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Dominique Vidal, Le mal-être juif, Entre repli, assimilation & manipulation

Als ich jung war - in den 60er Jahren - fragte man die Franzosen: 'Seid ihr mit einem Staatspräsidenten einverstanden, der Jude ist?’. 50 Prozent sagten Nein, heute antworten auf dieselbe Frage weniger als 10 Prozent mit Nein.

Peter Hölzle |
    Als ich jung war - in den 60er Jahren - fragte man die Franzosen: 'Seid ihr mit einem Staatspräsidenten einverstanden, der Jude ist?’. 50 Prozent sagten Nein, heute antworten auf dieselbe Frage weniger als 10 Prozent mit Nein.

    So Dominique Vidal, stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Le Monde Diplomatique. Bestimmte Formen des Antisemitismus scheinen sich nach dieser Aussage also verflüchtigt zu haben, der Wunsch nach völliger Ausgrenzung von Juden aus einer mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaft ist ein Minderheitenprogramm geworden, ebenso wie der Druck, sich vollständig zu assimilieren. Damit allerdings haben sich seit langem debattierte Fragen jüdischer Identität noch lange nicht erledigt. Neben der Bedrohung durch antijüdische Gewalttaten ist es vor allem die Existenz des Staates Israel mit seinem Anspruch, Heimat aller Juden der Welt zu sein, der viele Juden außerhalb Israels in eine schwierige Lage bringt, weil sie sich dem Zwang ausgesetzt sehen zu begründen, warum sie nicht in Israel leben wollen. Verstärkt wird das Problem noch dadurch, dass ein großer Teil der Diaspora hin- und hergerissen ist zwischen der bedingungslosen Solidarität mit Israel und der Kritik an dessen Führung, deren nationalistisch motivierte Gewalt an den Palästinensern sie verurteilen. Das jüdische Unwohlsein nennt Dominique Vidal sein Buch, das in Frankreich für einiges Aufsehen gesorgt hat und dessen Fragestellungen weit über die französische jüdische Gemeinde hinaus von Belang sind.

    Frankreichs jüdische Gemeinschaft ist die größte Westeuropas. Knapp 600 000 Mitglieder zählt sie und gilt als vollkommen integriert in die Gesellschaft. Bis auf das Amt des Staatspräsidenten haben Juden bereits alle hohen Ämter der Republik bekleidet.

    Trotz dieser breiten Akzeptanz leiden viele französische Juden unter einer Identitätskrise, die einer von ihnen jetzt anspricht. Jüdisches Unwohlsein, Zwischen Rückzug, Assimilierung und Manipulationen, so ließe sich der Titel des bislang nur auf Französisch vorliegenden Buches von Dominique Vidal übersetzen. Der Autor, stellvertretender Chefredakteur der Monatsschrift Le Monde diplomatique, macht diese Identitätskrise in zwei gegenläufigen Bewegungen aus, Bewegungen, die sich auch in anderen hochentwickelten Ländern mit jüdischen Minderheiten beobachten lassen: Die einen ziehen sich in ein religiös gelebtes Judentum zurück, die anderen assimilieren sich und gehen über kurz oder lang in der Mehrheitsbevölkerung auf. Beide Prozesse werden in Frankreich neuerdings durch äußere Umstände beschleunigt, die Rückwirkungen auf den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft haben.

    Der durch die israelische Repression und die zweite Intifada verschärfte Nahostkonflikt entfesselte vor allem im letzten Jahr eine Welle antijüdischer Drohungen und Gewalttaten, die in der Nachkriegsgeschichte Frankreichs ihresgleichen sucht. Synagogen wurden verwüstet, jüdische Schulen und Einrichtungen geplündert, jüdische Schulbusse in Brand gesetzt, als Juden erkennbare Bürger tätlich angegriffen und jüdische Grabmäler geschändet. Vidal verurteilt diese Straftaten und fordert ihre konsequente Verfolgung, verwahrt sich aber gegen ihre manipulierende Indienstnahme.

    Maßlose Vergleiche, wie der des Publizisten Alain Finkielkraut, der mit dem Begriff des 'Kristalljahres' die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Frankreich mit dem ersten Höhepunkt der nationalsozialistischen Judenverfolgung in der sog. 'Reichskristallnacht' des 9. November 1938 gleichsetzte, sind Vidal Indiz einer breit angelegten Manipulationskampagne, die nur ein Ziel kenne: das Terrain zurückzugewinnen, das die Regierung Scharon infolge ihrer kompromisslosen Palästinenserpolitik in der französischen öffentlichen Meinung verloren habe. Diesem Ziel, so Vidal, dienten so unterschiedliche Mittel wie eine Strategie des Schulterschlusses innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, eine Ideologie der Rettung des Abendlandes vor dem Islam und eine systematische Diffamierung vor allem jüdischer Journalisten, die sich nicht zu Lautsprechern aktueller israelischer Politik machen ließen.

    Fatalerweise gehörten ausgerechnet maßgebliche Persönlichkeiten der derzeitigen Führung des Repräsentativkomitees der jüdischen Einrichtungen Frankreichs, das sich als Vertretung der französischen Juden gegenüber dem Staat versteht, zu den Triebkräften dieser Manipulationskampagne, die bislang genau das Gegenteil von dem erreichte, was sie bezwecke. Statt weitgehende Geschlossenheit zu zeigen, sei die mehrheitlich laizistisch und liberal bis links ausgerichtete französische Judenheit so gespalten wie seit langem nicht mehr. Mitschuld an dieser Polarisierung trage der derzeitige Präsident des Repräsentativkomitees. Roger Cukierman ist ein Mann der Rechten und ein glühender Verfechter der Politik des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon. Mit seiner einseitigen Festlegung auf Scharon stellt sich Cukierman nicht nur gegen die Mehrheit seiner Glaubensgenossen, sondern auch gegen die Nahostpolitik der französischen Regierung. Beide - Regierung wie Mehrheit der französischen Juden - wollen das Existenzrecht Israels gesichert wissen, beide wünschen aber auch einen Palästinenserstaat, der von Israel anerkannt wird.

    Dominique Vidal macht deutlich, wie sich aus diesem Gegensatz zwischen jüdischer Führung und jüdischer Basis Spaltungsbewegungen entwickeln, die sich neuerdings in einem Verbindungskomitee laizistischer jüdischer Vereinigungen zusammengeschlossen haben. Sie verfolgen ein doppeltes Ziel. Zum einen protestieren sie gegen die Instrumentalisierung der jüdischen Gemeinde Frankreichs durch die israelische Regierung. Zum anderen suchen sie eine Alternative zu den vorherrschenden innerjüdischen Strömungen. Weder können sie sich mit dem Rückzug auf ein strikt religiös gelebtes Judentum anfreunden, noch sehen sie ihr Heil in der Assimilierung. Ihre Antwort auf die gegenwärtige Identitätskrise ist ein Bekenntnis zu einem gleichermaßen pluralistischen wie universalistischen Judentum, das im laizistischen Wertefundament der französischen Republik verankert ist. Schließlich war diese Republik die erste in der Welt, die den Juden zur Emanzipation verhalf.

    Dominique Vidal, Le mal-etre juif, übersetzt: Das Jüdische Unwohlsein. Zwischen Rückzug, Assimilation und Manipulation. Der Verlag ist in Marseille und heißt Argone. Das Buch hat 129 Seiten und kostet 9 Euro.