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Dohnanyi lehnt Kürzung der Ost-Transferzahlungen ab

Jörg Münchenberg: Herr von Dohnanyi, seit Monaten wird die Öffentlichkeit mit pessimistischen Berichten und Analysen über die dramatische Lage in Ostdeutschland förmlich überschwemmt. Auch Sie als Regierungsberater für Ostdeutschland machen da nicht unbedingt eine Ausnahme. Jetzt aber legt die Bundesregierung ihren Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vor, und siehe da: Da heißt es plötzlich, die Schere zwischen West und Ost hat sich nicht weiter geöffnet, im Gegenteil - der zuständige Minister Stolpe will sogar eine positive Trendwende entdeckt haben. Ist das nun regierungsamtlicher Zweckoptimismus, oder wird auf der anderen Seite vielleicht doch zu schwarz gemalt?

Moderation: Jörg Münchenberg |
    Klaus von Dohnanyi: Also wir in dem Gesprächskreis Ost haben ja keine pessimistische Auffassung vertreten, wir haben eine kritische Auffassung vertreten. Wir waren und sind der Meinung, dass die Mittel in den letzten Jahren allzu sehr auf die Infrastruktur und allzu sehr auch auf die Fläche konzentriert waren oder eben verteilt waren. Und wir haben vorgeschlagen, die Mittel stärker zu konzentrieren auf Wachstumskerne, und die Infrastruktur, die in Ostdeutschland heute wirklich schon sehr gut ist, weniger deutlich zu berücksichtigen. Ich denke, der eine Punkt, die Wachstumskerne sind jetzt übernommen von der Bundesregierung, wenn ich das richtig sehe. Dann muss man da nochmal nachhaken, wie diese Wachstumskerne denn wirklich bestimmt werden zwischen Bund und Ländern. Und die andere Frage – Infrastruktur – da hat die Bundesregierung offenbar eine Kurskorrektur noch nicht vorgenommen, wir werden das sehen. Ich selber habe ausdrücklich gesagt im Zusammenhang mit der Vorlage dieses Berichtes, dass wir im Gesprächskreis den Bericht nicht kommentieren wollen, ohne ihn gelesen zu haben. Und ich habe bisher nur Presseberichte gesehen. Allerdings habe ich heute auch gesehen, dass die Sachverständigeninstitute, insbesondere das Institut in Halle, offenbar den Bericht eher für Schönfärberei halten und an eine solche Trendwende, oder mindestens an die Begründung einer solchen Trendwende mit den vorliegenden Daten noch nicht glauben. Also, wir werden das ansehen, sorgfältig lesen, im Gesprächskreis beraten und dann Stellung nehmen. Und das wird sicherlich nicht gleich morgen geschehen.

    Münchenberg: Ist das vielleicht nicht doch eine grundsätzliche Frage, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Denn es kommt auch sehr stark auf die Perspektive an. Wenn man zum Beispiel von der Kennziffer Arbeitslosigkeit ausgeht – die lag im letzten Jahr bei 18,5 Prozent im Durchschnitt in Ostdeutschland – dann kommt man sehr schnell zu dem Schluss: Viele Milliarden, die da geflossen sind, die haben vielleicht doch wenig bewirkt. Wenn man auf der anderen Seite anschaut – 1990/1991 sind ganze Branchen, ganze Industrien weggebrochen – dann steht der Osten doch wieder ganz gut da. Also, ist das nicht auch immer ein wenig eine Frage der Perspektive?

    von Dohnanyi: Sicherlich auch, aber auch wir haben im Bericht darauf hingewiesen, dass sich natürlich seit 1990/91 sehr viel entwickelt hat, insbesondere im Aufbau der Infrastruktur. Allerdings ist die wirtschaftliche Grundlage noch sehr schwach. Der Osten ist weit entfernt von einer selbsttreibenden Wirtschaft. Ein Drittel der heutigen Nachfrage in Ostdeutschland wird etwa durch die Transferzahlungen finanziert. Wenn die also weggenommen würden, würde der Osten vermutlich nahezu zusammenbrechen. Und aus diesem Grunde haben wir ja gesagt: Um eine selbsttreibende Wirtschaft zustande zu bringen, muss man die Mittel stärker konzentrieren und muss das tun, was alle erfolgreichen Länder in ihrer Entwicklung getan haben – ich nenne nur mal den Freistaat Bayern –, nämlich sich auf Wachstumskerne konzentrieren. Die Fläche verkehrsmäßig anbinden, aber der Fläche nicht versprechen, man könnte in jedes Dorf eine Fabrik stellen. Und da – sage ich mal – gehört natürlich ein gewisser politischer Mut dazu, deutlich zu sagen: 'Nein, die Fläche ist nicht unser Wachstumsziel, wir können uns das auch nicht leisten'. Aber im Prinzip geht es nicht um halb leere oder halb volle Gläser, sondern es geht um eine wirklich saubere Analyse der Lage im Osten. Und die ist auch perspektivisch immer noch hoch dramatisch, da habe ich keine Zweifel dran.

    Münchenberg: Dieser Punkt der Wachstumskerne, das ist das zentrale Neue jetzt in dem Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit. Auf der anderen Seite – so neu ist diese Idee ja wirklich nicht. Und dann ist auch die Einsicht, dass es etwa die Niederlausitz wirtschaftlich mit Leipzig nicht aufnehmen kann, diese Einsicht ist auch nicht so neu. Also, reagiert man da im Nachhinein nicht viel zu spät?

    von Dohnanyi: Ja, ganz gewiss. Ich weiß, dass viele von uns diese These einer gezielten Industriepolitik seit langem vertreten. Und was mich eben auch etwas besorgt macht, ist, dass ich im Sommer 1990 ein Buch geschrieben habe mit den Gefahren. Und was mich besorgt macht, ist, dass meine heutigen Schätzungen und die Übereinstimmung der Praktiker mit meinen Schätzungen von Fachleuten wie den Herrn Most von der Deutschen Bank oder dem Herrn Hieckmann als Präsident der Kammer in Magdeburg, dass diese Einschätzung heute offenbar von der Politik wiederum nicht ernst genug genommen wird.

    Münchenberg: Um nochmal auf diese Wachstumskerne zurückzukommen: Ein großes Problem ist dabei auch die Definitionsfrage: also wie wird so ein Wachstumskern überhaupt festgelegt. Und das andere ist natürlich auch Kontrolle: wer kontrolliert eigentlich, wo die Gelder hinfließen. Es war auch im Rückblick ein großes Problem, dass viele Gelder zweckentfremdet wurden, beispielsweise zum Stopfen von Haushaltslöchern und nicht unbedingt für den Aufbau Ost verwendet worden sind. Müssten da also auch nicht Gesetze geändert werden, dass zum Beispiel auch der Bund mehr Mitspracherechte bekommt?

    von Dohnanyi: Das ist eine zentrale Forderung von uns. Es ist nicht mal eine gesetzliche Frage. Man muss wahrscheinlich eine Art Staatsvertrag machen zwischen Bund und Ländern. Es kann nicht sein, dass in einer Region, die bevölkerungsmäßig – wenn man mal Berlin als Großstadt abzieht – etwa die selbe Bevölkerung hat wie der Freistaat Bayern, es kann nicht sein, dass man dort unter den dann fünf neuen Ländern, also ohne Berlin, überall sozusagen bis an die Grenzen hin im Wettbewerb investiert. Es muss dort, so wie bei der Verkehrsplanung, eine übergreifende Planung geben, die nach meiner Meinung und nach Auffassung des Gesprächskreises in einer Absprache zwischen Bund und Ländern geschehen muss. Der Bund gibt letztlich die Mittel. Sie haben völlig recht, ein erheblicher Teil der Solidarpakt I – Mittel wurden zweckentfremdet, also nicht auf Investitionen und Stärkung der kommunalen Finanzen angesetzt, sondern im Laufenden ausgegeben. Und wenn man das sieht, dann heißt das völlig richtig, wie bei uns auch in unserem Vorschlag zur Kurskorrektur: Es müssen Kontrollen eingeführt werden, übrigens auch eine Forderung des Sachverständigenrates seit langem Und wir müssen die Mittel eben in ihrer Zielsetzung und in ihrer regionalen Verteilung mit den Ländern in eine enge Absprache bringen. Und das ist politisch nicht ganz einfach, aber es ist für mich die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Mittel zweckmäßig ausgegeben werden können.

    Münchenberg: Nun wurden einige Vorschläge auch von Ihrem Arbeitskreis, aber auch von anderen Experten – Sie haben Helmut Schmidt vorhin schon zitiert –, die wurden bisher nicht aufgenommen. Also es gibt Vorschläge, zum Beispiel einen halben Mehrwertsteuersatz zeitlich begrenzt in Ostdeutschland einzuführen. Es gibt den Vorschlag, einen Sonderbeauftragten einzusetzen. Könnte man im Umkehrschluss vielleicht dann sagen: Die Regierung gibt dem Osten politisch eigentlich nicht den Stellenwert, den er haben sollte?

    von Dohnanyi: Also, auch dazu haben wir ja in dem Bericht etwas gesagt. Wir haben mit Bedauern festgestellt, dass der Aufbau Ost sozusagen in der politischen Debatte ganz zurückgetreten ist. Und ich will das nochmal in den wirklichen Zusammenhang bringen: Der Westen transferiert gegenwärtig – je nach dem, wie man rechnet – zwischen 80 und 100 Milliarden Euro im Jahr nach Osten in die neuen Länder. Davon gehen etwa zwei Drittel in den sozialen Konsum, also unmittelbar in den sozialen Bereich. Und dieser Transfer von etwa vier Prozent des westdeutschen Sozialproduktes macht sich natürlich im Westen immer mehr bemerkbar - an den Universitäten, in den Schulen, auf den Straßen usw., das ist ja völlig unvermeidlich. Also, man kann nicht davon sprechen, dass die obere Grenze des Maastricht-Kriteriums drei Prozent sei, und dann meinen, dass vier Prozent Transfer keine Bedeutung haben. Und ich will das an einem Beispiel nochmal erläutern. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg hat im Juni folgendes veröffentlicht: Die Arbeitsämter in Ostdeutschland haben in der Zeit zwischen 1992 und 2002 ein Defizit von 168 Milliarden Euro eingefahren, das wundert einen nicht. Aber die westdeutschen Arbeitsämter haben einen Überschuss von 122 Milliarden Euro gehabt. Das heißt, man sieht, welche Belastung durch die gegenwärtige Form der Finanzierung über die Lohnnebenkosten auch auf den Arbeitsplätzen auch im Westen liegt, und damit auch auf der Wettbewerbsfähigkeit. Also, hier bedarf es einer ganz grundsätzlichen strategischen Neuorientierung, einer Kurskorrektur, die bis in die Frage der sogenannten versicherungsfremden Leistung, also der Finanzierung ostdeutscher Bedarfe – die notwendig sind und auch unbestreitbar sind – über die Arbeitsplätze im Westen. Das kann man auf die Dauer nicht machen.

    Münchenberg: Trotzdem nochmal nachgehakt: Was bringen denn solche Arbeitskreise wie jetzt der Ihre, wenn unter dem Strich dann letztlich davon doch wenig in Regierungspolitik umgesetzt wird?

    von Dohnanyi: Ach, man muss nicht so pessimistisch sein. Das ist eine Frage der Zeit. Ich sehe diese Konzentration auf die Wachstumskerne und die Absprache mit den Ländern schon als einen Teil – sage ich mal – eines allgemeinen Drucks. Das geht nicht nur auf den Gesprächskreis zurück, Sie haben mit recht darauf hingewiesen, Institute haben diese Forderungen früher gestellt, der Sachverständigenrat hat diese Forderungen schon früher gestellt. Wir haben das noch einmal aus der praktischen Sicht von Praktikern her bestätigt. Und man kann nicht erwarten, dass alle Dinge, die man selbst für richtig hält, sofort umgesetzt werden. Was man allerdings erwarten kann, und auch das werden wir uns ansehen in dem Bericht, dass es eine ernste Auseinandersetzung mit Vorschlägen gab, die ein von der Bundesregierung selbst berufener Kreis von praktischen Sachverständigen gemacht hat. Wenn das sozusagen keinerlei Erwähnung und keinerlei inhaltliche Umsetzung findet, dann ist das auch sozusagen aus meiner Sicht noch einmal kritisch anzumerken.

    Münchenberg: Sie haben vorhin selber schon die dramatische Finanzlage bei Bund und Ländern, angesprochen. Selbst überfällige Investitionen werden jetzt gestrichen oder in die Zukunft verschoben. Gleichzeitig fließen im Rahmen des Solidarpaktes II, der im nächsten Jahr beginnt, rund 156 Milliarden Euro in den Osten bis 2019 . . .

    von Dohnanyi: . . . zusätzlich zu den sonstigen Transfers . . .

    Münchenberg: . . . genau. Soll die Summe in dieser Höhe erhalten bleiben, ist die gerechtfertigt? Oder soll das Paket vielleicht nicht doch noch mal aufgeschnürt werden, weil man sagt, man könnte vielleicht die Mittel effizienter einsetzen?

    von Dohnanyi: Also, die Mittel müssen bestimmt bestehen bleiben. Sie sind dringend notwendig, wenn man die Lage in Ostdeutschland betrachtet. Aufschnüren des Paketes im Zusammenhang mit der inhaltlichen Verwendung und mit der Kontrolle darüber, das ist etwas, was wir der Bundesregierung geraten haben. Wir haben gesagt: Bei der ersten Hälfte, nämlich bei den etwa 100 Milliarden – 101 Milliarden – des ersten sogenannten Korbes aus dem Solidarpakt II, da gibt es ja nun bestimmte Festlegungen. Aber der zweite Teil von etwa 55 Milliarden oder so ähnlich, dieser Teil, der sollte nach unserer Meinung von seinem Haushaltsvorbehalt – der steht noch unter Haushaltsvorbehalt – nur befreit werden, wenn es zugleich gelingt, eine Vereinbarung zu treffen über Verwendung und Verwendungskontrolle. Und man braucht ja die Autobahnen und die Schienen usw. und die Bahnhöfe nur zu betrachten - also, da ist das Problem nicht mehr. Es gibt noch Lücken, die müssen geschlossen werden, aber aus meiner Sicht müsste die Bundesregierung in dieser Frage eine sofortige Bremse ziehen, alle Planungen auf den Prüfstand tun, auch in den Kommunen und in den Ländern dafür sorgen, dass das geschieht, und dann sehen, wieviel Mittel sie freibekommen kann für die Wirtschaftsförderung. Dass wir gegenwärtig in der Wirtschaftsförderung Mittel kürzen, auch nicht in der Lage sind, genug Mittel aufzubringen, um die Länder instandzusetzen und ihre Anträge für Investitionen von Unternehmen zu erfüllen, und gleichzeitig eventuell fortfahren mit schalldämpfenden Maßnahmen an Autobahnen und Schienen usw., das finde ich, ist nicht in Ordnung. Und darüber sollte auch in der Bundesregierung intensiv diskutiert werden.

    Münchenberg: Nun sagen Sie, der Solidarpakt II soll unangetastet bleiben – von der Summe her. Ein anderer Punkt ist zum Beispiel der Solidaritätszuschlag. Das sind 5,5 Prozent, die all diejenigen bezahlen müssen, die einkommens- und körperschaftssteuerpflichtig sind. Wenn man da jetzt ran ginge, dann könnte man zweierlei Symbole aussenden: Auf der einen Seite entlastet man die Arbeitnehmer, auf der anderen Seite zeigt man auch die Bereitschaft, beim Aufbau Ost die Mittel gezielter einzusetzen. Wäre das eine Idee, mit der man sich anfreunden könnte?


    von Dohnanyi: Also, die Mittel aus dem sogenannten Soli, die ja übrigens 5,5 Prozent auf die Steuern sind und nicht auf das Einkommen, das wird oft verwechselt, sind aus meiner Sicht notwendig für die weitere Finanzierung im Aufbau Ost. Ich komme wieder zurück auf die Frage: Wofür? Und da muss man natürlich dafür sorgen, dass diese Mittel zweckmäßig eingesetzt werden. Unter anderem vielleicht auch zur Erhaltung von Arbeitsplätzen, die sonst nach Polen abwandern, durch Lohnkostenzuschüsse, Lohngutscheine – wie es heißt, Steuerbegünstigungen im Sinne der Negativsteuer. Also so dass jemand, das was er nicht an Steuern zahlt, sogar noch obendrauf bekommt – nach dem amerikanischen Modell, aber wir nennen das Negativsteuer, das war auch eine lange Debatte in Deutschland. Das sollte man prüfen, um Arbeitsplätze zu erhalten. Und darum geht es jetzt, es geht um industrielle Arbeitsplätze. Und nur, wenn man diese hat, folgen auch die industrienahen Dienstleistungen.

    Münchenberg: Nun mahnen Sie eine Debatte über die Zielgenauigkeit der Mittel für Ostdeutschland an. Die wird im Augenblick geführt, das ist unbestreitbar. Auf der anderen Seite hat jetzt Minister Stolpe vor einer neuen Neiddebatte gewarnt. Und er verwies dabei zum Beispiel auf die Berliner Wissenschaftler, die gesagt haben, die Deutsche Einheit war in Wirklichkeit bisher viel teurer – 1,5 Billionen Euro statt bislang angenommen 1,25 Billionen Euro. Sind denn trotzdem nicht gerade auch solche Debatten und auch solche Berichte notwendig, damit auch über die Reform auf einer breiteren Basis diskutiert werden kann?

    von Dohnanyi: Also, wenn man eine schwierige Lage hat und man soll einen Rat geben, muss man die Wahrheit sagen. Ein guter Arzt soll seinem Patienten auf jeden Fall so lange die Wahrheit sagen, wie er ihn nicht für todgeweiht hält. Dann kann er ja vielleicht sagen: Also, das muss ich dem Patienten ja nicht gerade mitteilen. Aber wenn der Patient, wie der Osten in Deutschland, aussichtsreich ist, chancenreich ist, und auch beginnt, sich Strukturen zu schaffen, die in die Zukunft gerichtet sind, dann muss man die Wahrheit sagen. Ebenso muss man dem Westen die Wahrheit sagen. Der Westen muss die Wahrheit hören. Erstens: Die Mittel sind notwendig. Und zweitens: Wir wissen, dass es ein großes Opfer ist, weil es erhebliche Belastungen bringt. Der Osten muss wissen, dass die Mittel knapp sind und daher sinnvoll eingesetzt werden.

    Münchenberg: Nun gibt es ja gerade im Westen wachsende Kritik an der Förderung, beispielsweise aus Nordrhein-Westfalen, das selbst mit großen Strukturproblemen zu kämpfen hat. Schwingt da nicht auch ein bisschen die Gewissheit mit, dass es mit dieser wirtschaftlichen Überlegenheit nicht mehr so weit her ist, sprich: Stehen wir vor neuen Verteilungskämpfen?

    von Dohnanyi: Verteilungskämpfe sind es immer in einem föderal organisierten Land. Wenn Sie in die Schweiz gucken, die haben gerade noch mal über ihren Finanzausgleich debattiert, sehr viel weniger ausgleichend als wir. Die Debatte findet auch in den USA statt in der Frage von Verteilung von Sozialhilfemitteln aus dem Bundesetat an die verschiedenen Staaten. Also, die Debatte wird es immer geben. Dass es keine Neiddebatte werden muss, sieht man dann, wenn den Menschen die Notwendigkeit auch des eigenen Interesses verdeutlicht wird. Also wenn man dem Westen klar macht, wenn der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Steinbrück, der ein aus meiner Sicht so ausgezeichneter Fachmann und mutiger Mann ist - wenn er erkennt, er kommt um diese vier Prozent Transfers so lange nicht herum, so lange der Osten in der Lage ist wie er ist, dann ist es auch für ihn ein eigenes Interesse, sich um die Verteilung und den Einsatz der Mittel zu kümmern. Das ist eine Frage, die im Bundestag von allen Fraktionen und von allen regionalen Gruppierungen der Mitglieder des deutschen Bundestages eingesehen werden muss. Die einen brauchen das Geld, es muss sinnvoll eingesetzt werden. Die anderen geben das Geld, und jeder muss wissen, dass es für die, die es geben, gegenwärtig auch sehr schmerzhafte Konsequenzen hat.

    Münchenberg: Auf der anderen Seite ist jetzt die Enttäuschung im Osten sehr groß, keine Frage. Und es hat auch politische Auswirkungen gehabt, sprich: Mit den Anti-Hartz-Parolen konnten DVU und NPD im Osten zahlreiche Wählerstimmen gewinnen. Auch, weil sich viele als Verlierer im Einigungsprozess sehen. Heißt das im Umkehrschluss, auch die extreme Rechte könnte sich mittel- bis langfristig doch als politische Kraft im Osten etablieren?


    von Dohnanyi: Ich glaube das eigentlich nicht. Es hängt natürlich davon ab, wie entschlossen und wie leistungsfähig sich die heutigen Parteien zeigen. Ich glaube, das ist auch die allgemeine Analyse gewesen: dies waren und sind in erster Linie Proteststimmen und nicht überzeugte Stimmen, dass man mit dem Unsinn, den die NPD zum Beispiel verbreitet, wirklich was verbessern könnte. Eine Demokratie sollte nicht nur wehrhaft sein, wie wir oft sagen, im Sinne der Verteidigung der demokratischen Institutionen und der Grundrechte und so weiter. Eine Demokratie muss auch leistungsfähig sein, um zu zeigen: Die Menschen erwarten, dass die Dinge bewältigt werden. Und hier wird etwas praktiziert an politischer Praxis, das die Menschen auch überzeugen kann, dass etwas geleistet wird. Die Bundesregierung im Augenblick zum Beispiel finde ich auf einem sehr guten Kurs . . .

    Münchenberg: .Aber sehr spät . . .

    von Dohnanyi: Spät, ja, manchmal dauern die Dinge eine Weile. Aber der Bundeskanzler hat jetzt aus meiner Sicht eine sehr klare Position und führt die auch, finde ich, mutig und konsequent durch. Was wichtig ist, unter diesen Bedingungen, ist allerdings, dass das was er sagt, auch gemacht werden kann. Und das hängt wiederum von den Institutionen ab. Die Weimarer Republik ist, entgegen vielem, was gesagt wird, nicht über mangelnde Demokraten in Deutschland gestützt. Sondern über eine Verfassung, die dafür gesorgt oder Platz gegeben hat, dass Regierungen ständig gestürzt wurden und dass, als die Regierung dann wirklich in Schwierigkeiten kam, am Ende nur der Reichspräsident und nur die Notverordnung übrig blieb. Eine schlechte Verfassung hat Deutschland damals ruiniert, davon bin ich fest überzeugt. Und deswegen muss man heute sehen: so wie der Föderalismus heute bei uns organisiert ist, ist das Land nicht leistungsfähig, wird das Land ständig in Kompromisse gezwungen, die keine klare Verantwortung zeigen. Und für mich ist die Reform des Föderalismus die Mutter aller Reformen. Hier muss etwas geschehen, dass die Demokratie auch leistungsfähig ist. Das gehört sozusagen mit zur Verteidigung der Demokratie.

    Münchenberg: Nun gibt es derzeit eine Kommission, die sich genau damit beschäftigt: wie kann der Föderalismus neu ausgerichtet werden, wie kann er transparenter, auch effizienter werden? Wird das der große Befreiungsschlag werden? Im Spätherbst sollen die Ergebnisse vorliegen. Oder wird das nicht am Ende doch wieder nur dieser Minimalkonsens auf der kleinstmöglichen Kompromissebene sein, weil Bundestag und Bundesrat dem zustimmen müssen?

    von Dohnanyi: Also ich habe ja seit langem für diese Föderalismusreform gekämpft. Ich hoffe, dass die Kräfte im deutschen Bundestag und im Bundesrat sehen, wie notwendig das ist. Ich will allerdings eine Bemerkung machen: Ein Problem kommt von den ostdeutschen Ländern. Die befürchten, dass, wenn ihnen Zuständigkeiten zugewiesen werden, sie dann dafür das notwendige Geld nicht haben werden. Und ich rate meinen ostdeutschen – ich sage mal Kollegen, also als früherer Ministerpräsident oder Erster Bürgermeister in Hamburg – die Chance der Freiheit größer zu bewerten im Föderalismus als den unmittelbaren Finanzausgleich.

    Münchenberg: Wie sollten denn die Lösungsvorschläge aussehen, jetzt von dieser Kommission speziell für den Osten? Man könnte beispielsweise größere Strukturen für die Länder vorschlagen. Das ist ja auch eine Überlegung.

    von Dohnanyi: Ja, also davon halte ich, ehrlich gesagt, nicht besonders viel. Der Staat Vermont hat, glaube ich, in den USA 800.000 Einwohner und der Staat Kalifornien, glaube ich, 38 oder 32 Millionen inzwischen. Beide haben zwei Senatoren und funktionieren auch sehr gut nebeneinander. Ich halte das nicht für das zentrale Problem. Das zentrale Problem ist, dass man Vermont natürlich nicht in allem ausgleicht, bis es auf 95 Prozent pro Einwohner so wohlhabend ist wie Kalifornien. Sondern dass man da eine Art von Vertrauen in den langfristigen Ausgleich hat - aus der Leistungsfähigkeit auch der kleineren Regionen heraus. Und deswegen bin ich der Meinung, dass das Wichtigste ist, dass man mehr Klarheit in den Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern hat. Dass nicht mehr der Vermittlungsausschuss die wahre Bundesregierung stellt und dass man, nachdem man sich so entflochten hat in den Zuständigkeiten, dann auch gewisse finanzielle Freiheiten gibt. Da gibt es ja den Vorschlag, dass – wie in den USA – die Länder Zuschläge und Abschläge von der Steuer machen können. Da befürchten die ostdeutschen Länder, ja dann senkt Bayern die Steuern und zieht damit noch mehr Unternehmen an. Das halte ich nicht notwendigerweise für die Konsequenz. Die Konsequenz sollte eher sein: Lasst uns hier drüben gemeinsam beweglicher werden, auch was die Arbeitszeiten angeht, auch was die Lohnspreizung angeht, und damit sozusagen Dampf machen gegenüber den etablierten Konkurrenten im Westen.

    Münchenberg: Herr von Dohnanyi, Sie haben selbst mal vor der historischen Gleichheitssucht der Deutschen gewarnt. Und mit dem gleichen Problem hatte wohl jüngst auch der Bundespräsident zu kämpfen als er gesagt hat, wir können nicht überall in Deutschland die gleichen Lebensverhältnisse erreichen. Ist es tatsächlich das? Fehlt es an Vertrauen, fehlt es an Mut auch seitens der Politik, dass man auch einmal klar ausspricht: Wir können die Gleichmacherei nicht schaffen, auch sozialpolitisch nicht?

    von Dohnanyi: Der Herr Bundespräsident hat ja nicht gesagt, dass wir den Osten lassen sollen, wie er ist. Kein Wort davon. Er hat gesagt, wir werden uns immer mit Unterschieden abfinden müssen – mit Unterschieden. Und das tun wir im Westen ganz klar und werden wir auch innerhalb des Ostens zwischen Mecklenburg-Vorpommern oder Vorpommern, insbesondere Sachsen tun müssen. Aber die Unterschiede, die heute bestehen und die so flächendeckend sind – man braucht das ja bloß mal auf einer eingefärbten Landkarte von Deutschland zu sehen, Arbeitslosigkeit, Industriebesatz und so weiter, Steueraufkommen – um zu sehen, dass die Farbe immer eindeutig an der alten DDR-Grenze sozusagen entscheidend variiert. Und da müssen wir also was tun, um das stärker auszugleichen. Aber im Ganzen wird Freiheit auch Ungleichheiten produzieren. Und wer Freiheit wirklich will, der muss auch mit den Folgen der Freiheit fertig werden. Und deswegen werden Länder unterschiedlich gut geführt werden, und dann haben die Bürger ja die Chance, Regierungen zu wählen, von denen sie meinen, dass sie es besser können.