Freitag, 19. April 2024

Archiv

Doping in Westdeutschland
Umsonst gestorben

Die Siebenkämpferin Birgit Dressel sorgte vor 30 Jahren für einen Schock. Sie führte einer breiten Öffentlichkeit zum ersten Mal brutal vor Augen: Athleten im Westen Deutschlands brachten Leistung mit Dopingmitteln. Und das konnte tödlich sein. Birgit Dressel starb am 10. April 1987 – vor 30 Jahren – qualvoll.

Von Andrea Schültke | 09.04.2017
    Siebenkämpferin Birgit Dressel überspringt die Latte in einem Hochsprungwettkampf.
    Birgit Dressel überspringt die Latte beim Hochsprung. (imago)
    Leichtathletik EM 1986 in Stuttgart. Siebenkampf der Frauen, Hochsprung. Birgit Dressel überspringt 1,92 Meter.
    "Birgit Dressel is going very well." Der britische Kommentator hat Recht. 1,92 – persönliche Bestleistung für die 26jährige aus Mainz. Bei dieser EM macht sie vor Heimpublikum den besten Siebenkampf ihrer kurzen Karriere. "She delighted the audience with her highjump," schwärmt der Kommentator. Sie begeistert das Publikum. Das feuert sie an bis zum abschließenden 800 Meter-Lauf.
    "Beifall für die Siebenkämpferinnen, Birgit Dressel hätte mehr geben müssen um doch noch selbst aufs Treppchen zu kommen, sie ist in diesem Marathon der Siebenkämpferinnen nur unter ferner liefen ins Ziel gekommen." Das gilt für die Einzeldisziplin 800 Meter. In der Gesamtwertung kommt Birgit Dressel am Ende als Vierte ins Ziel und kommentiert ihren Wettkampf: "Mit diesen 6487 Punkten bin ich 300 Punkte besser als letztes Jahr und dann noch ein vierter Platz dazu, bin sehr zufrieden."
    Und sie will weiter arbeiten, 6600 Punkte sagt sie, dann wäre sie wohl auf dem Treppchen. Die 26jährige gilt als große Medaillenhoffnung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes für die WM 1987 und die Olympischen Spiele 1988. Beides erlebt sie nicht mehr.
    Todesursache: ungeklärt.
    Birgit Dressel stirbt am 10. April 1987 in der Uniklinik Mainz. Zwei Tage zuvor muss sie das Kugelstoßtraining abbrechen: akute Schmerzen in der Lendenregion. Das Drama beginnt: diverse Ärzte spritzen diverse Schmerzmittel in höchsten Dosierungen, nichts hilft. Die Schmerzen werden immer schlimmer, unerträglich. Einlieferung in die Uniklinik. Zahlreiche Fachärzte können keine korrekte Diagnose stellen. Der Patientin geht es immer schlechter. Sie fällt ins Koma, muss künstlich beatmet werden. Am 10. April 1987 um 22.25 Uhr stirbt Birgit Dressel. Die Genaue Todesursache ist nach wie vor unklar. Im rechtsmedizinischen Gutachten heißt es: "Möglicherweise hat sich auch in dem so unter Dauermedikation stehenden Körper von Frau Dressel aufgrund vor ihrer Einlieferung in die Universitätsklinik akut gegebener Schmerzmittel ein toxisch-allergisches Geschehen entwickelt."
    Ein toxisch-allergischer Schock. Wohl die Folge von hochdosierten Schmerzmitteln.
    Die Behörden ermitteln wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt. So erfährt die geschockte Öffentlichkeit: Über 100 Medikamente hat Birgit Dressel zu sich genommen, bzw. werden in ihrer Wohnung gefunden. Darunter auch die Anabolika Megagrisevit und Stromba. Dopingmittel.
    Der leitende Oberstaatsanwalt Werner Hempler: "Über eine lange Zeit wurden Frau Dressel Wirksubstanzen in bedeutenden Mengen sowohl oral als auch durch Spritzen in die verschiedensten Körperregionen verabreicht. Dabei wurden ihr auch Substanzen zugeführt, die erhebliche Nebenwirkungen und Allergien auslösen können." Dressels behandelnder Arzt damals ist der Freiburger Mediziner Armin Klümper.
    Keine Mitschuld. Keine Verantwortung.
    Eine Mitschuld oder eine Verantwortung für den frühen, qualvollen Tod seiner Patientin streitet Klümper ab. Er sagt am 2. 3.1997 in der SWR1-Sendung "Leute": "Wir arbeiten zum Beispiel in Überzahl der Menge mit pflanzlichen Mitteln, die sie von uns bekommen hat, da kann sie einfach nicht dran sterben, das ist unmöglich".
    Allerdings gibt er in seiner polizeilichen Zeugenvernehmung an, "dass Anabolica durchaus in das Therapiespektrum meines Instituts gehören, zum Beispiel in Regenerationsphasen" (zit. nach Singler/Treutlein Doping im Spitzensport, S. 288)
    Ob der Mediziner auch seiner Patientin Birgit Dressel die Anabolika rezeptiert , bleibt unklar. Im SWR sagt er 1997: "Sie war bei uns im Februar zum letzten Mal in Behandlung und am 10. April ist sie gestorben und wenn man die Akte heute liest und wenn man sie damals liest, dann war es unmöglich irgendetwas in Verbindung zu bringen zwischen dem Besuch bei uns und zwischen dem Tod".
    Dreißig Jahre nach dem Tod von Birgit Dressel wird nie mehr geklärt werden können, wer dafür verantwortlich ist. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
    Der deutsche Sport als "Massengrab"
    Fest steht: Birgit Dressel hat Anabolika genommen - zur Leistungssteigerung. Und auch andere West-Athleten haben gedopt. Jüngster Beleg: eine gerade veröffentlichte Doktorarbeit. 31 männliche Athleten haben darin Doping in den 70er und 80er Jahren gestanden.
    Ob und welche körperlichen Schäden die Männer durch das Doping erlitten haben, ist nicht klar. In der Beratungsstelle des Dopingopfer-Hilfevereins in Berlin haben sich fast ausschließlich DDR-Sportler gemeldet. Ines Geipel, Vorsitzende des Vereins bilanziert: "Nach 30 Jahren wissen wir, der deutsche Sport ist ein Massengrab. Also DOH gehen wir von an die 1000 toten Athleten in diesen 30 Jahren aus. Das ist scheußlich, bitter und eben unter keinen Umständen hinzunehmen. Immer wieder neue Skandale, aber nichts verändert sich. Kurzum: Birgit Dressel und mit ihr all die 1000 anderen Athleten sind völlig umsonst gestorben und das ist unerträglich und hat auch etwas Widerliches."
    Birgit Dressel wäre heute 56 Jahre alt.