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Doch etwas wenig

Die Stärke der Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Reigen" am Züricher Schauspielhaus liegt in ihrer formalen Strenge. Die Aufführung ist vom Rhythmus ungemein musikalisch und unterhaltsam, es wird viel gelacht. Das Problem ist nur, dass dieses Stück bitter ernst gemeint ist und dass man es verfehlt, wenn man mit staatstheatralisch-boulevardesker Flinkheit darüber hinweghuscht.

Von Christian Gampert |
    Die Inszenierung besticht durch handwerkliche Perfektion, durch großartige Schauspieler, durch ein klares Regie-Konzept. Und doch, und doch: Schnitzlers "Reigen" heute einfach so mal flott wegzuinszenieren, als nettes Amüsement für das in Zürich reichlich vorhandene betuchte Abonnement und gleichzeitig als wohlfeiler Beitrag zum Internationalen Frauentag, dem Tag der Premiere, das ist eigentlich doch etwas wenig.

    Kaum ein Stück hat sich in der Rezeption der letzten 100 Jahre so verändert wie der "Reigen". Während Schnitzler den um 1900 geschriebenen Text nur als Privatdruck kursieren ließ, gab es bei den Erstaufführungen 1920 die schon erwarteten Skandale - wegen Schnitzlers sexueller Unverblümtheit, aber vor allem, weil Schnitzler Jude war und weil er den sexuellen Drang und die damit verbundene verlogene Schöntuerei quer durch alle Schichten, Stände muss man sagen, durchdeklinierte. Plötzlich war die so genannte anständige Frau, die Ehefrau, ebenso ein Flittchen wie das Stubenmädchen. Und Dichter und Ehemann unterschieden sich vom gemeinen Soldaten nur durch die sprachliche Verkleidung des Begehrens. Das war unerhört, damals.

    Heute, in angeblich aufgeklärteren Zeiten - in denen vordergründig die sexuelle Libertinage kein Problem ist, offenkundig sich aber alle auch nach rentengepolsterter Familiensicherheit sehnen - tendiert die moderne Regisseurin natürlich dazu, sich über den erotischen Reigen, die autoritär grundierte Männerriege von damals sublim lustig zu machen und die holden Frauen wahlweise als arme Opfer oder als das stärkere Geschlecht zu zeigen. Barbara Frey tut genau dies, auf wirklich gediegene Weise: Die Bühne ist eine große Kamera, deren Verschlussklappen ziemlich lange aufgehen, um das Liebesgetändel in der Anbahnungsphase zu zeigen. Dann macht es "Peep", was feinsinnig auf die Peep-Show verweist, und die Verschlussklappen gehen für die Dauer eines ziemlich kurzen Geschlechtsakts zu; die anschließende Anti-Klimax der Verabschiedung unterscheidet sich erregungstechnisch allerdings kaum vom ebenfalls eher regel-mechanischen Aufreiß-Stadium.

    Die Inszenierung ist also eine große Fotosession, Short-Cuts von Lüge und Verführung, Guckkasten-Theater, das zehn psychologische Experimente vorführt, in strenger Versuchsanordnung. Nur der Graf fällt am Ende aus dem Rahmen heraus. Aber Robert Hunger-Bühler bringt als zarter, dunkler Dämon die alte Nutte (der kratzigen Barbara Nüsse) nicht um, trotz mehrerer Anläufe. Die Prostituierte liegt nämlich schon da wie eine Leiche, und die Regisseurin Barbara Frey beerdigt im Schlussbild dann gleich die Liebe als solche, mit ziemlich vielen Blumen.

    Die Stärke der Inszenierung liegt in ihrer formalen Strenge: Barbara Frey zeigt Menschen der 1920er Jahre in einem völlig leeren, schalltoten und absolut heutigen, holzgetäfelten Einsamkeitsambiente, genormte Erotik-Zellen, Hotelzimmer für Durchreisende. Es sind Figuren, die einen alten Text nachstellen und dann in ein Spiel kommen, in dem wir unsere aktuellen Tricks und Aufreiß-Finten neu erkennen. Die Aufführung ist vom Rhythmus ungemein musikalisch - und unterhaltsam, es wird viel gelacht. "Ich bin wie von Sinnen!" - Naja. "Sag mir, ob du mich wirklich gern hast!" Die Formeln haben sich nur unwesentlich geändert.

    Das Problem ist nur, dass dieses Stück bitter ernst gemeint ist und dass man es verfehlt, wenn man mit staatstheatralisch-boulevardesker Flinkheit darüber hinweghuscht. Natürlich sind die rosaroten Mechanismen von Betrug und Selbstbetrug lächerlich. Aber der komödiantische Zugriff der Barbara Frey, das Ironisieren der misslingenden Tête-à-Têtes ist nur die Kehrseite jener spießigen moralischen Empörung, die der "Reigen" 1920 auslöste. Beide Strategien vermeiden die Melancholie des Stücks, das, wie Schnitzler es sagte, Heimweh hat nach der Tugend, vielleicht auch nach der Liebe.