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Dörte Hansen: "Mittagsstunde"
Damals hinterm Deich

"Mittagsstunde" - so heißt der zweite Roman von Bestsellerautorin Dörte Hansen. Darin erzählt sie vom erfundenen Dorf Brinkebüll, vom Untergang der bäuerlichen Welt und von Menschen, die sich fragen, wo sie eigentlich hingehören.

Von Jörg Magenau | 05.11.2018
    Die Bestseller-Autorin Dörte Hansen signiert ihren neuen Roman "Mittagsstunde" auf der Buchmesse in Frankfurt am 12. Oktober 2018.
    Dörte Hansen signierte "Mittagsstunde" auf der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt (dpa / picture alliance / Susannah V. Vergau)
    Zu den aussterbenden Lebensgewohnheiten in der Moderne gehört auch der Mittagsschlaf. In einer früheren Welt waren die Stunden zwischen Zwölf und Zwei heilig. Bitte nicht stören! Nach dem Essen legte man sich hin, denn man war ja zeitig aufgestanden – vor allem die Menschen im Dorf, einst, als es dort noch Bauern gab, die in der Frühe ihre Kühe melken mussten.
    Eine verschwundene Welt, in der es noch den Mittagsschlaf gab
    Von so einem Dorf und vom Verschwinden nicht nur der Ruhezeiten erzählt Dörte Hansen in ihrem zweiten Roman "Mittagsstunde". Das fiktive Örtchen Brinkebüll hatte einst alles, was ein Dorf auszeichnete: Kirche, Schule, Laden, Gasthaus, Kastanienallee, Hecken und Wiesen und Wälder. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte ging alles verloren. Das Dorf verwandelte sich in eine bequem mit dem Auto zu erreichende Schlafstätte für Zugezogene. Und zugleich verschwand auch die Mittagszeit mit all ihren Geheimnissen, Herrlichkeiten und Heimlichkeiten.

    "Man musste warten, bis das Dorf wie ein betäubtes Tier zusammensackte. Bis in den Küchen und Stuben nach und nach die Tageszeitungen zu Boden glitten und tief geatmet wurde auf den Eckbänken und Sofas. Die Brinkebüller Kinder lernten früh, dass man das leise Schnarchen hören musste, bevor man auf den Strümpfen durch die Dielen huschen konnte, zum Heuboden hinauf, wo die versteckten Comic-Hefte lagen oder die blinden, jungen Hunde, die man eigentlich nicht haben durfte."
    Hansen ist selbst in einem nordfriesischen Dorf aufgewachsen
    Brinkebüll liegt in Nordfriesland, der Heimat von Dörte Hansen. Vor drei Jahren ist ihr mit ihrem Debütroman "Altes Land" ein sensationeller Bestseller gelungen. Wer "Altes Land" mochte, wird "Mittagsstunde" lieben und zwar weit über Nordfriesland hinaus. Zwar sprechen die Menschen im Roman ausgiebig Plattdeutsch und lieben ihre etwas spröde, windige, feuchte Heimat. Aber zugleich ist Brinkebüll überall, weil alle deutschen Dörfer in Nord und Süd und West und Ost ein ähnliches Schicksal erlitten haben.

    Das Dorf ist der eigentliche Hauptdarsteller in diesem Roman über das Verschwinden und den großen Umbruch auf dem Land. "Mittagsstunde" setzt Mitte der 60er Jahre ein, als die Landvermesser kamen, um die große Flurbereinigung vorzubereiten. Aus kleinen Feldern wurden riesige Ackerflächen, die keinen Platz mehr für Hecken und Hasen übrig ließen. Die Störche blieben weg, und wenig später wurde aus dem holprigen Kopfsteinpflasterweg eine breite, asphaltierte Straße, auf der Kinder überfahren wurden und Jugendliche mit Vaters Auto auf dem Weg von der Disco tödlich verunglückten.
    Die Verrückte mit den Klapperlatschen
    Durch diesen Wandel hindurch klappert mit ihren Klapperlatschen eine leicht verrückte, ganz in ihre Gedanken versunkene, nicht ansprechbare Frau. Marret Feddersen ist die Tochter von Sönke und Ella Feddersen, die die Gastwirtschaft betreiben. Marret sammelt Federn, Steine, Baumrinden und tote Tiere, singt und summt die ganze Zeit vor sich hin und schwadroniert unentwegt vom Weltuntergang. Überall sieht sie dunkle Zeichen, denn ihre Welt geht ja wirklich unter, unaufhaltsam, bis auch für sie, die alle im Dorf nur Marret Ünnergang nennen, kein Platz mehr da ist.

    "Sie war für das Verschwinden wie gemacht, schmal wie ein Hemd, die Füße einer Schülerin. Sie konnte lange hinter Bäumen stehen, in Gräben oder unter Hecken kauern. Verschwand am Mergelschacht im Schilf, schob sich in Paule Bahnsens Gerstenfeld und tauchte in den langen Halmen unter. Streunte über Sandwege und Trampelpfade, lief bis zum Hünengrab und legte sich ins Heidekraut. (…) Sie tauchte meistens in der Mittagsstunde unter, sie machte es wie alle, die in Brinkebüll für eine Zeit verschwinden wollten. Die nicht gesehen werden wollten, wenn sie um Häuser oder Scheunen schlichen, wo sie nichts verloren hatten."

    Marret ist siebzehn Jahre alt, als sie schwanger wird. Wer der Vater ist, will oder kann sie nicht verraten, doch wahrscheinlich handelt es sich um einen der drei Landvermesser. Ingwer, der Sohn, den sie zur Welt bringt, wird von den Großeltern Sönke und Ella aufgezogen. Zum Studium verlässt er das Dorf und wird Archäologe in Kiel, lebt dort in einer Wohngemeinschaft mit einer Frau und einem Mann zusammen, eine Lebensform, die im Dorf allenfalls Kopfschütteln hervorruft. Ingwer ist bald 50, als er beschließt, für ein Jahr nach Brinkebüll zurückzukehren, um den altersschwachen Großvater und die demente Großmutter zu pflegen.
    Der Erzähler ist ein Rückkehrer aus der Stadt
    In stetem Wechsel von Kapitel zu Kapitel erzählt Dörte Hansen aus dieser Gegenwart und aus der Vergangenheit des Dorfes. Nach und nach lernt man sie alle kennen, die verschrobenen Bewohner mit ihren Macken: die Bäckerstochter, die immerzu liest, sogar noch hinterm Verkaufstresen, wenn sie mit einer Hand die Brötchen einpackt und in der anderen das Buch hält. Oder den Dorfschullehrer Steensen, der rustikale Erziehungsmethoden bevorzugt. Oder Heiko Ketelsen, der als Kind nicht der Schlaueste gewesen ist, der aber ein Herz hat und vor allem eine Vorliebe für den Wilden Westen. Das Dorf ist eine große Familie; ein Dorfroman ist von daher so etwas Ähnliches wie ein Familienroman; auch hier kennt jeder jeden von klein auf bis ins hohe Alter und weiß mehr über alle anderen als über sich selbst.
    Das Dorf als große Familie
    Jedes Kapitel von Dörte Hansens "Mittagsstunde" ist mit einem Schlager- oder Songtitel überschrieben. Ihr Held Ingwer liebt vor allem Neil Young. Aufgewachsen aber ist er mit der Musikbox im Gasthof, aus der "Schuld war nur der Bossa Nova", "Wir wollen niemals auseinandergehn" oder "Junge, komm bald wieder" dröhnte.

    "Es gab zu jedem Lebensthema einen deutschen Schlager, und er kannte leider alle. Ingwer Feddersen, die Hitparade auf zwei Beinen, und er hatte diese Lieder nicht unter Kontrolle. Sie spielten sich von selbst ab, schalteten sich ein in seinem Kopf, ob er es wollte oder nicht. Wenn er es erst merkte, war es schon zu spät, sie setzten sich dann fest, für Stunden, manchmal Tage. Ohrwürmer, die man keinem Menschen wünschte."
    Musikbox auf zwei Beinen
    Die Ohrwürmer stehen stellvertretend für alles, was sich in Ingwer über die Jahrzehnte hinweg festgesetzt hat. Sie stehen dafür, wie die Herkunft einen Menschen prägt und ihn nicht mehr loslässt, auch wenn er längst in ganz anderen Zusammenhängen lebt. Auch davon, ja davon vor allem, handelt "Mittagsstunde", eher ein Herkunfts- als ein Heimatroman, wie die Autorin sagt. Und ein Roman über die Frage, wohin der Mensch gehört.

    Von der Modernisierung der Dörfer und der Automobilisierung des Landes hat bisher vor allem Peter Kurzeck aus hessischer Perspektive in den Romanen "Keiner stirbt", "Kein Frühling" und "Vorabend" erzählt. Neben ihm ist Dörte Hansen eine konventionelle, vergleichsweise brave Erzählerin, angesiedelt irgendwo zwischen Dora Heldts Nordsee-Familienidyllen, die aber sehr viel romantischer sind, und Juli Zehs Dorfroman "Unterleuten", der aber politisch ambitionierter ist. Dörte Hansen kann man allenfalls vorwerfen, dass man ihr nichts vorwerfen kann. Gegen jeden Kitschverdacht ist sie ebenso erhaben wie gegen den neuzeitlichen Naturtrend der Großstädter, die das Land verklären, weil sie es nicht kennen.
    Gerade voll im Trend: Heimatliteratur ohne Kitschgeschmack
    Dörfer wie Brinkebüll sind heute längst in der Zeit der Renaturierungen angekommen, wo die begradigten Flüsse und Bäche wiederihre alten Kurven zurückerhalten und auch das Storchennest wieder aufs Kirchdach gesetzt wird. Und doch suchen die Städter auf dem Land gerade das, was es dort nicht mehr gibt.
    "Man kam zurecht mit diesen Menschen aus der Stadt, sie taten einem nichts. Man wusste nur nicht, was sie wollten. All die Berliner und die Hamburger, die plötzlich in die Dörfer zogen, man hatte keine Ahnung, was sie suchten. (…) Sie schienen immer das zu wollen, was besonders alt und klapprig und verfallen war. (…) Sie suchten nach dem Ruhigen und Unverfälschten. (…) es war ein großes Missverständnis. Die Leute aus der Großstadt suchten die Natur und das Ursprüngliche, und in den Dörfern wurde es gerade abgeschafft."
    In dieser Spannung zwischen Untergang und Sehnsucht nach dem Verlorenen ist "Mittagsstunde" angesiedelt. Der Blick geht zurück, aber im Wissen darum, dass es so, wie es war, nicht weitergehen konnte. Die Moderne kam mit aller Gewalt, aber mit den alten Misthaufen und der Mühsal der Feldarbeit konnte man auch nicht einfach so weitermachen. Im alten Dorf war es eng. Nur für die Verrückten, die Wunderlichen und die Sonderlinge gab es Platz genug. Sie sind verschwunden wie Marret Ünnergang. Und deshalb gibt es nun zum Glück diesen unsentimentalen, allenfalls leise melancholischen, nüchtern erzählten Roman, der ihrer aller gedenkt.
    Dörte Hansen: "Mittagsstunde"
    Penguin Verlag, München.
    320 Seiten, 22 Euro.