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Disput im Blut

Lange hat er gezögert, dann hat sich Burkhard Müller-Ullrich doch den dicken Mantel samt Schal angezogen, ist in die feindliche nasse Virenwelt hinausgegangen und hat sich gegen die Schweinegrippe impfen lassen.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Der Piks war schwächer, die Spritzennadel feiner als bei jeglicher Impfung, die bisher an mir vorgenommen wurde. Das war nach der medialen Kanonade, die diesem Akt vorausgegangen war, fast ein bisschen enttäuschend. Aber in der Medizin können auch ganz kleine Dinge große Wirkungen entfalten. Gerade bei den Grippeviren haben wir es mit Phänomenen an der Grenze zur Unglaublichkeit zu tun. Ich nahm mir vor, das vor allem als geistige Herausforderung zu begreifen, während ich meinen linken Arm wieder mit dem Hemd umhüllte.

    In der Arztpraxis herrschte ein Chaos wie nach einer Katastrophe. Dabei sollte es doch gerade darum gehen, eine Katastrophe zu vermeiden. Offenbar hat die Pandemie, die sich in unseren Köpfen seit Anfang dieses Jahres ausbreitet, einen ersten Panik-Höhepunkt erreicht. Die Impfwilligen drängten sich schon im Treppenhaus; man bekam eine Einverständniserklärung ausgehändigt und einen ellenlangen Nebenwirkungszettel. Man sollte mit seiner Unterschrift bestätigen, dass man entweder "in einer Gesundheits- oder Pflegeeinrichtung, im Rettungsdienst, bei der Berufsfeuerwehr oder der Polizei" arbeite oder an einer Krankheit leide, derentwegen man bevorzugt zu impfen sei oder keiner der beiden erstgenannten Gruppen angehöre.

    Amüsanterweise war es egal, was ich ankreuzte - geimpft wurde in jedem Fall. Nachdem wochenlang über die Hierarchie der Wichtigkeit der Menschen in diesem Land debattiert worden war - zuerst die Regierung und der öffentliche Dienst, zuletzt ein freischaffender Autor -, verwirklichte sich in diesem Augenblick und in dieser Arztpraxis der alte Philosophentraum der Gleichheit. Tatsächlich gibt es die Impfungen nur im Zehnerpack, und einmal angebrochen müssen sie rasch aufgebraucht werden: Da mag der Arzt nicht lang nach Vorrang und Berechtigung fragen, zumal er nur fünf Euro und fünf Cent pro Impfung verdient - vor Steuern, versteht sich.

    Ich war also fast unverdienterweise unter den Ersten, die das neue Serum gegen die Neue Grippe (man soll ja nicht mehr Schweinegrippe sagen) erhielten, und wie immer stellt sich beim Ausprobieren von etwas ganz Neuem ein Mischgefühl aus Bangigkeit und Heroismus ein. Ich hatte schon so viel gehört von den umstrittenen Wirkungsverstärkern in Pandemrix, Focetria und Celtura; allein der Klang dieser künstlichen Namen machte mich ein wenig schaudern; ich fürchtete schon, die Sprechstundenhilfe könnte mir aufgrund einer Verwechslung auch Arcandor, Qimonda oder Thalys spritzen.

    Oder war das erst später, als das Fieber kam? Es ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten. Der Tag danach verfiel in Dämmer. Ich spürte, wie mein Immunsystem gleich einer magischen Maschine ansprang und unter Kopf- und Gliederschmerzen Antikörper produzierte. Antikörper sind etwas, das man wirklich als geistige Herausforderung begreifen sollte. Antikörper sind Disput im Blut. Antikörper sind auf der materiellen Ebene das, was der Autor mit Worten versucht.

    Inzwischen fühle ich mich wie Asterix nach einem ordentlichen Schluck Zaubertrank. Die Symptome des ellenlangen Nebenwirkungszettels klingen langsam ab und ich - immun, unverwundbar und unsterblich - fände es ein bisschen schade, wenn nicht ganz bald die Pandemie losbräche. Ich habe sogar eine Liste von Leuten, die ich, wenn irgend möglich, sogar selber infizieren würde, wenn ich bloß einiger aktiver Exemplare von H1N1 habhaft wäre. Aber die sind anscheinend noch schwerer zu bekommen als die Impfung gegen sie.