
Es ist ein kalter Silvestermorgen in Park City, als Kevin Pearce etwas probiert, was 2009 so gut wie kaum ein Snowboarder der Welt zustande bringt. Er schießt hoch über den Rand der Halfpipe hinaus, dreht sich da oben gekonnt um die eigene Achse und verbindet das alles mit einem Doppelsalto vorwärts. Double Cork 1080 nennt sich der halsbrecherische Sprung. Er endet in einem dumpfen Aufprall mit dem Kopf voran auf dem harten Schnee. Was in diesem Moment auch endet, ist die Karriere einer Olympiahoffnung. Pearce erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, fällt ins Koma und produziert auf den Gesichtern seiner Freunde Entsetzen. Während der Hubschrauber zum Krankenhaus abhebt, sagt einer von ihnen: “Das ist vermutlich das Schlimmste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.”
Seltsam. Heute, mit dem Abstand von vier Jahren, wirkt der schwere Crash nur noch halb so schlimm. Denn wir wissen ja: Kevin Pearce hat überlebt. Und auch, dass er knapp zwei Jahre später in Colorado wieder auf einem Snowboard stand und einen Hang herabrutschte. Wir wissen, dass er zwar noch immer an einigen Folgen des Unfalls leidet. Und jeden Tag Übungen machen muss, um seine Sehkraft und seine geistige Leistungsfähigkeit zu stärken. Aber was wir auch wissen: dass er nichts dagegen hat, all das vor der Öffentlichkeit auszubreiten.
Pearce ist die Hauptfigur eines ungewöhnlichen Dokumentarfilms. Der zeichnet mit einem Füllhorn an Videomaterial aus privaten Archiven und zahllosen Interviews sein Leben nach. Titel: “The Crash Reels”. Auf Deutsch: Die Sturz-Filme.
Gemacht hat ihn die Engländerin Lucy Walker, die bereits zweimal für einen Oscar nominiert wurde, und die mit dieser Arbeit beste Chancen hat, den begehrten Preis endlich zum ersten Mal zu gewinnen. Und zwar auch, weil kein Film bisher in der Lage war, jenes von jugendlichem Testosteron geprägte Milieu so klar und gleichzeitig intensiv zu porträtieren. Ein Milieu von Actionsportlern, die auf einem schmalen Grat zwischen Außenseiter-Attitüde und Kommerz ständig Kopf und Kragen riskieren. Ihre Courage und ihr lakonisches Auftreten produziert einen unwiderstehlichen Glamoureffekt. Ihr Leiden und Sterben hingegen wird verharmlost.
Selbst Pearce, von kleinauf an ambitioniert und unbekümmert zugleich – wäre am liebsten trotz der schweren Hirnschäden in die Halfpipe zurückgekehrt. Doch am Ende siegte der Verstand. Und so spielt er nun – mit 26 Jahren – eine neue Rolle. Er will andere anfeuern, sich auch nach schwersten Rückschlägen nicht unterkriegen zu lassen.
“Wenn du hinfällst, kannst du dich wieder aufrappeln. Das ist die Botschaft, die ich Leuten vermitteln will, egal ob sie jünger sind oder älter. Ich will ihnen beibringen, dass sie kämpfen müssen. Man kann es schaffen und ein wirklich erfolgreiches, zufriedenes Leben leben.”
Es ist der 31. Dezember 2013. Auf den Tag genau vier Jahre nach dem Crash, als wir uns darüber unterhalten. Die Zeit reicht nur für ein kurzes Telefongespräch. Pearce, der inzwischen in Kalifornien lebt, ist über die Feiertage bei seiner Familie in Vermont zu Besuch. “Meine Mutter, mein Vater und mein Bruder und ich haben gerade darüber geredet, wie sie um diese Zeit den Anruf bekamen.”
Im Krankenhaus in Salt Lake City sahen sie Kevin in der Intensivstation angeschlossen an Unmengen von Schläuchen. Der Bruder beschreibt den Moment im Film: „Er sah nicht aus wie Kevin. Es waren 30 Schläuche in ihm. Er sah aus wie tot.“
Er war es nicht. Aber wie der Film tagebuchartig zeigt, war es ein mühsamer, langer Weg zurück. Hin zu einer neuen Beziehung zum Sport und zum Brett, das ihm die Welt bedeutet. Und geprägt von einem Interesse daran, mit 26, seine Lebensphilosophie fast täglich mit irgendeinem kurzen Sinnspruch auf Twitter zu verbreiten. Es sind Sätze wie: “Die Zukunft gehört jenen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben.” Oder: “Liebe den Augenblick, und die Energie dieses Augenblicks wird sich weit über alle Grenzen hinweg verbreiten.”
Die Regisseurin Lucy Walker sah jedoch mehr als eine rührende Geschichte in Pearce. Weshalb sie in ihrem Film nicht nur an Sportler wie Sarah Burke erinnert, die nach einem Sturz auf der selben Halfpipe in Park City Anfang 2012 starb. Sondern auch die nur selten geäußerte Kritik gegenüber Veranstaltern und Verbänden präsentiert. Sie sind es, die die Anlagen bauen lassen, auf denen Boarder und Free-Style-Skifahrer aus einer Höhe von zehn Metern ungeschützt auf den brettharten Schnee knallen.
Dass die Sportler angesichts solcher Risiken etwas tun, um sich selbst zu schützen, sollte man nicht annehmen. Sie sind gefangen in ihrer eigenen Faszination für das Risiko. Und daran, dass sich andere daran ergötzen und das alles verherrlichen. Selbst Pearce sieht nach seinen eigenen Erfahrungen keinen Grund zum Einschreiten.
“Das ist der Spaß am Snowboardfahren. Ein Leben an der Grenze. Wo man Dinge probiert, die einem Angst machen. Aber das liebe ich gerade daran. Die Gefahr.”