Und eine Künstlerin über Lese- und Denkverbote im Russland Vladimir Putins: "Es sind eine Menge Tabus entstanden. Für einen Intellektuellen ist das eine völlig unannehmbare Situation. Für mich wird es wieder aktuell, mich mit einem kleinen Kreis von Freunden in einem privaten Raum zu treffen. Nur so kann ich angemessen alle Probleme diskutieren, die mich interessieren."
In jedem Russen steckt ein bisschen von Oblomov.
Literaturunterricht in einer Moskauer Schule.
Literaturunterricht in einer Moskauer Schule.
Raissa Nikolajewa steckt den Kamm in ihre Handtasche, mit dem sie sich eben noch die hochgesteckte Frisur gerichtet hat. Eine silbern schimmernde Strähne zieht sich von der Stirn über das schwarz getönte Haar. Ihre Lippen sind dezent geschminkt. Gleich beginnt in der Schule im bürgerlichen Moskauer Bezirk "Sokol" die 2. Stunde.
" In diesem Jahr ist es 55 Jahre her, dass ich mein Studium beendet habe. Ich unterrichte schon 38 Jahre in dieser Schule (Lachen). Hier war ich jung und schön (Lachen), hier bin ich alt geworden. Jetzt gehöre ich allmählich zum alten Eisen. Mal tun mir die Beine weh, mal etwas anderes, naja, egal... "
Eigentlich ist Raissa Nikolajeva längst in Rente, aber die Schule möchte nicht auf die erfahrene Russischlehrerin verzichten, und sie selbst kann auch nicht so recht von der Arbeit lassen. Raissa Nikolajeva hat ihr Handwerk in der Sowjetunion gelernt. Die UdSSR war das Leseland Nummer 1. In keinem anderen Staat der Welt wurde so viel gelesen und auswendig gelernt. Bücher galten als Statussymbol und als Zeichen für den umfassenden Bildungsanspruch des Kommunismus. Es gab allerdings auch wenig andere Möglichkeiten des Zeitvertreibs. Nach dem Ende der Sowjetunion und den gesellschaftlichen Umbrüchen ist die Leselust rapide gesunken. Umfragen zufolge besitzt ein Drittel der Russen gar keine Bücher mehr. Die Auflagen sinken. Buchhandlungen machen zu. Zugleich wird der Markt von billigen Bestsellern überschwemmt.
Doch klassische Literatur sollte jeder kennen, auch im heutigen Russland, davon ist Raissa Nikolajeva überzeugt. Ein Grund, weshalb sie in der 10. Klasse jede Woche vier Stunden gibt.
" Es sind nette Kinder. Viele geben sich Mühe. Die meisten allerdings nicht. Sie lesen wenig. Als ich 1967 an diese Schule kam, war das anders. Damals waren die Schüler sehr belesen. Die 60er Jahre waren etwas besonderes. Die Begeisterung für Literatur und Kunst, parallel zur rasanten Entwicklung der Technik, der Industrie, der Entdeckung des Kosmos... Dichter wie Roschdestvenskij oder Evtuschenko (KLINGEL) waren Stars. Ich erinnere mich, dass ich damals mit meinen Schülern zu einer Dichterlesung ins Technologische Museum ging. Da waren so viele Leute, da rückte sogar die berittene Polizei an! Das war der Höhepunkt der Belesenheit. Kommt rein Kinder, kommt rein. Dann gab es all diese wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und in wirtschaftlich schweren Zeiten mag man nicht lesen. "
Nach und nach kommen die Schüler herein. 15jährige: Erste Schminkversuche, Flaum auf den Wangen, Gel im Haar, demonstrative Langeweile - zu cool für diese Welt und erst Recht für eine Russischstunde. Zu Beginn des Unterrichts müssen sie aufstehen, der Lehrerin in die Augen blicken, erst dann dürfen sie sich setzen.
" So, steht mal bitte auf, mit dem Gesicht zu mir, drückt mal aus, dass ihr bereit seit für die Stunde, Katja, du auch, so, jetzt setzt euch bitte. "
Raissa Nikolajeva will an diesem Tag mit einem neuen Thema beginnen: Dem Realismus des 19. Jahrhunderts. Als Hausaufgabe sollten die Schüler die ersten neun Kapitel aus Iwan Gontscharows Roman "Oblomow" lesen - die Geschichte eines Gutsbesitzers, der sich fern von seinem verkommenen Landgut in seiner Stadtwohnung in Petersburg dem Nichtstun hingibt und sein Bett gar nicht mehr verlässt.
In der Gorochowaja lag eines Morgens Ilja Iljitsch Oblomow im Kabinett seiner Wohnung im Bett.
Er war ein mittelgroßer Mann von zweiundreißig, dreiunddreißig Jahren, hatte ein angenehmes Äußeres und dunkelgraue Augen, doch fehlte seinen Gesichtszügen jeglicher bestimmte Ausdruck und jegliche innere Spannung.
Das Herumliegen war für Ilja Iljitsch weder eine Notwendigkeit, wie für einen Kranken oder für einen Menschen, der schlafen möchte, noch eine Zufälligkeit, wie für einen Müden, noch ein Genuß, wie für einen Faulpelz: es war sein normaler Zustand. Wenn er zu Hause war (und er war fast immer zu Hause), lag er stets im Bett und stets in dem gleichen Zimmer, wo wir ihn vorfanden, das ihm gleichzeitig als Schlafgemach, Kabinett und Salon diente.
Raissa Nikolajeva fragt den Inhalt ab und kommt nicht weit. Drei Jungs in den hinteren Reihen haben das Buch überhaupt nicht gelesen, ein vierter hat es nicht mal mitgebracht, ein Mädchen hat das Buch nach dem 4. Kapitel zugeklappt.
Raissa Nikolajeva verteilt schlechte Noten und kündigt an, die Eltern anzurufen. Russische Lehrerinnen fackeln nicht lange. Dabei hat sie eigentlich Verständnis für die Schüler. Allein in der 10. Klasse müssen sie mehrere tausend Seiten Pflichtlektüre bewältigen, darunter diverse Romane wie die "Toten Seelen" von Gogol, "Die Aufzeichnungen eines Jägers" und "Väter und Kinder" von Turgenjew, Dostojewskijs "Schuld und Sühne", "Krieg und Frieden" von Tolstoj, und eben Gontscharovs nicht gerade kurzweiligen Roman "Oblomov".
" Sie sind überlastet. Russisch haben sie nur vier Stunden in der Woche. "
Am Fenster reckt ein Mädchen den Arm in die Höhe. Dascha trägt die Haare halb lang und eine Brille. Sie ist gut vorbereitet.
" Was wir für die Schule lesen müssen, kann man überfliegen und sich den Rest im Notfall zusammenreimen. Wenn ich dagegen etwas für mich lese, freiwillig, dann lasse ich mich richtig darauf ein. "
Raissa Nikolajeva zieht die Augenbraue in die Höhe. Dascha lächelt verlegen.
" Meine Mutter hat mir mal Bulgakov empfohlen. Inzwischen habe ich alles von ihm gelesen. Er ist mein Lieblingsautor.
Mein Vater liest sehr viel Fantasy. Natürlich will er nicht, dass ich das lese. Ich tue das aber trotzdem. Meine Mutter findet das nicht gut, aber sie verbietet es mir auch nicht. Außerdem lese ich ja nebenbei noch etwas anderes."
Fantasy - diese Art von Unterhaltungsliteratur wird in Russland zur Zeit verschlungen. Auch Oleg ist Fantasy-Fan. Er sitzt in der ersten Reihe, hat ein freundliches, waches Gesicht.
" Ich lese zur Zeit ein Buch über die alten Slawen, das ist halb wissenschaftlich, halb Fantasy. Das sind 12 Bände. Es geht um altslawische Stämme, um Götter und um Heiden. "
Neben ihm sitzt Nastja. Große Silberreifen baumeln an ihren Ohren.
" Ich habe vor kurzem das Buch von Oksana Robski gelesen: "Wie angle ich mir einen reichen Mann?" Da geht es um das Leben eines jungen Mädchens im heutigen Russland. Das ist sehr lebendig. "
Die Autorin Oksana Robski ist die Witwe eines Moskauer Oligarchen. Nachdem ihr Mann ermordet wurde, schrieb sie ihre Geschichte auf. Das Buch ist ein Bestseller. Mittlerweile hat Oksana Robski sogar eine Fernseh-Show, in der sie jungen Russinnen erklärt, wie sie an einen reichen Mann kommen. Lera rümpft die Nase. Sie trägt ein schwarzes enges Sacko. Lange rötliche Haare umrahmen ihr blasses Gesicht.
" Ich lese vor allem kluge Sachen (die anderen lachen). Ich mag Bücher über Psychologie, zum Beispiel von Friedrich Nietzsche. Oder jetzt lese ich gerade Siegmund Freuds "Traumdeutungen". "
Raissa Nikolajeva nickt zufrieden. Nur, wer die Literatur kenne, sagt sie, verstehe auch sich selbst.
" Wir müssen die Geschichte kennen, nicht nur die unseres Landes, sondern auch die unserer Seele. In jedem von uns ist ein bisschen etwas von der Vergangenheit enthalten. Nehmen wir das heutige Beispiel: In jedem von uns steckt ein Teil von Oblomov. Wir alle wollen ganz viel tun, tun es aber nicht. Mir geht das auch ständig so. Ich müsste Aufsätze korrigieren, und statt dessen sehe ich fern. "
Kaum war er aufgewacht, nahm er sich vor, unverzüglich aufzustehen, sich zu waschen, Tee zu trinken, gründlich nachzudenken, dies und jenes zu erwägen, sich Notizen zu machen und sich überhaupt mit der Angelegenheit so zu beschäftigen, wie es sich gehört.
Dennoch blieb er noch eine halbe Stunde liegen und quälte sich mit diesem Vorsatz, bis ihm einfiel, dass er alles nach dem Teetrinken machen und den Tee wie gewöhnlich im Bett trinken könnte, zumal ihn ja nichts daran hinderte, auch im Liegen nachzudenken.
So tat er es denn auch.
Rückkehr ins Private.
Ein Küchengespräch mit der Künstlerin Anna Altschuk.
Ein Küchengespräch mit der Künstlerin Anna Altschuk.
Kleinformatige Taschenbücher stapeln sich auf dem Tisch, alle in der gleichen Aufmachung: Grellbunte, überladene Zeichnungen auf schwarzen Buchdeckeln, Pistolen, Plüsch, Dekolletés. Die Werke heißen "Der unschuldige Mörder", "Der fünfte Mord" oder "Ein Hauch von Winter", und sie stammen alle aus der Feder von Daria Donzova, der derzeit meistverkauften Autorin in Russland. Mehr als 70 Krimis hat sie in den vergangenen sechs Jahren geschrieben, ihre Bücher erscheinen mitunter im Wochenrhythmus. Meist geht es um Hausfrauen auf Verbrecherjagd. Der Tisch mit ihren Werken steht direkt neben einem der Eingänge im sogenannten"Bücherklub". Zielstrebig steuert eine Frau die grellen Stapel an. Sie zieht ein Wägelchen hinter sich her.
Welche Bände von Daria Donzowa neu sind und welche am besten, will die Kundin wissen. Dann nimmt sie gleich mehrere Exemplare mit.
Der "Bücherklub" ist einer der größten Buchmärkte in Moskau. Über vier Etagen des ehemaligen Olympia-Stadions verteilt, reihen sich Verkaufstische dicht aneinander. Auf fast allen liegen Bestseller, Krimis, Ratgeber und Nachschlagewerke. Dazwischen schieben Männer Sackkarren mit Nachschub durch die schmalen Gänge.
Etwas abseits steht eine Frau. Anna Altschuk trägt eine Cordmütze und einen Mantel. Ihre runde Brille sitzt ein wenig schief im Gesicht.
" Ich komme selten hier her, aber wenn ich von einer interessanten Neuerscheinung höre, dann versuche ich, sie hier zwischen den Stapeln zu finden. Das ist sehr schwer. Sie sehen ja selbst, wie viel Fantasy-, Abenteuer- und Frauenromane hier herumliegen. Und dann noch sehr viel Fachliteratur, Medizin oder Jura, und Unmengen Kinderbücher. Hochwertige künstlerische Literatur gibt es hier kaum. "
Anna Altschuk ist Dichterin, Fotografin, Performance-Künstlerin und verheiratet mit dem Philosophen Michail Rychlin. 1987, nach Beginn der Perestroika, organisierte sie die ersten öffentlichen Leseabende für bis dahin verbotene Autoren und Philosophen. 2003 zog sie den Zorn der Mächtigen auf sich, als sie sich an der Ausstellung "Vorsicht, Religion!" beteiligte. Religiöse Fanatiker zerstörten die ausgestellten Kunstwerke. In einem Prozess wurden aber nicht die Vandalen, sondern die Ausstellungsmacher verurteilt, wegen angeblicher Gotteslästerung. Anna Altschuk wurde zwar freigesprochen, doch die Sache hat Spuren hinterlassen. Die 50jährige empfindet die Atmosphäre in Moskau als erdrückend - und zieht sich deshalb wieder ins Private zurück.
" Es bleibt einem ja nichts anderes übrig, wenn man seine innere Freiheit bewahren will. Für mich wird es wieder aktuell, mich mit einem kleinen Kreis von Freunden in einem privaten Raum zu treffen. Nur so kann ich angemessen alle Probleme diskutieren, die mich interessieren. "
Der private Raum ist in Russland traditionell die Küche. Die Küche der Künstlerin ist klein, aber gemütlich. Eine Eckbank, ein Tisch mit Wachsdecke, Kunstwerke an den Wänden. Anna Altschuk kocht Kaffee in einem türkischen Kupfertiegel. Dazu stellt sie Schälchen mit Rosinen und Gebäck auf den Tisch. Dann zieht sie einen Schemel unter dem Tisch hervor und setzt sich.
" Es sind eine Menge Tabus entstanden. Für einen Intellektuellen ist das eine völlig unannehmbare Situation. Ein Tabu ist zum Beispiel der Krieg in Tschetschenien. Und uns wurde sehr deutlich vor Augen geführt, dass auch die russische orthodoxe Kirche ein Tabu ist. Ein Tabu ist auch das Handeln unseres Präsidenten. Das sind die Dinge, die die Leute lieber nicht diskutieren. "
Anna Altschuk wählt ihre Worte mit Bedacht. Immer öfter denkt sie in letzter Zeit an die 70er Jahre zurück, als sie mit Freunden in der Küche verbotene Bücher las. Die wurden entwederim Selbstverlag gedruckt oder aus dem Ausland eingeschmuggelt.
" Ich weiß noch, was für ein Ereignis es war, als Alexander Solschenizyns "Erster Kreis der Hölle" oder seine "Krebsstation" auftauchten. Oft lasen wir Kopien von Büchern, die im Westen erschienenen waren, lose Zettel. Die bekamst du meist für zwei Tage, und in dieser kurzen Zeit mußtest du dann einen Riesentext bewältigen. Da hast du in jeder freien Minuten fieberhaft gelesen. Häufig waren Freunde da, und du hast jede Seite, sobald du sie durch hattest, sofort weitergegeben.
Solschenizyns Bücher waren die ersten Texte, die ich über den Gulag, über Terror, über Repressionen gelesen habe. Natürlich war das ein Schock. Ich hatte zwar schon vorher geahnt, dass die sowjetische Ideologie viele schlimme Seiten unserer Wirklichkeit überdeckte. Aber erst Solschenizyn hat gezeigt, was hinter dieser Fassade war."
Anna Altschuk verschwindet im Arbeitszimmer und kommt mit einem schweren gebundenen Buch zurück.
" Vor kurzem ist dieser Sammelband der Samizdat-Literatur erschienen. Darin werden die wichtigsten Werke vorgestellt, die innerhalb der Intelligenzia kursierten. Ich habe sie alle noch einmal angesehen und musste daran denken, wie das damals war. "
Anders als damals, in den 70er, 80er Jahren, hat sie sich nun viel Zeit genommen und die Texte in Ruhe gelesen.
" Ich lese jetzt nur noch das, was mir nahe steht. Solschenizyn zum Beispiel lese ich nicht mehr. Ich halte viele seiner Äußerungen für nationalistisch. In der Sowjetzeit wurden viele Schriftsteller nur deshalb verehrt, weil sie gegen die allgemeine Ideologie waren und deshalb gelitten haben.
In der Anthologie sind übrigens viele gute Gedichte. Ich habe Alexander Galitsch für mich entdeckt. Eigentlich ist er als Sänger bekannt. Er ist einer der wenigen, denen es gelungen ist, ohne Pathos, nicht aufgeblasen, sondern völlig natürlich zu schreiben. "
Anna Altschuk nimmt ihre runde Brille ab, hebt das Buch hoch, kriecht förmlich hinein.
" Ich lese ein Gedicht, das er bereits in der Emigration geschrieben hat. "
Kehr ich wieder heim...
Nein, du, lach nicht, kehr ich wieder heim,
Und lauf geradeaus durch den Februarschnee, kaum die Erde berührend,
Zur Wärme, zum Nachtlager hin auf verblassenden Spuren,
Und zitter vor Glück, holst du mich mit dem Vogelruf ein -
Kehr ich wieder heim.
Oh, kehr ich wieder heim..!
Hör zu, hör mir zu, du, und lach nicht,
Kehr ich wieder heim,
Direkt von der Bahn - ich mach kurzen Prozeß mit dem Zöllner -,
Direkt von der Bahn in die armselig elende Hölle,
Die Stadt meiner Pein, die mich quält und mir flucht, brech ich ein,
Kehr ich wieder heim.
Oh, kehr ich wieder heim..!
Alexander Galitsch wurde 1971 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Seine bitteren und ironischen Lieder paßten nicht in das heile Bild der Sowjetunion. Drei Jahre später emigrierte er in den Westen, zuerst nach Oslo, dann nach München, dann nach Paris.
" Für mich lese ich normalerweise leise. Bei Galitsch höre ich innerlich, wie es klang, wenn er seine Gedichte vorlas. "
Kehr ich wieder heim,
Geh ich hin zu dem einzigen Haus,
Da mißt mit dem Kuppelblau selbst sich der Himmel vergebens,
Und duftender Weihrauch, der trifft, wie der Brotduft des Lebens,
Mich schlagartig mitten ins Herz und verströmt sich daraus -
Kehr ich wieder heim.
Oh, kehr ich wieder heim..!
Kehr ich wieder heim,
Wird im Februar die Nachtigall laut
Die Weise, die alte, die längst schon vergessene, singen,
Und ich falle hin,
Überwältigt vom eigenen Siege,
Und berge im Schoß, wie im Hafen, bei dir dann mein Haupt!
Kehr ich wieder heim.
Aber wann kehre ich heim..?!
Eselsohren und ein Lob auf die Sowjetunion.
Ein Besuch in einer Dorfbibliothek im Ural
Ein Besuch in einer Dorfbibliothek im Ural
Gut tausend Kilometer östlich von Moskau, in den Weiten des Uralgebirges, liegt Romanowo. Ein Dorf wie viele russische Dörfer: Kleine Holzhäuser, windschiefe Gartenzäune, und irgendwo am Rand die kläglichen Reste einstiger landwirtschaftlicher Großbetriebe. Romanowo hat auch eine Kirche nebst öffentlichem Plumpsklo. Daneben steht ein Flachbau aus Stein: Die Bibliothek.
Ekaterina Schilowa und Nadeschda Teremina sitzen hinter einem Tisch. Die beiden sind Schwestern. Ekaterina, die ältere, wacht über die Ausleihe. Nadeschda, die jüngere, ist die Chefin. In der Plastikabdeckung der Neonröhren verwesen die Fliegen des vergangenen Sommers. Der Frühling ist noch weit. Große Pappstücke liegen auf dem Boden. Draußen schneit es, und wer hereinkommt, trägt, neben einem kalten Luftzug, eine Ladung Matsch von der unbefestigten Dorfstrasse herein. Nadeschda Teremina steht auf und geht zu einem Regal neben der Eingangstür.
" Hier vorn liegt die Presse. Besonders Kinder- und Jugendzeitschriften sind sehr gefragt. Tages- und Wochenzeitungen aber auch. Die Preise sind hoch, nicht jeder kann sich ein Abo leisten, deshalb kommen die Leute zum Zeitunglesen in die Bibliothek.
Außerdem haben wir Land- und Gartenzeitschriften, die sind auch sehr begehrt. Immerhin sind wir eine Dorfbibliothek, die Menschen hier haben Gärten und Vieh, und dementsprechend lesen sie solche Zeitschriften. Unsere Bibliothek ist klein, der Bestand auch, wir haben etwas mehr als 7.000 Bücher. "
Etwa 1.300 Menschen leben in Romanowo. 500 sind als Leser in der Bibliothek eingeschrieben - fast die Hälfte. Der Bus in den nächsten größeren Ort fährt etwa eine halbe Stunde, in die Gebietshauptstadt Perm sind es vier Stunden. Die Bücherei ist für die Bewohner von Romanowo nicht nur ein Ort zum Lesen, sondern auch ein Treffpunkt.
Zum Beispiel für die Kindergärtnerin Raissa Archipova. Sie knöpft ihren Mantel auf und setzt sich auf einen Hocker.
" Ich komme meist her, um Zeitung zu lesen. Ich nehme die "Komsomolskaja Pravda", "Argumenty i fakty" und die Gartenzeitschrift. Bücher habe ich zuhause. Ich komme oft nur für ein Schwätzchen. Zwei mal die Woche bestimmt. "
Bibliothekschefin Nadeschda Teremina nickt. Dann zieht sie ihre Häkelweste über dem mächtigen Busen zusammen und geht in den hinteren Raum. Fünf, sechs Regale stehen dort. Verblichene Buchrücken. Geschichtswerke, Kinderbücher, Heimatliteratur. Es riecht nach altem Papier.
" Wir haben noch viele Bücher aus der Sowjetzeit. Das hier zum Beispiel ist von 1981. Neue Bücher haben wir ganz wenige. "
Nadeschda Teremina blättert in einem Kinderbuch. Auf dem Buchdeckel spazieren zwei Erstklässler mit Schulranzen und Blumen in eine glückliche sowjetische Zukunft. Der Junge trägt eine blaue Schuluniform und das rote Halstuch der Pioniere, das Mädchen ein braunes Kleid mit weißer Schürze, wie es in sowjetischen Schulen Pflicht war. In Versform wird die Sowjetmacht bejubelt.
" Vielen Kindern muss man heute erklären, warum die Mädchen und Jungs alle ein Halstuch trugen. Die Kleinen haben ja die Pionierzeit nicht mehr erlebt. Viele kennen auch das Abzeichen der Komsomolzen nicht mehr. Und vielen muss man erklären, wer Großvater Lenin war. Einmal war eine Frau mit ihrem Enkel bei uns und hat gesagt: Komm wir nehmen das Buch über Großvater Lenin. Und der Kleine hat gefragt: Warum sagst du "der Großvater von Leni"? Das ist doch auch mein Großvater! Er hat nicht "Großvater Lenin" verstanden, sondern "der Großvater von Lena", seiner Schwester. Und da mussten wir dem Jungen erst mal erklären, wer das war, Lenin, und dass er alle Kinder gern hatte. Naja, so schwer wie es für die Kinder ist, unsere Geschichte zu verstehen, so schwer ist es für uns, uns an die neue Zeit zu gewöhnen. Denn wir sind im Sozialismus aufgewachsen. Und jetzt ist alles ganz anders. "
Die "neue Zeit" befindet sich im Regal gegenüber: Fantasy, Abenteuerromane, Krimis in grellbunter Aufmachung. Die Bestseller stehen separat, damit die Dorfbewohner sie gleich finden, erklärt Nadjeschda Teremina und greift ein Taschenbuch heraus. Der Deckel fehlt, es strotzt vor Eselsohren, die Seiten sind vergilbt. Es ist ein Krimi von Polina Daschkova, "Die leichten Schritte des Wahnsinns". Auch in Deutschland ist das Buch ein Bestseller.
" Gucken Sie mal, wie abgegriffen und kaputt das Büchlein ist. Dabei ist es noch ganz neu, erst 1999 erschienen. Ja, so verschleißen die Bücher bei uns. Kürzlich mussten wir sogar eins wegwerfen, das war nicht mehr zu retten. Die Leute zerlesen die Bücher, bis sie auseinanderfallen. Oder das hier: "Die letzte Nacht der Titanic". Für das Buch haben sich die Leute schon im voraus auf Wartelisten setzen lassen. Erst recht, nachdem der Film ins Kino kam. Mittlerweile ist schon die vierte Leihkarte voll. Der Umschlag, in dem die Karte steckt, ist auch schon abgerissen. Das Buch werden wir wohl auch bald wegtun müssen. "
Auf Ersatz braucht Nadjeschda Teremina nicht zu hoffen. Sie greift in eine Schublade und holt eine Karteikarte hervor.
" Die letzte Lieferung haben wir am 3. August bekommen. Zwei Bücher. Vermutlich liegt das an den Preisen. Bücher sind teuer geworden. "
Durchschnittlich zwei bis drei Euro kostet ein Buch heute in Russland. Verglichen mit den subventionierten Preisen in der Sowjetunion ist das extrem teuer. Nun mischt sich Ekaterina Schilowa ein, die ältere Schwester. Sie trägt die Haare kurz.
" Wir gelten als vergleichsweise große Bibliothek. Deshalb werden wir wahrscheinlich nicht geschlossen. Aber in unserem Bezirk hat es schon viele Büchereien getroffen. Zum Beispiel in Vogulka. Oder in Belaja Paschnja. Da bezahlen sie nur noch eine fünftel Bibliothekarsstelle. Die Bücher stehen jetzt in einem verschlossenen Raum, immerhin mit einer Heizung. Was weiter wird, weiß ich nicht. "
Ein Mann kommt herein. Nicht zum Lesen, sondern, um seine Telefonrechnung zu bezahlen. Ekaterina Schilowa arbeitet nebenbei für die Telefongesellschaft. In der Bibliothek hat sie nur eine halbe Stelle. Umgerechnet 40 Euro bekommt sie vom Staat, das ist auch im Ural erbärmlich wenig Geld.
Die Kindergärtnerin, Raissa Archipova, blickt von ihrer Zeitung auf.
Drüben, im Kindergarten, hätten die Erzieherinnen die meisten Bücher für die Kleinen von ihrem eigenen Geld gekauft.
Sie würden eine Bücherspende nicht ablehnen, meinen die beiden Schwestern. Ach, was seien sie doch bescheiden, gleich von Geschenken zu reden...
In den letzten Sommertagen
ging ein alter Mann durchs Feld,
hat die Kirsche ausgegraben.
Trug sie weiter wie ein Held.
Blickte fröhlich in die Ferne.
"Einen Kirschbaum pflanz ich gerne.
Soll er wachsen zum Gedenken
und den Menschen Freude schenken.
Soll er groß und größer sprießen
in die Breit und in die Höh,
und die Wanderer genießen
und vergessen all ihr Weh,
wenn sie in dem Schatten liegen
unterm grünen Blättermeer,
und die Zweige tief sich biegen
von dem prallen Früchteheer.
Solln die Wandrer mein gedenken
und wenn nicht - wie ärgerlich,
ich werd jetzt den Baum versenken
alles andere schert mich nicht.
" Ich weiß noch genau, dass ich dafür eine Eins bekommen habe, und darüber habe ich mich so gefreut, dass ich das Gedicht bis heute kann (Kichern). "
Raskolnikov lebt.
Mit Dostojewskij durch St. Petersburg.
Mit Dostojewskij durch St. Petersburg.
Lange Eiszapfen hängen an den Dachrinnen. Langsam schmelzen sie in der Sonne. Die Tropfen fallen fünf Stockwerke tief auf den Asphalt, wo sie auf dem eiskalten Boden sofort wieder gefrieren. Zwei Jungs bewerfen sich mit Schnee.
St. Petersburg. Ein Innenhof in der Bürgerstraße. Sie liegt in der Nähe des Heuplatzes, dem einstigen Kleine-Leute-Viertel von St. Petersburg. Hier spielt Fjodor Dostojevskijs Roman "Schuld und Sühne" oder, wie es in einer neueren Übersetzung heißt, "Verbrechen und Strafe", die Geschichte eines Mordes. Das Haus, vor dem die Jungs raufen, hat für Dostojevskij-Fans eine besondere Bedeutung. Hier, in einer winzigen Kammer direkt unter dem Dach, soll der Mörder, Rodion Raskolnikov, gehaust haben.
Die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt, und aus dem Dunkel fixierten Raskolnikov zwei stechende, argwöhnische Augen.
"Guten Tag, Aljona Iwanowna", begann er möglichst ungezwungen, aber seine Stimme wollte ihm nicht gehorchen, versagte und zitterte. "Ich bringe Ihnen ... das Pfand ... Aber lassen Sie uns lieber hineingehen ... ans Licht ..." Er ließ sie stehen und trat unaufgefordert in das Zimmer. Die Alte eilte ihm nach.
"O Gott! Was wünschen Sie? ... Wer sind Sie? Was wollen Sie?"
"Aber ich bitte Sie, Aljona Iwanowna, Sie kennen mich doch ... Raskolnikow ... Hier, ich bringe das Pfand, von dem ich neulich gesprochen habe ..." Und er hielt ihr das Päckchen entgegen.
"Was soll das sein?" frage sie, indem sie Raskolnikov noch einmal aufmerksam musterte und das Päckchen in der Hand wog.
"Ein Pfand ... ein Zigarettenetui ... Silber ... Sehen Sie doch nach."
"Na, ich weiß nicht, das scheint mir kein Silber zu sein ... Hat der das aber verschnürt!"
Eine junge Frau kommt in den Hof. In den 90er Jahren belagerten Raskolnikov-Fans das Treppenhaus, hinterließen Sprüche an den Wänden. Seit den Attentaten auf russische Wohnhäuser sind die Haustüren in Russland verschlossen und mit Gegensprechanlagen versehen. Auch in der Petersburger Bürgerstraße. Doch die Frau hat einen Schlüssel dabei. Sie wohnt hier. Zu Raskolnikov möchte sie nichts sagen. Das sei ein ganz normales Wohnhaus.
"Aber wie hat der das verschnürt!" rief die Alte ärgerlich und machte eine Bewegung, als wollte sie sich ihm wieder zuwenden.
Kein Augenblick war mehr zu verlieren. Er zog das Beil hervor, holte mit beiden Armen aus und ließ es, seiner selbst kaum mächtig, fast ohne Anstrengung auf ihren Kopf fallen. Er hatte geglaubt, seine Kraft wäre versiegt, aber kaum hatte er das Beil ein Mal fallengelassen, da fühlte er seine Kraft wieder wachsen.
Die Alte war wie immer barhäuptig. Ihr helles, leicht ergrautes, spärliches Haar war, wie gewöhnlich, reichlich eingeölt und zu einem Rattenschwänzchen geflochten, das mit einem zerbrochenen Hornkamm im Nacken hochgesteckt war. Der Schlag traf sie mitten auf den Scheitel, was sich schon durch ihre geringe Größe ergab. Sie schrie auf, aber nur sehr leise, und sackte plötzlich auf dem Boden zusammen.
Da schlug er mit aller Wucht ein zweites und ein drittes Mal zu, jedesmal mit dem Beilrücken und jedesmal auf den Scheitel. Das Blut ergoß sich wie aus einem umgestoßenen Glas, und der Körper sank rückwärts. Er trat einen Schritt zurück und beugte sich, sobald sie auf dem Boden lag, über ihr Gesicht; sie war bereits tot. Die Augen waren hervorgequollen, als wollten sie aus den Höhlen springen, die Stirn und das ganze Gesicht waren zusammengedrückt und von einem Krampf entstellt.
Nach dem Mord an der Pfandleiherin flüchtet Raskolnikov wie von Sinnen in seine Dachkammer. Heute ist das Treppenhaus frisch gestrichen. Auf den Fensterbänken sprießen Blumen aus Margarinetöpfen. Doch im vierten Stock kommt eine alte Inschrift wieder durch: "Du gehst zu Rodja. Ha-ha-ha". Mit Filzstift ist ein Beil auf die Fensterscheibe gemalt.
Die Tür zum Dachboden ist mit einem Vorhängeschloss versehen. Davor vergammeln abgekaute Hühnerknochen und Eierschalen. An den Wänden sind Inschriften zu sehen - der Beweis dafür, dass russische Romanhelden Jahrhunderte überleben. "Häschen, warum hast du eine Gegensprechanlage installiert? Wir kommen auch so zu dir, Rodja!" steht an der Wand. Daneben "Rodja lebt" und "Rodja - du bist der beste!" Rodja ist Raskolnikov.
Niemandem, keiner einzigen Menschenseele begegnete er auf dem Weg zu seiner Kammer. Sobald er sein Zimmer betrat, ließ er sich, wie er war, auf das Sofa fallen. Er schlief nicht, befand sich aber in einer Art Dämmerzustand. Wenn jemand seine Kammer betreten hätte, wäre er sofort aufgesprungen und hätte laut aufgeschrien. Fetzen, Bruchstücke, alle möglichen Gedanken schossen durch seinen Kopf; aber keinen einzigen konnte er festhalten, bei keinem verweilen, so sehr er sich auch anstrengte ...
Die Wohnung Dostojevskijs. Er hat besser gewohnt als sein Romanheld. Im Flur stehen Spazierstock, Regenschirme und ein Hut zum Ausgehen bereit. Es ist geheizt und hell.
Die letzten drei Jahre bis zu seinem Tod hat der Schriftsteller in der Schmiedegasse in St. Petersburg gelebt. 1971, anlässlich seines 150sten Geburtstags, wurde in der Wohnung ein Museum eingerichtet. Der Kaffeetisch ist gedeckt, die Schreibtischlampe brennt, im Kinderzimmer leisten sich eine Puppe und ein Schaukelpferd Gesellschaft.
Im Wohnzimmer steht Valentina Grigorjevna und betrachtet alte Fotos. Valentina Grigorjevna ist Rentnerin. Sie hat ihre schwarze Mütze weit auf den Hinterkopf geschoben und die Hände vor dem Bauch gefaltet.
" Ich habe zu Hause viele Bücher von Dostojevskij und über ihn. Ich war auch schon in Staraja Rusa, das ist ein Kurort, in dem Dostojevskij gelebt hat, und dort gibt es auch ein Dostojevskij-Museum. Es ist interessant, etwas über unsere genialen Dichter zu erfahren. Ich wohne in einem Vorort und ich bin gerade bei meiner Freundin in St. Petersburg zu Besuch. Wir wollten etwas unternehmen, und da sind wir hier her gekommen. "
Valentina Grigorjevna rückt den Riemen ihrer Handtasche zurecht.
" Dostojevskij ist ein echter Kenner der menschlichen Seele, ein Psychologe. Mir fällt es schwer, seine Bücher zu lesen. Weil ich immer so mitleide. Ich weiß noch, wie ich als junges Mädchen "Die Erniedrigten und Beleidigten" gelesen habe. Ich habe fast über jedem Wort geschluchzt. Ich bin so veranlagt. Das Buch hat mich regelrecht erschüttert. Aber die Bücher von Dostojevskij sind allesamt Meisterwerke. "
Im Zimmer von Dostojewskijs Gattin ordnet eine Frau vor dem Spiegel ihre Frisur. Sie heißt Natalja Nóvikova und ist Englischlehrerin.
" Meine Kindheit war Büchern gewidmet. Ich kenne eigentlich die ganze russische Klassik. Dostojevkijs "Idiot" war mein Lieblingsbuch, schon mit zwölf.
Unsere Gesellschaft zerfällt heute in Schichten. Es gibt immer weniger Anhänger der so genannten Intelligenzija. Ich bezweifle, dass die russische Literatur so großen Einfluss auf unsere Nation haben wird wie früher. "
Lesebühnen. Wo alte Dichter junge Leute begeistern.
Ein Besuch im Moskauer Klub "PirO.G.I"
Ein Besuch im Moskauer Klub "PirO.G.I"
Moskau am Abend, wenige hundert Meter vom Roten Platz entfernt in der Nikolskaja-Strasse. Während die Verkäuferinnen in den teuren Boutiquen zum vielleicht letzten Mal an diesem Tag gelangweilt die Glasvitrinen polieren und elegant gekleidete Geschäftsleute in die Restaurants eilen, beginnt im Club "PirO.G.I" das Abendprogramm. In dem Kellergewölbe haben sich überwiegend junge Leute eingefunden. Sie tragen Jeans oder karierte Hosen, dunkle Pullover und lange Mäntel offen. Auf T-Shirts steht in dicken Lettern "Extreme" oder der Name des derzeit wohl bekanntesten Lagerhäftlings Russlands, Michail Chodorkovskij. Lange Locken zieren junge Männerköpfe. Viele haben sich ein Bier von der Bar geholt. Einer hat einen Laptop dabei. Im Eingang lehnt eine Frau mit rotgetönter Hornbrille. Ihren gehäkelten Wollhut behält sie den ganzen Abend auf.
Im Club "PirO.G.I" in der Nikolsjaka-Strasse wird hohe Literatur vorgelesen. An diesem Abend sind gleich zwei Dichter zu Gast: Nikolaj Baitov, ein Kultautor und Moskauer Performance-Künstler, der zu Sowjetzeiten nur im Untergrund veröffentlich konnte, und Grigorij Kruschkov, der sich als Übersetzer einen Namen gemacht hat, aber gelegentlich auch selbst schreibt. Nikolaj Baitov ist der bekanntere der beiden, ein hagerer, schon etwas älterer Mann mit halblangen grauen Haaren und einer großen Brille.
Etwas verkrampft hält Baitov das Mikrofon in der rechten Hand, die Zettel mit den Texten in der linken. Er ist auf seinem Stuhl nach vorn gerutscht. Auf dem Tisch vor ihm erkaltet eine Tasse Tee.
Oben erstarren im flachen Tanz
Kiefern Sterne Kiefern Sterne Kiefern,
unten spazieren Phloxe, Astern,
Rosen Phloxe Astern Rosen Phloxe.
Sie alle sind sich Brüder, Schwestern -
Astern Kiefern Rosen Sterne Phloxe.
Und sind wir vor Gott etwa Monster? -
einfach Schafe, Ziegen, Ziegen, Schafe.
Der Rauch dutzender Zigaretten wabert in dicken Schwaden durch die Lichtkegel der Industrielampen. Der zweite Gast, Grigorij Kruschkov, steht auf. Die eine Hand in der Hosentasche, wiegt er sich sanft im Rhythmus seiner Verse hin und her. Er trägt seine Gedichte auswendig vor.
Etwas abseits steht Jurij Cvetkov und nippt an einem Bier. Der 37jährige hat den Abend organisiert. 25 Lesungen stellt er jeden Monat in Moskau auf die Beine, in verschiedenen Clubs, mal mit Musik, mal ohne, aber immer mit hochkarätigen Autoren. Der Eintritt ist meist frei.
" In Russland ist das Interesse an Poesie zur Zeit groß. Sicher füllen wir keine Stadien wie in den 60er Jahren, aber in Moskau entstehen mehr und mehr Bühnen für Literatur. Und die jungen Dichter bleiben nicht untereinander, sondern hören der älteren Generation zu.
Evgenij Evtuschenko hat geschrieben: "In Russland ist ein Dichter mehr als ein Dichter." Literatur hat bei uns eine größere Bedeutung als in anderen Ländern. Ein Dichter ist Prophet und Messias, er reagiert auf gesellschaftliche Ereignisse, und er ist eine politische Figur. Wir sind verliebt in unsere Dichter. "
In einer der hinteren Reihen sitzt Dmitrij Timofeev. Dünner Flaum überzieht seine blassen Wangen. Der 18jährige studiert Literatur. Konzentriert hört er anderthalb Stunden zu, stützt das Kinn in die Hände. Ab und zu zieht er die Stirn in Falten.
" Baitov ist schwer zu verstehen. Es geht bei ihm um Metaphysik, um Gott, um ein höheres Wesen. Daher stammen die religiösen Bilder bei ihm, zum Beispiel: "Sind wir vor Gott etwa Monster? - einfach Schafe, Ziegen, Ziegen, Schafe." Er ist ein sehr feinsinniger Dichter. Seine Worte prägen sich ein. Dabei verstehst du nie genau, was er sagt, aber du verstehst immer, worum es geht - selbst wenn du nicht mal das in eigenen Worten ausdrücken kannst. "
Dmitrijs Liebe zur Poesie entflammte, als ihm mit 13 Jahren ein Band des Futuristen Velimir Chlebnikov in die Hände fiel.
dort wo die flötenflöter lebten,
wo die bäume bange bebten,
flog, entfloh, verflogen, fern,
ein zug von zarten zeitleibern.
wo die bäume bange brausten,
wo des singeists sänge sausten,
flog, entfloh, verflogen, fern,
ein zug von zarten zeitlaubern.
wo so schreckhaft schatten streiten,
wie im finster ferner zeiten,
schreien sie, zerzerrverquern
im zug von zarten zeitliebern!
die seele bezirzt du wie zaitenklang,
schwinglich stimmst du mit solchem sang!
nun also, klingliche singer vom stern,
voll lob lobt zart die zeitlobern!
Die Gäste und die Veranstalter der Lesung sind inzwischen zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen. Kultautor Baitov greift nach einer Gurke.
" Es gibt einen unglaublichen Austausch von Gedichten im Internet. Durch das Internet ist überhaupt erst ans Licht gekommen, wieviele Leute schreiben. Man hätte ja gedacht, dass die visuelle Kunst die Poesie verdrängt. Fernsehen und Kino sind große Konkurrenten für das klingende poetische Wort. Aber trotzdem erlebt es gerade einen Aufschwung. "
Jurij Cvetkov, der Organisator, nickt. Von einer Krise des Lesens könne keine Rede sein. Vielmehr gehe es um eine Normalisierung des Leseverhaltens.
" Die Sowjetunion war das Land, in dem weltweit am meisten gelesen wurde. Mir scheint, das war eine künstlich geschaffene Situation. Jetzt ist sie wesentlich ehrlicher: Wer lesen will, der liest, ohne Druck von außen. Russland ist ein Land, in dem immer noch gern gelesen wird. Natürlich ist das nicht mehr so offensichtlich wie früher. Denn die Leute, die früher zum Lesen gezwungen wurden, machen jetzt etwas anderes, sie sehen fern, lesen Zeitung oder gehen spazieren. Die Leute aber, die jetzt Bücher kaufen, die lesen sie auch, und zwar freiwillig. Und das ist wichtig. "
Literatur:
Iwan Gontscharow, Oblomow. Aus dem Russischen übersetzt von Josef Hahn. München 1960. Fischer-Verlag
Alexander Galitsch, "Kehr ich wieder heim...". Aus: Alexander Galitsch. Der Strick zum Paradies. Gedichte, Lieder und Balladen. Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben und übersetzt von Tamina Groepper und Dietz Otto Edzard. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1989. ISBN 3-8015-0222-8.
Michail Isakovskij, "In den letzten Sommertagen...". (Titel im Original: "V jasnyj polden' na ischode leta..."). Nachdichtung von Gesine Dornblüth für DLF.
Fjodor Dostojewskij, Verbrechen und Strafe. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier. Fischer. Frankfurt/Main 1996
Nikolaj Baitov, "Oben erstarren im flachen Tanz...". (Titel im Original: "Naverchu zastyli v ploskom tance..."). Übersetzung von Gesine Dornblüth für DLF.
Velimir Chlebnikov, "Dort wo die flötenflöter lebten..." (Titel im Original: "Tam, gde zhili sviristeli..."). Nachdichtung von Gerhard Rühm. Aus: Velimir Chlebnikov. Band 1. Poesie. Herausgegeben von Peter Urban. das neue buch, rowohlt Taschenbuch Verlag 1972, S. 87)