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Dokumentarfilm
Geschichten aus dem Museum

Die Bilder und die Menschen - sie sind für Frederick Wiseman, diesen Humanisten des Kinos und engagierten Filmemacher, nicht voneinander zu trennen. Seine Spezialität sind Porträts von Institutionen. Mit seinem neuen Dokumentarfilm bietet er Einblicke in die Welt der Londoner "National Gallery".

Von Rüdiger Suchsland | 01.01.2015
    Frederick Wiseman
    Frederick Wiseman (imago/Independent Photo Agency)
    Porträtbilder, Schlachten, Verführungsszenen, der ungläubige Thomas und der wiederauferstandene Gottessohn. In wenigen, schnell aufeinander folgenden Aufnahmen zu Beginn zieht dieser Film seine Zuschauer in eine andere Welt.
    Doch plötzlich hören wir sehr irdische Geräusche.
    Ein Mann von der Putzkolonne, der den Boden poliert, ist der erste Mensch den man sieht.
    Die Bilder und die Menschen - sie sind für Frederick Wiseman, diesen Humanisten des Kinos und engagierten Filmemacher, nicht voneinander zu trennen.
    Seine Spezialität sind Porträts von Institutionen: Krankenhäuser, Schulen, die Polizei, aber auch ein Boxstudio, eine Fleischfabrik und zuletzt das Pariser Nachtlokal "Crazy Horse" sind die Gegenstände seiner Filme. Sein Stil ist dabei (einerseits) puristisch: Wiseman verzichtet auf Interviews und einordnende Erklärungen, es wird auch nichts für die Kamera inszeniert - wie sonst fast immer im angeblich so authentischen Dokumentarfilm der Gegenwart.
    Kommentare anderer Art gibt es allerdings sehr wohl: Sie liegen im Blick auf die Dinge und vor allem in der Auswahl der Bilder, in ihrer Zusammenstellung und in der Entscheidung, wer hier überhaupt und, mit welchen Sätzen zu Wort kommt. Wie zum Beispiel eine Künstlerin, die durch das Museum führt.
    Ein eigenwilliger Blick
    Oder Wiseman zeigt die offene Verachtung des Museumsdirektors, des Kunsthistorikers Nicholas Penny für seine PR-Beraterin, als die vorschlägt, man solle das Museum "zuschauerfreundlicher" machen - das sei ein Codewort für dümmer.
    Es hat in den letzten zwei Jahren überraschend viele Kino-Dokumentarfilme über Museen gegeben: "Das Große Museum" über das Wiener Kunsthistorische Museum, Wim Wenders "Kathedralen der Kultur" unter anderem über die Eremitage von St. Petersburg waren nur die letzten, ein Film über das frisch restaurierte Amsterdamer Rijksmuseum hatte erst vor wenigen Wochen auf der Amsterdamer IDFA Premiere.
    Was unterscheidet Wisemans Film über die Londoner "National Gallery" von diesen Werken?
    Es ist sein eigenwilliger Blick.
    Ja, es gibt sie auch hier, die heilige Stimmung, mit der wir gewohnt sind, im Abendland, wie man neuerdings wieder gern sagt, Kunst anzuschauen: Ehrfürchtig, andachtsvoll, distanziert - wie etwas Fernes, Fremdes.
    Sie gehört zum Klischee solcher Filme. Doch sie hält sich in engen Grenzen, sie wird vom Regisseur sogar selbst durchkreuzt: "Die Anbetung des Goldenen Kalbs" - dieses Gemälde von Nicolas Poussin ist eines derjenigen, die Wiseman mehrfach und besonders lang zeigt. Denn dieses Goldene Kalb ist heute die Kunst. Wiseman verbindet nichts mit den in immer weitere, astronomische Höhen steigenden Preisen auf Kunstauktionen, nichts mit Gemälden als Kapitalanlage, und auch nichts mit den manchmal hysterisch geführten Debatten um Beutekunst und anderes Drumherum - all das, so argumentiert der Film, lenkt von den Werken selbst nur ab. Und von den Menschen, um die es geht: Den Künstlern und den Kunstliebhabern im Publikum und von den Menschen, die ein Museum wie die National Gallery überhaupt erst möglich machen.
    Die Welt hinter der großen Kulisse
    Wiseman verzichtet auf die dynamischen Kamerabewegungen, die mit dem Zuschauer Achterbahn fahren, er will keinen Schwung oder Flow, sondern allenfalls ab und an mal Trance. Mehr interessieren ihn Brüche und Kontrapunkte. Sowie kleine Wow-Momente.
    Wiseman blickt nämlich ausführlich auch auf die Welt hinter der großen Kulisse des Ausstellungsaales. Auf Arbeiter, Kuratoren, Wissenschaftler und Restauratoren. Wir sehen das Handwerk, sehen zum Beispiel die Röntgendurchleuchtung von Bildern, hinter denen ab und zu mal ein zweites auftaucht, oder eine Skizze: geniale Miniaturen der Wissensvermittlung über Kunstgeschichte.
    So zeigt der Film Kunst als Erfahrung in all ihren Facetten, als alltägliche menschliche Tätigkeit.
    "National Gallery" nimmt Partei. Wiseman will seinem Publikum eine Botschaft nahe bringen: Es ist die Liebe zur Kunst um ihrer selbst willen.
    Als einmal von Leonardo da Vinci die Rede ist, erklärt ein Kunsthistoriker, warum dessen Bild der "Madonna in der Felsengrotte" eine "wunderbare Mischung aus Beobachtungsgabe und Fantasie“ sei.
    Beobachtungsgabe und Fantasie - diese Verbindung ist auch die Kunst von Frederick Wiseman. In solchen Szenen entpuppt sich sein Film als ein Werk über die Kunst des Sehens und über das angemessene Sehen der Kunst.