Archiv


Dokumente der Moderne

Die Fotografie war ein Medium, das wie geschaffen schien für die sozialistische Utopie: technisch war es, vordergründig leichter zu erlernen als die in Akademien gelehrte Malerei, reproduzierbar, den Massen leichter zugänglich zu machen und geeignet, eine neue Wahrnehmung der Welt zu etablieren.

Von Christian Gampert |
    So war es kein Wunder, dass die Sowjetunion ihre Fotokünstler zunächst sogar in ihren formalen Experimenten unterstützte, bevor sie dann in den dreißiger Jahren ihre ideologische Pranke auf jede Art von Kreativität legte. Das ist in der Ausstellung gut zu verfolgen: Da sind zunächst die Piktorialisten, die das Malerische in die Fotografie zu übertragen suchten und dabei die gerade untergegangene bourgeoise Welt beschworen - sie wurden von vornherein als Reaktionäre denunziert.

    Dann die Konstruktivisten um Alexander Rodtschenko, die ihre Bilder nach abstrakten Prinzipien aufbauten und so die neue, angeblich wissenschaftliche, zumindest aber eine technische Weltsicht beförderten - aber wer, wie Alexander Chlebnikow, dann Damenstrümpfe als pure Form, als Licht- und Schattenspiel inszeniert, Steinformationen, Räder, Lamellen, Stoffe, Haufen von Samen und Kürbiskernen auf ihre optische Struktur, auf ihr Muster untersucht, der gerät leicht in den Verdacht des bürgerlichen Formalismus.

    Dominant dann die von der Partei verordnete Fotografie des sozialistischen Realismus, die freilich größtenteils auf konstruktivistischen Prinzipien beruht. Ob man ein Stilleben mit Eierbechern oder Milchflaschen als pure Form der Dinge geometrisch inszeniert, Steine und Kürbiskerne als Muster begreift oder eine Truppenparade auf dem Roten Platz in letztgültige Emblematik bannt, ist von der fotografischen Technik im Grunde einerlei.

    So haben manche der in Winterthur gezeigten Fotografen alle drei stilistischen Stadien durchlaufen - sogar Alexander Rodtschenko, der mit seinen nach oben fliehenden Türmen und Verstrebungen sowohl konstruktivistische Ästhetik wie auch die sozialistische Himmelsstürmerei bediente und später die Marschkolonnen der Sportvereine massenornamental fotografierte, zog sich von der Themenwahl in den Zirkus oder das Bolschoi-Ballett zurück, als ihm die Bevormundung der Partei zu viel wurde.

    Wie geht man mit der Parteidoktrin um? Das war die Frage für die Künstler. Heute kann Russland über seinen fotografischen Schatz frei verfügen - aber er muss erst mal gehoben werden, sagt Olga Sviblova vom Moskauer "Haus der Fotografie", die die Ausstellung kuratiert:

    Es ist ganz wichtig, die Geschichte der russischen Fotografie zu rekonstruieren. Besonders die zwanziger und dreißiger Jahre, als Fotografie und Kunst in Russland wirklich explodierten. Wenn man über diese Zeit spricht, kennen die Leute nur einen einzigen Namen: Alexander Rodtschenko. Aber die Zusammenhänge sind viel komplizierter. Man musste die wichtigen Fotografen überhaupt erst wieder finden. Sie waren aus mehreren Gründen vergessen: einerseits wurden sie von den sowjetischen Machthabern unterdrückt; anderseits waren die meisten Archive waren zerstört; wieder andere sind künstlerisch tot gewesen, weil sich niemand für sie interessierte.

    Es sind Vintage-Prints, vom Fotografen selber in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Aufnahme entwickelte Abzüge, die in Winterthur zu sehen sind. Sie erzählen auch Sozialgeschichte: die viel zu schnelle Umwandlung der Feudalherrschaft in einen sozialistischen Apparat, die forcierte Industrialisierung eines Agrarlands. Sieht man am Anfang noch Rückenakte und Bewegungsstudien des romantischen Piktorialisten Alexander Grinberg, so konzentriert sich der Blick bald auf gesellschaftliche Leistungen, auf Sport- und Militärparaden, Kanal-, Kraftwerk- und Schleusenbau, und nur die ausgezehrten Arbeitergesichter der kleinen Leute lassen erahnen, was es gekostet haben mag.

    Geschwindigkeit, Körperlichkeit, Technik: das sind die Götter. Stahlgießer und Expresszüge. Draufsichten auf Bahnhöfe und Straßen. Formal perfekt die Fallschirmspringer- und vor allem Flugzeug-Bilder des Georgi Selma: eiserne Vögel, ganz lakonisch gezeigt. Beeindruckend das Werk des Max Penson, der alle Stile virtuos beherrscht: der hat auch in Sport- und Arbeiterbildern noch einen kritischen Blick, ein Ethnologe der Minderheiten, der auch ein Lenin-Stalin-Denkmal durch die religiöse Mutter-Gottes-Ikonographie davorsitzender Frauen sanft ironisiert.

    80 Prozent der russischen Fotografen waren Juden; ihre Spur verliert sich oft im Dunkel. Es bleibt ihr wiedergefundenes Werk, es bleibt das Titelbild der Ausstellung: Rodtschenkos "Mädchen mit der Leica", auf das ein gerasterter Schatten fällt. Eine Schule des Sehens.