem Riesending auf dem Kopf erhielt sie sich bis ins heranrückende Alter die Körperproportion der Kindlichkeit. Sie verzwergte sich mit einem übertreibenden Attribut. Sie ließ keine Balance zu. Sie hätte - 20 Jahre jünger und mit etwas mehr Abstand zu den eigenen Neurosen - der deutsche Houllebequ werden können. Und man kann nicht sagen, dass eine solche Stimme in der deutschen Literatur nicht fehlte.