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Dokumentation von Kriegsverbrechen

Während die Geschichtsschreibung in Deutschland ein klares Bild von den Kriegsverbrechen an östlichen Schauplätzen hat, herrscht über den Charakter der Wehrmachtseinsätze im Westen Uneinigkeit. Im Februar erscheint im Oldenbourg-Verlag ein Buch des Militärhistorikers Peter Lieb, das sich mit dem Partisanenkampf der Deutschen in Frankreich befasst und fragt: "Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg?". Ursula Welter schildert den Inhalt des Buches.

22.01.2007
    "Die Ereignisse, die sich im vergangenen Juli in jener Gegend abgespielt haben, gehen das menschliche Verantwortungsbewußtsein an, und niemand hat das Recht, die Augen zu verschließen vor der furchtbaren Wirklichkeit, die durch sie zutage tritt."

    Fünf Schweizer schreiben dies im Herbst 1944. Mit dem "Livre Noir du Vercors", dem "Schwarzen Buch vom Vercors" , dokumentiert der Europa Verlag Zürich damals die Greueltaten der deutschen Besatzer. Nicht wissenschaftlich zwar und in aufgewühlter Sprache berichten die Männer dennoch authentisch über das, was sie im Vercors gesehen und gehört haben:

    "Die Deutschen, die diese Gegend durchzogen, haben nichts zurückgelassen, nicht einmal ein Märchen oder ein Lied, nicht einmal ihre Art zu marschieren oder das Weinglas abzustellen: nichts. Nichts, das noch lebte, das in ihnen doch noch den Menschen vermuten ließ."

    639 tote Widerstandskämpfer, 201 tote Zivilisten, Frauen, Kinder, Alte. Es sind dies die blutigsten Kämpfe gegen Partisanen in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. Erst jetzt, mehr als 60 Jahre später, erscheint die erste deutschsprachige Analyse dieses Einsatzes im Vercors. Der Militärhistoriker Peter Lieb stellt mit seiner Arbeit zwei grundsätzliche Fragen: Erstens, wie wirkten Wehrmacht und Sicherheitspolizei im Partisanenkrieg zusammen? Und zweitens, wie wurden die Soldaten durch die Nazischergen radikalisiert? Die Ereignisse im Vercors im Sommer 1944 bieten ausreichend Anschauungsmaterial für Liebs Untersuchung:

    "Die 157. Reservedivision kam im Herbst 1942 nach Frankreich. Die Division war die einzige, die in Frankreich eingesetzt war, die von Anfang bis Ende im mehr oder minder durchgehenden Einsatz gegen die Résistance war."

    Kommandeur der Division ist Generalleutnant Karl Pflaum. Er kennt Frankreich und wird sich später vor Gericht mit seiner Wertschätzung für Land und Leute zu verteidigen suchen.
    Nach der "Operation Frühling" hatte sich Karl Pflaum noch bei seinen Vorgesetzten über "unterschiedslose Terrormaßnahmen" der Nazi-Sicherheitspolizei beschwert. Nun, wenige Monate später, schwenkt auch er auf eine radikalere Linie um. Seine 157. Reservedivision hatte im Frühsommer teilweise empfindliche Verluste durch Angriffe der französischen Widerstandskämpfer erlitten. Entsprechend verbittert sind die Soldaten.

    Lieb: "Andererseits ist die Radikalisierung zurückzuführen auf die Befehlslage, die von oben kommt. Die 157. Reservedivision erhält ab Frühjahr 1944 und vor allen Dingen ab Sommer 1944 ausgehend vom Oberkommando der Wehrmacht oder auch von Hitler persönlich immer radikalere Befehle."

    Während die Geschichtsschreibung in Deutschland ein klares Bild von den Kriegsverbrechen an östlichen Schauplätzen hat, herrscht über den Charakter der Wehrmachtseinsätze im Westen Uneinigkeit. So ist es das Verdienst des jungen Militärhistorikers Peter Lieb, dass er deutlich macht, wieweit der Arm der Nazi-Sicherheitspolizei reichte. Trotz schwierigster Quellenlage gelingt es ihm, die militärischen Zusammenhänge zu beleuchten, die bis heute nur unzureichend aufgedeckt und bekannt sind.

    So beschreibt Lieb, dass die rund 4000 Résistance-Kämpfer, die sich in der natürlichen Zitadelle des Vercors verschanzt haben, in jenem Sommer von vier Kampfgruppen der Deutschen angegriffen werden, teilweise unterstützt von französischen Kollaborateuren: Zwei Kampfgruppen mit Gebirgsjägern greifen im Osten, eine gepanzerte Kampfgruppe im Süden an. Im Herzen des Hochlandes landen Fallschirmjäger. Zahlenmäßig klein, dafür mit weit reichender Entscheidungsbefugnis ausgestattet, ist die Sicherheitspolizei der Nazis, sind SIPO und SD mit von der Partie:

    Lieb: "Die Fallschirmjäger landen in der Gegend von Vassieux en Vercors und sind dann gleich in Kämpfe verwickelt, aber fangen gleichzeitig auch an, auf alles zu schießen, was sich bewegt, fangen also auch an, auf Zivilisten zu schießen, und begehen dann ein Massaker an der Zivilbevölkerung."

    Die Fallschirmjäger werden vom Kommandeur der Sicherheitspolizei in Lyon, Werner Knab, höchstpersönlich angeführt. Knab hat bereits im Osten gewütet und ist für die Ermordung Tausender von Juden verantwortlich. Nun also überwacht er persönlich den Kampf gegen die Résistance im Südwesten Frankreichs:

    Lieb: ""Alle Zeugenaussagen stimmen überein, dass der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Lyon, Dr. Werner Knab, mit der Kampfgruppe Schäfer gelandet ist und dort auch die Verantwortung für die Massaker trug."

    Die "Kampfgruppe Schäfer" wütet in zwei Ortschaften, Vassieux und La Chapelle: Fallschirmjäger des Bataillons "Jungwirth", unterstützt von einem Ostbataillon, angefeuert von Sicherheitspolizei und SD. Im Osten des Hochplateaus greift die 157. Reservedivision an, nimmt ein Lazarett aus, das sich in der "Grotte de la Luire" befindet. Vor der Grotte hängt die Fahne des Roten Kreuzes:

    Lieb: "Die Verwundeten werden dort von den deutschen Soldaten erschossen. Und die Frauen werden nach Grenoble abtransportiert und werden später in ein Konzentrationslager überliefert. Diese Frauen waren Rot-Kreuz-Schwestern."

    Das Völkerrecht ist in jener Zeit unpräzise, lässt viele Fragen offen. Peter Lieb räumt dies ein.

    Lieb: "Zum Beispiel war zum damaligen Zeitpunkt völkerrechtlich nicht geregelt, darf man Geiseln nehmen, darf man Geiseln erschießen, darf man Repressalien verhängen, oder darf man es nicht? Wie geht man um mit einem gefangenen Partisanen mit der Waffe in der Hand? Das ist alles völkerrechtlich nicht klar geregelt gewesen."

    Und doch ist das Urteil des Historikers eindeutig:

    "Dennoch muss man sagen, dass das systematische Niederbrennen von Gehöften oder Ortschaften, wie das im Vercors geschehen ist, muss man wohl auch nach damaligen Maßstäben als Kriegsverbrechen bezeichnen."

    Während die französischen Untersuchungen bis heute der 157. Division die Hauptverantwortung für die Massaker zuschreiben, kommt Lieb in seinem Buch zu einem differenzierteren Urteil. Mit einer Sondergenehmigung des französischen Verteidigungsministeriums ausgestattet, wertet er die Akten der Nachkriegsprozesse in Frankreich aus und belegt, was der Geschichtsschreibung durch eine 100-jährige Akten-Sperrfrist bislang vorenthalten wurde: Die radikalen Anweisungen stammen direkt aus den Schaltzentralen der NS-Sicherheitspolizei in Lyon. So ist die "Blutorgie" im Vercors ein Zusammenspiel von Wehrmacht, Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst. Der NS-Staat setzt alles daran, dass die Region nicht mehr als Operationsbasis des französischen Widerstandes dienen kann. Den Bauern und Familien wird die Erwerbsgrundlage entzogen, das Vieh weggenommen. Selbst vor den Toten kennen die Deutschen keine Gnade. So erinnert sich einer der überlebenden Widerstandskämpfer, Raymond Tonneau, der heute in Marseille lebt:

    "Sie hatten die Toten einfach auf offenem Felde zurückgelassen, bloß um der Bevölkerung zu zeigen, dass sie die Gebieter waren und wir die Gefallenen nicht zu berühren hätten. Vom 26. Juli bis Mitte August blieben die Kadaver dort liegen - mitten in der prallen Sonne, zerfressen von Raben und Ungeziefer."

    Verurteilungen gibt es nach dem Krieg nur gegen die Angehörigen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes. Der Anführer der "Kampfgruppe Schäfer" wird gar nicht erst angeklagt. Die Gründe bleiben im Dunkeln. Schäfer, so belegt Lieb, geht aus dem Einsatz im Vercors hochdekoriert nach Hause:

    Lieb: "Es gab für den Einsatz im Vercors einige Eiserne Kreuze, erster und zweiter Klasse, und, was besonders interessant ist, der militärische Führer der Kampfgruppe Schäfer, jener Oberleutnant Schäfer, erhielt das Ritterkreuz. Es ist einer der wenigen Fälle, oder mir bisher der einzig bekannte Fall, in dem ein deutscher Soldat für einen Einsatz im Partisanenkrieg diese hohe militärische Auszeichnung erhalten hat."

    Generalleutnant Karl Pflaum sitzt nach dem Krieg in Lyon auf der Anklagebank, wird jedoch aus gesundheitlichen Gründen noch während des Prozesses entlassen. Er stirbt wenig später. 1973 beschließt der Gemeinderat der Stadt Neuötting, eine Straße nach Generalleutnant Karl Pflaum zu benennen, dessen Division im Vercors gemeinsam mit der Nazi-Sicherheitspolizei gegen Résistance und Zivilbevölkerung vorgegangen ist.

    Peter Lieb bringt mit seinem Buch viel Transparenz in die Ereignisse in jenem Sommer 1944. Leichte Kost bietet die mehr als 600 Seiten starke Untersuchung naturgemäß nicht. Und doch ist das Buch spannend und packend zugleich, denn viele der Fragen, die in deutschen wie französischen Dokumentationen bis heute unbeantwortet sind, werden mit seiner Arbeit beleuchtet und beantwortet. So bietet das Buch eine Fülle von Neuigkeiten über den Partisanenkrieg im Westen und darüber, wie Wehrmacht und Sicherheitspolizei, trotz Differenzen, vielfach Hand in Hand gearbeitet haben. Dass diese Zusammenarbeit im Vercors so weit ging, dass Frauen und Kinder von Wehrmachtssoldaten getötet wurden, bringt die Untersuchung zutage. Dass die Befehle aus den Nazi-Schaltzentralen kamen, wird eindrucksvoll belegt.


    Peter Lieb: Konventioneller Krieg oder NS-Weltanschauungskrieg? Kriegsführung und Partisanenbekämpfung in Frankreich 1943/44 Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007
    631 Seiten, 49,80 Euro