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Dogmatische Geschichtsdeutung
Über Reformationsthesen tobt ein Historikerstreit

Was haben die Thesen der Reformatoren heutigen Christen noch zu sagen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein hundertseitiger Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland . Prominente Reformationshistoriker üben scharfe Kritik an den kirchlichen Ausführungen.

Von Sandra Stalinski | 19.06.2014
    Präses Nikolaus Schneider bei einer ARD-Feier für 60 Jahre "Wort zum Sonntag"
    Mitte Mai stellte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, die Broschüre "Rechtfertigung und Freiheit" vor. (dpa / picture alliance / Maja Hitij)
    Mitte Mai stellte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, die Broschüre "Rechtfertigung und Freiheit" vor. Für die EKD ein, wenn nicht der zentrale Text zur Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum 2017.
    Doch zwei der anerkanntesten Reformationshistoriker, die Wissenschaftler Thomas Kaufmann und Heinz Schilling, üben scharfe Kritik an dem Text. Sie werfen der EKD ein "dogmatische Geschichtsdeutung" vor. Thomas Kaufmann:
    "Im Kern geht es hier um ein heilsgeschichtliches Konzept von Reformation. Sätze wie 'die Reformation geht weiter', 'sie ist kein abgeschlossenes Ereignis', 'sie ist eine Bewegung, die von Gott' ausgeht usw. sind letztlich heilsgeschichtlich begründete Bekenntnisaussagen, die mit dem historischen Phänomen, das wir Reformation nennen, nichts zu tun haben."
    Ein "dogmatisches Konstrukt"
    Kaufmann und Schilling bemängeln, dass die EKD keine angemessene zeitgeschichtliche Würdigung der Reformation vornehme. Stattdessen beschränke sie sich auf ein "dogmatisches Konstrukt". Das Papier sei ein Bekenntnisakt, in dem der Erinnerung an die Reformation glaubenserweckende Kraft zugeschrieben werde.
    Christoph Markschies, evangelischer Kirchenhistoriker an der Berliner Humboldt-Universität, kann diesen Vorwurf nicht verstehen. Er ist Vorsitzender der Ad-hoc-Kommission der evangelischen Kirche, die den Text verfasst hat. Es sei, so Markschies, nicht Ziel und Aufgabe des Textes, eine historische Deutung des Phänomens Reformation vorzunehmen. Die Schrift nehme nur Anhalt an einer bestimmten historischen Sicht und entwickle davon ausgehend ihre Theologie.
    "Kirche ist frei, sich aus der Geschichte etwas herauszusuchen und zu sagen - das ist es. Das ist schon bei der Person Jesu Christi so. 150 Historiker sagen: irgendein galiläischer Wanderprediger. Eine evangelische Kirche sagt: Ja, das ist aber der Mensch, dem wir nachfolgen wollen. Also dieser Auswahlprozess charakterisiert Theologie, und nichts wäre schlechter, als wenn man so eine merkwürdige Form von Mischung vorlegen würde. Für die Vorlage von historischen Broschüren sind Historiker zuständig und für die Vorlage von theologischen Broschüren sind Kirchen zuständig."
    In der Tat wird auf den 100 Seiten vor allem theologisch argumentiert, nur am Rande geht der Text auf die historischen Ereignisse ein. Schwerpunktmäßig entfaltet die EKD die protestantische Rechtfertigungslehre. Genau das bemängeln Kaufmann und Schilling.
    Rechtfertigungslehre nicht Kern der Reformation
    Auch eine theologische Deutung der Reformation, müsse im Kontext ihrer Entstehungszeit geschehen, meint Kaufmann. Zudem sei die Rechtfertigungslehre nicht Kern der Reformation. Auch, dass der Text die Reformation in erster Linie als religiöses Ereignis darstellt, wertet Kaufmann als "Nonsens". Das sei so, als ob man die friedliche Revolution von 1989 als religiöses Ereignis bezeichnen wolle, nur weil sie von den Montagsdemonstrationen in Leipzig ausging.
    "Die Reformation ist ein vielfältiges, ein polymorphes, ein aus einer Fülle an Faktoren gespeistes Ereignis. Natürlich hat Luther zutiefst religiöse Impulse freigesetzt. Aber schauen Sie sich einen solchen Text wie „Die Schrift an den christlichen Adel deutscher Nation" an - unstrittig die zentrale politische Reformschrift des Reformators und der Reformation überhaupt. Da finden Sie keine explizite Rechtfertigungslehre. Aber das, was zündet, das ist die konkrete Anwendung: keine Wallfahrten, kein Zölibat, kein Ablass. Das sind die Konsequenzen und das hat die Leute elektrisiert."
    Historische Aussagen würden nicht dem aktuellen Forschungsstand entsprächen
    Die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourgh von der Humboldt-Universität Berlin hält es für legitim, dass die evangelische Kirche theologisch fragt, was die Reformation für die heutige Zeit bedeute. Allerdings moniert sie, dass etliche historische Aussagen des Textes nicht dem aktuellen Forschungsstand entsprächen.
    Auch werde zu wenig die internationale Dimension der Reformation hervorgehoben. Zwar werde die Reformation als weltweites Ereignis bezeichnet, weshalb sie in ihrer ganzen Fülle betrachtet werden müsse, diesen Anspruch löse der Text jedoch nicht ein.
    "An einer Stelle heißt es, Calvin hat die Reformation internationalisiert. Das ist absolut historischer Humbug. Als Calvin auftrat, war schon ganz Skandinavien evangelisch, da waren im Baltikum die evangelischen Kirchen gegründet, da waren in Siebenbürgen die lutherischen Gemeinden gegründet. Calvin hat andere Räume dieser Internationalität erschlossen. Also einer der wenigen Sätze, wo mal das Internationale in den Blick kommt, ist auch noch falsch."
    Die Schwerpunktsetzung des Papiers aber in die Nähe der Ideologie zu rücken, wie es Kaufmann und Schilling tun, geht Wendebourgh zu weit. Der Text gebe selbst zu, dass er ein bestimmtes Bild der Geschichte entwerfe, das nicht identisch mit der Summe einzelner geschichtlicher Fakten sei.
    Auch Christoph Markschies weist den Ideologie-Vorwurf vehement zurück:
    "Ich glaube, alle wissenschaftliche Beschäftigung hat Voraussetzungen, die könnte man auch im Wirken der Kollegen Kaufmann und Schilling beschreiben. Das sind nicht nur historiografische Voraussetzungen, sondern das sind theologische Voraussetzungen. Die Schrift der EKD legt diese Voraussetzungen offen, deswegen ist sie dezidiert nicht ideologisch. Wenn wir das Reden von Voraussetzungen Ideologie nennen, begeben wir uns auf einen sehr gefährlichen Pfad."
    Nicht ausgeschlossen, dass in der Auseinandersetzung auch der Streit unterschiedlicher wissenschaftlicher Schulen und kirchenpolitische Positionierungen eine Rolle spielen. In jedem Fall aber wirft die Zusammensetzung der Ad-hoc-Kommission, die den Text verfasst hat, Fragen auf.
    Ad-hoc-Kommission für ein so zentrales Thema
    Denn mit Christoph Markschies sitzt der Kommission ein Experte für die Antike vor. Reformationshistoriker gab es unter den Verfassern nur einen. Dorothea Wendebourgh:
    "Bei einem solchen Jahrhundertthema, 500 Jahre Reformation, hätte man erwartet, dass eine Kommission aus der Crème derer, die für das Thema infrage kommen, zusammengesetzt wird. Also eine handvoll hervorragender Reformationshistoriker - es war ein einziger Reformationshistoriker drin. Und auch in der Dogmatik hätte man Fundamentaltheologen und Dogmatiker des ersten Ranges mehrere gebraucht. Dass auch Kirchenleute dabei sein sollten ist klar, gerade weil es für die Basis gemacht werden muss, aber im Ganzen wundert man sich schon sehr über die Zusammensetzung einer Ad-hoc-Kommission für ein so zentrales Thema."