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Doku über Europa und seine Vorurteile
"Es geht nicht um richtig oder falsch"

Der Filmemacher Philipp Fleischmann hat eine Dokumentation über Vorurteile gedreht, die Europäer voneinander haben. Es gehe aber nicht darum, diese als richtig oder falsch herauszustellen. Vielmehr wolle man die Menschen zum Nachdenken bewegen, sagte Fleischmann im Corso-Gespräch.

Filmemacher Philipp Fleischmann im Corsogespräch mit Achim Hahn |
    Die Flaggen der Mitgliedsstaaten der EU sind zusammen mit der EU-Flagge auf einem Tisch im Europäischen Informationszentrum aufgestellt, fotografiert am 08.02.2017 in Erfurt (Thüringen). Foto: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB | Verwendung weltweit
    Die Mitgliedsländer der EU - vereint im Vorurteil (dpa/Jens Kalaene)
    Achim Hahn: Wohnen wirklich alle Italiener noch bei Mama und essen den ganzen Tag Pasta? Sitzt halb Holland tatsächlich bekifft im Wohnwagen? Und schlafen die Spanier echt den halben Tag, also, nach dem Stierkampf? Europa ist voller Vorurteile. Aber ist manchmal etwas Wahres dran?, fragte sich der Filmemacher Philipp Fleischmann. Zusammen mit Lilly Engel hat er vor gut fünf Jahren unter anderem die Doku "99 Gründe, warum die Welt nicht untergehen darf" gemacht. Und ganz aktuell – zum 25-jährigen Bestehen von ARTE – die zehnteilige Serie "Stereotyp". Da geht es darum, in die weite wilde Welt der Vorurteile einzutauchen, die Europäer voneinander haben. Inwiefern, Herr Fleischmann, haben Sie denn Europa da neu entdecken können?
    Philipp Fleischmann: Doch sehr viel. Also, wir haben in vielen Ländern, haben wir doch dann Sachen kennengelernt, die wir so auf jeden Fall noch nicht wussten.
    Hahn: Zum Beispiel?
    Fleischmann: Zum Beispiel Sachen, von denen man vielleicht schonmal gehört hatte so, aber die wir dann noch viel genauer einfach kennenlernen durften. Also zum Beispiel, dass alle – oder viele – Italiener noch bei ihrer Mutter so lange wohnen: Also da gibt es ein ganz klares Nord-Süd-Gefälle, was sozusagen handfeste materielle Hintergründe hat, weil viele Leute sich einfach gar nicht leisten können, zuhause auszuziehen.
    Ein Schweizer sorgt für Neutralität
    Hahn: Die einzelnen Folgen sind nur 26 Minuten lang, schnell geschnitten, eine rasante Folge von Interview und Reportage-Elementen. Wie sind Sie das Projekt eigentlich angegangen?
    Fleischmann: Ja, also die Machart ergibt sich dann wahnsinnig viel im Schnitt auch. Also wir haben im Schnitt eigentlich noch mal komplett alles neu erfunden. Erklärtes Ziel war es, dass es erst mal unterhaltsam sein soll – und dass man vielleicht in der Unterhaltung auch noch ein bisschen was lernt.
    Hahn: Sozusagen als neutraler Anchorman fungiert der schweizer Rapper Knackeboul. Warum haben Sie sich für den entschieden?
    Fleischmann: Also, erst mal war die Idee reizvoll, einen Schweizer zu haben – weil es wäre schwierig gewesen, wenn es ein deutscher Moderator oder ein französischer Moderator … Also man hätte immer so ein Gefühl von Voreingenommenheit, glaube ich. Und dazu ist Knackeboul noch ein wahnsinnig guter Musiker erst mal, dann einfach auch ein sehr intelligenter und lustiger Mensch - und das war für uns perfekt.
    "Deutsche und Franzosen kriegen ihr Fett weg"
    Hahn: Jetzt ist es eine Europareise durch unsere Vorurteile von einander geworden – wann haben Sie gesagt, dieses oder jenes Stereotyp lohnt sich jetzt, filmisch zu hinterfragen?
    Fleischmann: Es gibt natürlich Länder, die sind reizvoller als andere. Also, ich weiß nicht, Stereotyp: Liechtenstein? Das gibt jetzt wahrscheinlich nicht ganz so viel her, wie zum Beispiel Stereotyp: Niederlande. Wir haben es aber auch versucht, ein bisschen gut aufzuteilen. Also, wir haben jetzt auch ein nordisches Land dabei, wir haben auch Schweden mit dabei und: Es war immer, von Anfang an, klar, dass Deutschland und Frankreich auch dabei sein müssen, damit sozusagen die Deutschen und die Franzosen auch ihr Fett abkriegen.
    Schwer Verdauliches
    Hahn: Sie haben da ja auch immer Sequenzen, wo die schlimmsten Stereotype erfragt werden. Was hat Sie am meisten überrascht?
    Fleischmann: Schockierend war unsere Griechenland-Folge. Also, was Deutsche und Franzosen, die wir auf der Straße gefragt haben, über die Griechen loslassen, das ist so sehr von so einer herrschenden "Tabloid-PR" geprägt. Also da ist uns wirklich der "faule Grieche", der an der Wirtschaftskrise und an seiner Armut selber schuld ist, überall entgegengebrüllt oder –gelacht worden sogar. Und das war erschreckend. Und wir haben wirklich völlig andere Griechen kennengelernt.
    Hahn: Heute, in der ersten Folge, geht es ja gleich nach England. Was ist dran, an den dauerbesoffenen, rothaarigen Gentlemen mit ihrem ungenießbaren Essen?
    Fleischmann: Rein statistisch gibt es wirklich mehr Rothaarige in England, als zum Beispiel in Deutschland. Das Essen ist eine wahnsinnig regionale Angelegenheit – aber an den Stereotypen ist schon oft auch was dran. Wenn man jetzt auf dem Land, in England, in irgendeine Gaststätte reingeht, kann es schon sein, dass das Essen für den – wahrscheinlich gerade für den französischen – Magen etwas schwerer verdaulich ist.
    "Wir lassen Politik raus"
    Hahn: Über solche Probleme, die das heutige England mit der EU, beziehungsweise dem Kontinent, hat – oder gar mit dem Brexit – da haben Sie aber nicht geredet?
    Fleischmann: Also, das war von Anfang an klare Ansage auch, dass wir eigentlich Politik, so weit es geht, raus lassen und der Brexit hat ja mit Vorurteilen grundsätzlich auch überhaupt nichts zu tun.
    Hahn: Ich habe nach einigen Folgen, die ich bereits sehen konnte, das Gefühl: Sie haben die Klischees zwar wunderbar bebildert, also unterstrichen, aber dabei bleibt es dann auch oft. Es wird angerissen, bestätigt, möglichst skurril und humorvoll belegt, aber nicht widerlegt. Oder täusche ich mich da?
    Fleischmann: Also, was wir ganz dringend machen wollten, war einfach keine … Es ist keine Statistik-Sendung. Es geht nicht um richtig oder falsch. Weil, ganz ehrlich: Wer soll anhand von welchen Daten ernsthaft sagen können, was richtig ist und was falsch an den Vorurteilen? Wir schauen in dieses Thema rein, versuchen den Menschen zum Nachdenken zu bewegen und die ultimative Conclusio, wie bekloppt diese Vorurteile sind, die kann sich, glaube ich, jeder mündige Zuschauer ganz gut selber machen.
    ARTE - Fernsehen in der schönen Nische
    Hahn: Jetzt läuft Ihre Sendereihe ja im Rahmen von "25 Jahre ARTE", denn morgen hat der europäische Kulturkanal Geburtstag. Als ARTE auf Sendung ging, waren Sie ja gerade mal so 18 Jahre. Haben Sie damals das überhaupt wahrgenommen?
    Fleischmann: Ja. Das war für mich schon eine Nachricht. Das sage ich jetzt auch nicht, weil das da läuft, aber ich war auch eigentlich immer schon ein ziemlicher großer Freund von ARTE.
    Hahn: Wenn Sie heute an ARTE denken: Ist das für Sie mehr ein kulturelles Nischenprogramm?
    Fleischmann: Nö. Oder, vielleicht in einem positiven Sinne: Also eine Nische bedeutet ja auch nicht unbedingt was Negatives. Deswegen – wenn es eine schöne Nische ist, wunderbar!
    Hahn: Aber das sagen Sie jetzt nicht nur, weil Sie auch dort Ihre Brötchen verdienen.
    Fleischmann: Ich verdiene ja nicht nur da meine Brötchen – deswegen bin ich da nicht weisungsgebunden.
    "Es ist nie einfach"
    Hahn: Gab es denn eigentlich Probleme? Denn man hört ja eigentlich aus der Ecke der Dokumentarfilmer in der aktuellen Zeit, dass da sehr große Klagen sind, dass es schwierig ist, Dokumentarfilme bei ARTE unterzubringen?
    Fleischmann: Es ist nie einfach, bei jedem Fernsehsender dieser Welt, Filme unterzubringen. Und, ich kann Ihnen sagen, erst recht keine Reihe! Das war natürlich nicht einfach. Ich glaube allerdings, dass es – das muss ich mal ganz bescheiden sagen – dass es einfach auch eine ganz gute Idee war, sozusagen zu sagen: Wir wollen jetzt endlich mal sehen, wo kommen eigentlich diese ganzen Vorurteile her? Und was hat es damit auf sich? Dass sich das dann irgendwie, ja wahrscheinlich, offensichtlich am Ende durchgesetzt hat.
    Hahn: Ist es ansonsten generell schwerer geworden bei ARTE für Dokumentarfilmer?
    Fleischmann: Da bin ich, glaube ich, nicht die richtige Person, um da etwas Generelles darüber zu sagen. Das kann ich nicht einschätzen. Also, ich beklage mich auch einfach nicht so gerne. Vielleicht bin ich dann deswegen nicht der Richtige.
    Exklusivität als Alleinstellungsmerkmal
    Hahn: Was ist denn für Sie überhaupt das herausragende Merkmal von ARTE?
    Fleischmann: Ich glaube, das herausragende Merkmal von ARTE ist, dass es ein kulturelles Programm ist, wo ich auch sehr oft Sachen sehe, die ich einfach so noch nicht wusste. Es sind Sachen, wo ich nicht jedes Mal, wenn ich das sehe, denke: "Ach, weißt Du was? Das habe ich ja schon hundertmal irgendwo anders gesehen."
    Hahn: Das heißt, es ist schon ein gewisser Exklusivitäts-Aspekt?
    Fleischmann: Genau, das ist für mich das Alleinstellungsmerkmal. Ich zappe da oft rein und sehe irgendwas wo ich dachte: "Das wusste ich noch nicht." Und das passiert mir eigentlich in den Medien nicht so oft.
    Hahn: Vielen Dank, Philipp Fleischmann, für dieses Gespräch. Ihre zehnteilige Sendereihe "Stereotyp" startet am 29.05.2017 um 16:15 Uhr auf ARTE – da sollte man mal reinzappen.
    Fleischmann: Danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.