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Doktor Sex

Der Frühling in Bloomington ist überwältigend. Die kleine Universitätsstadt im amerikanischen Mittelwesten macht ihrem Namen alle Ehre, wenn Ende März, Anfang April die Blumen blühen und die Bäume auf dem weitläufigen Campus sich mit frischem Laub begrünen. Zwischen den majestätischen Institutsgebäuden rauscht der Jordan durch die Wiesen, von spektakulären Gewitterschauern gespeist, die hier in der Ebene von Indiana eine in Europa ungekannte Heftigkeit erreichen.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Zu dieser Zeit, wenn überall in der Natur die Säfte steigen und die Triebe erwachen, fragt mancher sich, was eigentlich in Morrison Hall geschieht, einem eher unscheinbaren länglichen Gebäude, das allerdings von einem gewissen Skandalgeruch umgeben ist. Das "Kinsey Institute for Research in Sex, Gender, and Reproduction" ist immer noch und immer wieder Gegenstand politischer Querelen und sensationslüsterner Schlagzeilen – knapp fünfzig Jahre nach dem Tod von Alfred Kinsey sogar wieder in verstärktem Maße.

    "Eines unserer wichtigsten Forschungsprojekte beinhaltet ein neues Modell der sexuellen Erregung beim Menschen. Wir nennen es das Modell der dualen Steuerung. Wir glauben, daß Erregung durch die Spannung zwischen stimulierenden und hemmenden Einflüssen entsteht. Dieser Antagonismus gestaltet sich bei jedem Menschen verschieden; wer zum Beispiel eher den hemmenden Faktoren unterliegt, der bekommt leichter Probleme mit der Triebbefriedigung, während Leute, bei denen die Hemmungen sehr schwach sind, eher zu medizinisch risikoreichen Aktivitäten neigen. "

    Erik Janssen ist einer von vier festangestellten Mitarbeitern, die sich das Institut noch leisten kann. Er kommt aus den Niederlanden und erforscht seit Jahren das Sexleben der Menschen im Zeitalter von Aids, Viagra und Internet.

    Das Modell der dualen Steuerung paßt übrigens besonders gut auf die Amerikaner und auf die Beziehungen des Instituts zur amerikanischen Öffentlichkeit. Sind die Amerikaner insgesamt eher verklemmt, während die Kinsey-Leute ihrer Libido freien Lauf lassen?

    Letzteres vermuten jedenfalls die lautstarken Gegner des Instituts, die Kinsey selbst als Kinderschänder denunzieren, die der Sexualforschung jedes wissenschaftliche Interesse absprechen und von Sexualkunde in den Schulen auch nichts wissen wollen. Sie behaupten, es handele sich bei der Institutsbibliothek in Wahrheit um eine gigantische Pornosammlung. Ganz unrecht haben sie nicht.

    80.000 Bücher, Zeitungen und Schriften, 7000 Werke der Bildenden Kunst, darunter Originale von Rembrandt, Picasso, Matisse und Chagall – das alles findet sich in den Magazinen. Nicht zu vergessen die 75.000 Fotografien, zum Teil von Kinsey selber angefertigt, und vor allem seine Datensammlung, die auf den 18 216 Interviews basiert, die er und seine Mitarbeiter führten. Da kommen Studenten, Besucher und sogar Volksvertreter jedoch nicht heran, auch für neugierige Journalisten bleibt dieser Teil des Archivs verschlossen, da Kinsey seinen Interviewpartnern absolute Verschwiegenheit versprochen hatte. Um so aufregender sind die Gerüchte, die sich um die Geheimakten des Hauses ranken: Gehörten vielleicht William Faulkner und Tennessee Williams zu denen, die sich von Kinsey über ihre geschlechtlichen Vorlieben und Gewohnheiten im Detail ausfragen ließen?

    Und dann sind da noch sechseinhalb Tausend Filmrollen, von denen einige Kinseys Frau Clara beim Masturbieren und beim Sex mit anderen Männern zeigen, während ihr Gemahl die Kamera führte – aus wissenschaftlichem Interesse, versteht sich. Doktor Kinsey, man weiß es mittlerweile, hat nicht nur doziert, sondern auch mit sich und seinen Mitarbeitern experimentiert. Doch diese Streifen hat sich – angeblich – nicht einmal der frühere Institutsleiter John Bancroft jemals angeschaut.