Anlässlich des 75. Geburtstages von Siegfried Kracauer am 7. Februar 1964 entwirft Theodor W. Adorno im Hessischen Rundfunk eine einstündige Skizze zu Person und Werk seines langjährigen Freundes. Den meisten Hörern dürfte der Name Kracauer zu diesem Zeitpunkt nahezu unbekannt sein. Gerade erst hat der Suhrkamp Verlag damit begonnen, dessen Werke aus der Weimarer Zeit zu veröffentlichen. Kracauer selbst lebt noch immer fernab in New York, wohin er 1941 vor den Nationalsozialisten geflüchtet war.
"Wir sind seit meiner Jugend miteinander befreundet. Über viele Jahre hindurch las er mit mir regelmäßig Samstagnachmittags die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich dieser Lektüre mehr verdanke, als meinen akademischen Lehrern."
Adorno hatte Siegfried Kracauer Anfang der 20er-Jahre kennengelernt. Auf dem Papier ist es eine ungleiche Freundschaft - Kracauer ist fast 15 Jahre älter. Tatsächlich aber entwickelt sich die Beziehung zwischen dem jungen Studenten und dem Redakteur der "Frankfurter Zeitung" für Philosophie, Literatur und Film schnell zu weit mehr als zu einer intellektuellen Komplizenschaft. Am 5. April 1923, dem ersten im Band überlieferten Brief, der mit den Worten: Bitte allein lesen! versehen ist, schreibt Kracauer aus Frankfurt an Adorno:
"Mein lieber Teddie, mein lieber Freund! Heute Mittag kam ich an, ganz zerrissen, verhüllt. Nun will ich gleich schreiben. Ich fühlte in diesen beiden Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu Dir, dass es mir jetzt so vorkommt, als könne ich allein gar nicht bestehen. Das Dasein ist mir schal, so abgetrennt von Dir ... Mein Zustand ist entsetzlich."
Kracauer entwickelt sich in den 20er-Jahren zu einem der schillernsten Publizisten der Weimarer Republik. Sein Roman "Ginster" von 1928, der die Zeit des Ersten Weltkrieges thematisiert, wird als bahnbrechend gefeiert, ebenso seine Studie über "Die Angestellten" zwei Jahre später. Vor allem aber macht sich Kracauer einen Namen durch seine Essays in der "Frankfurter Zeitung". In ihnen setzt er sich als einer der Ersten mit der modernen Massenkultur und ihren vielseitigen Phänomenen auseinander. Programmatisch hierfür die einleitenden Worte aus dem Aufsatz "Das Ornament der Masse":
"Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen, als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig."
Über die eigene publizistische Tätigkeit hinaus nutzt Kracauer seinen Einfluss, Texte anderer Autoren zu platzieren - unter ihnen Ernst Bloch und Walter Benjamin. Auch Adorno selbst bitte Kracauer immer wieder, für ihn hier und dort zu intervenieren. 1930 geht Kracauer von Frankfurt am Main nach Berlin, um dort das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" zu leiten.
Die politischen Winde aber werden rauer und - wie wir heute wissen - bedeuten den Anfang von Kracauers tiefem Fall. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie wenig sich die politische Situation Deutschlands in dem Briefwechsel zwischen Kracauer und Adorno widerspiegelt und - wenn doch - wie arglos sich das Geschriebene heute liest. Am 12. Januar 1933 - wenige Tage vor Hitlers Machtübernahme - zeigt sich Adorno überzeugt, die politische Konjunktur werde sich wenden. Am 15. April, nach Reichtagsbrand und der Flucht Kracauers ins Pariser Exil, heißt es in einem Brief:
"Im Übrigen ist mein Instinkt für Dich der: nach Deutschland zurück zu kommen. Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung, ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren."
Für Kracauer tritt ein, was er seit Langem befürchtet hat: Die "Frankfurter Zeitung" kündigt dem jüdischen Linksintellektuellen die Mitarbeit. Kracauer verliert Leserschaft und Existenzgrundlage. Je länger die Emigration andauert, desto verzweifelter seine Situation. "Eine Existenz, die diesen Namen nicht verdient", schreibt er an Adorno. Auch der Gedanke an Selbstmord taucht auf.
"Ich meinerseits würde jeden Strohhalm greifen. Doch es hält mir keiner einen hin."
Die Intensität dieses biografischen Abschnitts spiegelt sich auch im vorliegenden Briefwechsel wider, der sich gerade über die 30er-Jahre spannend liest wie ein Thriller. Adorno allerdings, inzwischen selbst nach England übergesiedelt, dem emigrierten Institut für Sozialforschung zugehörig und keinerlei materielle Probleme kennend, spielt hier eine zwiespältige Rolle. Einerseits versucht er seinem Freund im Pariser Exil einen Arbeitsauftrag zu beschaffen. Andererseits aber überarbeitet er einen von Kracauer gelieferten Text derartig, dass dieser eine Veröffentlichung verweigert. Am 20. August 1938 schreibt Kracauer:
"Kaum ein Satz von mir, der genau reproduziert wäre; die meisten sind bis zur Unkenntlichkeit zerrupft, ausgeweidet, verändert. Ich muss Dir gestehen, dass mir eine Bearbeitung, die so jedem legitimen Usus zuwiderläuft, in meiner ganzen literarischen Laufbahn nicht zu Gesicht gekommen ist; geschweige denn, dass ich persönlich in meiner Praxis einem fremden Text je derart mitgespielt hätte."
Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer - er ist weit mehr, als das Dokument einer mehr als 40-jährigen Freundschaft mit Höhen und Tiefen, mehr als der Einblick in Privatsphäre und Denken zweier großer Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Es ist das Drama der Geschichte selbst, das sich hier widerspiegelt und stellvertretend steht für die Emigration und all die Lebensläufe, die sie versehrte. Am Ende ist es Adorno, der nach Deutschland zurückkehrt - als Geehrter, Gefeierter, bis heute Bewunderter. Und der in Frankfurt zum 75. Geburtstag seines Freundes sagt:
"Was ein Mann wie Kracauer an maßgeblicher Stelle, etwa als Kulturpolitiker einer großen Zeitung, Gutes hätte wirken können, lässt sich nicht überschätzen. Kracauers hartnäckige Weigerung, sich blauen Dunst vormachen zu lassen, wäre eine heilsame Droge gegen das synthetische Klima der auferstandenen Kultur geworden."
Siegfried Kracauer wird diese Worte mit gemischten Gefühlen vernommen haben. Vereinsamt und vergessen stirbt er 1966 in seinem New Yorker Exil.
Marc-Christoph Wagner über den von Wolfgang Schopf herausgegebenen Band: "Theodor W. Adorno / Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923 - 1966. "Der Riß der Welt geht auch durch mich". Veröffentlicht im Suhrkamp Verlag, 772 Seiten, 32 Euro.
"Wir sind seit meiner Jugend miteinander befreundet. Über viele Jahre hindurch las er mit mir regelmäßig Samstagnachmittags die Kritik der reinen Vernunft. Nicht im leisesten übertreibe ich, wenn ich sage, dass ich dieser Lektüre mehr verdanke, als meinen akademischen Lehrern."
Adorno hatte Siegfried Kracauer Anfang der 20er-Jahre kennengelernt. Auf dem Papier ist es eine ungleiche Freundschaft - Kracauer ist fast 15 Jahre älter. Tatsächlich aber entwickelt sich die Beziehung zwischen dem jungen Studenten und dem Redakteur der "Frankfurter Zeitung" für Philosophie, Literatur und Film schnell zu weit mehr als zu einer intellektuellen Komplizenschaft. Am 5. April 1923, dem ersten im Band überlieferten Brief, der mit den Worten: Bitte allein lesen! versehen ist, schreibt Kracauer aus Frankfurt an Adorno:
"Mein lieber Teddie, mein lieber Freund! Heute Mittag kam ich an, ganz zerrissen, verhüllt. Nun will ich gleich schreiben. Ich fühlte in diesen beiden Tagen wieder eine solch quälende Liebe zu Dir, dass es mir jetzt so vorkommt, als könne ich allein gar nicht bestehen. Das Dasein ist mir schal, so abgetrennt von Dir ... Mein Zustand ist entsetzlich."
Kracauer entwickelt sich in den 20er-Jahren zu einem der schillernsten Publizisten der Weimarer Republik. Sein Roman "Ginster" von 1928, der die Zeit des Ersten Weltkrieges thematisiert, wird als bahnbrechend gefeiert, ebenso seine Studie über "Die Angestellten" zwei Jahre später. Vor allem aber macht sich Kracauer einen Namen durch seine Essays in der "Frankfurter Zeitung". In ihnen setzt er sich als einer der Ersten mit der modernen Massenkultur und ihren vielseitigen Phänomenen auseinander. Programmatisch hierfür die einleitenden Worte aus dem Aufsatz "Das Ornament der Masse":
"Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozess einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen, als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst. Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig."
Über die eigene publizistische Tätigkeit hinaus nutzt Kracauer seinen Einfluss, Texte anderer Autoren zu platzieren - unter ihnen Ernst Bloch und Walter Benjamin. Auch Adorno selbst bitte Kracauer immer wieder, für ihn hier und dort zu intervenieren. 1930 geht Kracauer von Frankfurt am Main nach Berlin, um dort das Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" zu leiten.
Die politischen Winde aber werden rauer und - wie wir heute wissen - bedeuten den Anfang von Kracauers tiefem Fall. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie wenig sich die politische Situation Deutschlands in dem Briefwechsel zwischen Kracauer und Adorno widerspiegelt und - wenn doch - wie arglos sich das Geschriebene heute liest. Am 12. Januar 1933 - wenige Tage vor Hitlers Machtübernahme - zeigt sich Adorno überzeugt, die politische Konjunktur werde sich wenden. Am 15. April, nach Reichtagsbrand und der Flucht Kracauers ins Pariser Exil, heißt es in einem Brief:
"Im Übrigen ist mein Instinkt für Dich der: nach Deutschland zurück zu kommen. Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung, ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren."
Für Kracauer tritt ein, was er seit Langem befürchtet hat: Die "Frankfurter Zeitung" kündigt dem jüdischen Linksintellektuellen die Mitarbeit. Kracauer verliert Leserschaft und Existenzgrundlage. Je länger die Emigration andauert, desto verzweifelter seine Situation. "Eine Existenz, die diesen Namen nicht verdient", schreibt er an Adorno. Auch der Gedanke an Selbstmord taucht auf.
"Ich meinerseits würde jeden Strohhalm greifen. Doch es hält mir keiner einen hin."
Die Intensität dieses biografischen Abschnitts spiegelt sich auch im vorliegenden Briefwechsel wider, der sich gerade über die 30er-Jahre spannend liest wie ein Thriller. Adorno allerdings, inzwischen selbst nach England übergesiedelt, dem emigrierten Institut für Sozialforschung zugehörig und keinerlei materielle Probleme kennend, spielt hier eine zwiespältige Rolle. Einerseits versucht er seinem Freund im Pariser Exil einen Arbeitsauftrag zu beschaffen. Andererseits aber überarbeitet er einen von Kracauer gelieferten Text derartig, dass dieser eine Veröffentlichung verweigert. Am 20. August 1938 schreibt Kracauer:
"Kaum ein Satz von mir, der genau reproduziert wäre; die meisten sind bis zur Unkenntlichkeit zerrupft, ausgeweidet, verändert. Ich muss Dir gestehen, dass mir eine Bearbeitung, die so jedem legitimen Usus zuwiderläuft, in meiner ganzen literarischen Laufbahn nicht zu Gesicht gekommen ist; geschweige denn, dass ich persönlich in meiner Praxis einem fremden Text je derart mitgespielt hätte."
Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer - er ist weit mehr, als das Dokument einer mehr als 40-jährigen Freundschaft mit Höhen und Tiefen, mehr als der Einblick in Privatsphäre und Denken zweier großer Intellektueller des 20. Jahrhunderts. Es ist das Drama der Geschichte selbst, das sich hier widerspiegelt und stellvertretend steht für die Emigration und all die Lebensläufe, die sie versehrte. Am Ende ist es Adorno, der nach Deutschland zurückkehrt - als Geehrter, Gefeierter, bis heute Bewunderter. Und der in Frankfurt zum 75. Geburtstag seines Freundes sagt:
"Was ein Mann wie Kracauer an maßgeblicher Stelle, etwa als Kulturpolitiker einer großen Zeitung, Gutes hätte wirken können, lässt sich nicht überschätzen. Kracauers hartnäckige Weigerung, sich blauen Dunst vormachen zu lassen, wäre eine heilsame Droge gegen das synthetische Klima der auferstandenen Kultur geworden."
Siegfried Kracauer wird diese Worte mit gemischten Gefühlen vernommen haben. Vereinsamt und vergessen stirbt er 1966 in seinem New Yorker Exil.
Marc-Christoph Wagner über den von Wolfgang Schopf herausgegebenen Band: "Theodor W. Adorno / Siegfried Kracauer: Briefwechsel 1923 - 1966. "Der Riß der Welt geht auch durch mich". Veröffentlicht im Suhrkamp Verlag, 772 Seiten, 32 Euro.