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Dokumentarisches und Fiktion

"Ich bin selbst nur ein Aufnahmeapparat" heißt die Ausstellung in Hannover, die die Arbeiten von Joachim Koester ausstellt. Es sind Filme und Fotografien der vergangenen Jahre zu sehen, in denen Koester sich sowohl mit dem menschlichen Körper als auch geografischen Orten beschäftigt hat.

Von Carsten Probst |
    Vor knapp 15 Jahren ließ Joachim Koester in seiner Kopenhagener Galerie vier Musikerinnen auftreten, die das Streichquartett Nr. 8 von Dmitri Schostakowitsch aufführten. Dazu lud er ein überwiegend junges Publikum, das er während der gesamten Aufführung mit seiner Videokamera filmte. Die Besonderheit daran war: Koester hatte zu diesem Zweck den Galerieraum in eine Bühne verwandelt, auf dem das Publikum stand, während die Musiker auf normaler Bodenhöhe saßen. "Pit Music", zu deutsch etwa: "Orchestergraben-Musik" wurde als Video erstmals 1997 auf der Kasseler documenta X aufgeführt, entdeckt von der damaligen documenta-Chefin Catherine David, die seitdem bis heute auch immer wieder Projekte mit Koesters Arbeiten durchgeführt hat. Und man versteht schnell anhand dieses frühen Videos des 1962 geborenen Dänen, worin die nüchterne, lakonische Magie seiner meist kurzen Filme besteht.

    Im Fall von "Pit Music" ist es die merkwürdige, fast wie zufällige Durchdringung von Geschichte und Gegenwart. Schostakowitschs Streichquartett war eigentlich eine Auftragsarbeit Stalins, um die Belagerung Leningrads durch die Deutsche Wehrmacht und den heroischen Sieg der Roten Armee musikalisch darzustellen. Schostakowitsch aber fügte sich der offiziellen Lesart nicht und komponierte ein musikalisches Psychogramm des Schreckens, der Todesangst und der Entbehrungen der Kriegszeit. Damit fiel bei Stalin in Ungnade. Und so ist die Aufführung dieses Streichquartetts immer eine Art Gedenkveranstaltung sowohl an Hitlers Russlandfeldzug als auch an die Repressalien des Stalinismus. Doch das junge Publikum in der Kopenhagener Galerie Mitte der 90er-Jahre scheint davon nichts mitzubekommen. Die Kamera gleitet über versonnene Gesichter in Feierlaune, es wird getrunken und geraucht, und erst in dem Moment, in dem die Musik endet, lösen sich die Körper des Publikums wie aus einer psychischen Umklammerung.

    Dokumentarisches und Fiktion vermischen sich bei Koester stets wie unter akribisch vorbereiteten Versuchsanordnungen. Koester selbst nennt seine Methode lachend "Ghost Hunting", Geisterjagd, und hat, als wolle er seinem Publikum das auch körperlich vor Augen führen, die Räume im Erdgeschoss der Kestnergesellschaft mit Bretterverschlägen zu einer Art Labyrinth umwandeln lassen, das nicht nur an diverse Dachboden-Szenarien aus Schauergeschichten erinnert, sondern in dem auch noch die Filmprojektionen wie kleine, irrlichternde Geistererscheinungen flackern. Gern verwendet Koester analoge Projektoren für 16mm-Filme, deren Rattern den Raum ausfüllt und allein schon dadurch eine eigentümliche Atmosphäre von vermeintlich untergegangener und wieder hervorgekommener Zeit heraufbeschwört.

    So auch in seiner jüngsten Arbeit aus diesem Jahr. In einer Rekonstruktion des Merz-Baus von Kurt Schwitters lässt Joachim Koester einen Schauspieler in Nahaufnahme merkwürdige zitternde Bewegungen ausführen. Der dreiminütige Schwarzweiß-Streifen wiederholt sich in Endlosschleife, und der Zuschauer wird geradezu gezwungen, über den möglichen Sinn dieser seltsamen Szenerie nachzudenken. Ist auch sie eine historische Rekonstruktion - oder nur vorgestellte Geschichte? Im Zweiten Weltkrieg wurde der Merzbau zerstört, und das Zittern des Schauspielers scheint die Erschütterung symbolisch nachzuvollziehen. "Ich bin selbst nur ein Aufnahmeapparat", zitiert Koester den Oberdadaisten Schwitters, der auf diese Weise unversehens zum Zeitzeugen seiner selbst wird.

    In Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, folgt Koester mit der Fotokamera den Wegen des Philosophen Immanuel Kant, die heute nur noch an historischen Brachflächen vorüberführen. Entrückt und fasziniert folgt der Blick den Séancen dieser filmischen und fotografischen Geisterbeschwörungen, die sich weit entfernt haben von der netten Ordnung der Dinge in den Geschichtsbüchern. Nein, hier sind offenkundig Wiedergänger am Werk, die einer Horrorszenerie entsprungen sind, dem realen Horror der Geschichte und dem fiktiven Horror des kollektiven Unbewussten. Und Joachim Koester, dem man wie allen Dänen eigentlich gar nichts Böses zutraut, entfesselt ihre Magie mit dem verschwiegenen Lächeln eines Mysterienspielers.