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Doping, Schikane und Vertuschung

30 Jahre ist es her, dass der DDR-Turner Ralf-Peter Hemmann in Moskau Weltmeister am Sprung wurde. Der Titel ging in die Turngeschichte ein und das, obwohl er laut Aussagen des Moskauer Labors positiv auf ein Anabolikum getestet wurde. Hemmann wurde aus dem Turnen entfernt, behielt seinen Titel und fragt sich bis heute, was denn damals wirklich passiert ist.

Von Sandra Schmidt | 04.12.2011
    Geschichten über Erfolge des DDR-Sports gibt es viele und nicht minder viele gibt es heute über systematisch gedopte und geschädigte Sportler. Doch die Geschichte des Turners Ralf-Peter Hemmann ist eine ganz andere und sie zeugt mit letzter Sicherheit nur von einem: der Macht der Sportfunktionäre.

    Die offizielle DDR-Geschichtsschreibung hält fest: Der Dresdner Hemmann gewann bei der WM 1978 Bronze und bei den Spielen in Moskau 1980 Silber mit der Mannschaft. 1981 wurde er Weltmeister am Sprung. Im Frühjahr 1982 beendete er seine Karriere.
    Hemmann erinnert den Abend nach seinem Sieg:

    "Allen ist ein Stein vom Herzen gefallen, wir wollten unbedingt die Medaille und dann haben wir sie gehabt und konnten da in die Phalanx der beiden Sowjetsportler eingreifen und das ist natürlich in der Höhle des Löwen umso besser."

    Doch es gibt eine zweite Version der Geschichte: In einem Treffbericht von IM Technik, alias Manfred Höppner, dem DDR-Chefmediziner, der im Jahr 2000 wegen Dopingvergaben auch an Minderjährige zu einer Gefängnisstrafe mit Bewährung verurteilt wurde, heißt es unter der Überschrift Hemmann:

    "Während des Aufenthaltes einer Leitungsdelegation des DTSB im Januar 1982 in der UdSSR wurde Genosse Ewald durch Genossen Pawlow unter vier Augen mitgeteilt, dass anlässlich der Turn-WM in Moskau ein positiver Befund bei einem DDR-Turner ermittelt wurde. [...] Eine Meldung an die internationale Turn-Förderation wurde nicht erstattet, jedoch habe dadurch laut Äußerung des Genossen Ewald die Sowjetunion uns in der Hand. Wesentlich jedoch wäre, dass unsere Parteiführung davon nichts erfährt, er habe sein Versprechen abgegeben, dass so etwas bei DDR-Sportlern nicht passiert."

    Hemmann erfuhr davon erstmal nichts. Er kurierte nach der WM eine Verletzung aus, trieb seine Ausbildung zum KfZ-Schlosser voran und bereitete sich auf die kommende Saison vor. In die SED war trotz ständigen Drucks immer noch nicht eingetreten. Im Frühjahr 1982 erklärte er einer Zeitung, er freue sich auf seinen ersten Einsatz nach der WM, geplant bei einem Turnier in Holland:

    "Dann kam der Tag, wo ich nach Holland fahren sollte mit meinem Trainer zusammen und wir sind damals zu unseren Clubinternat gefahren, zu unserem Clubvorsitzenden und der hat mir eigentlich klipp und klar gesagt, dass mit heutiger Wirkung meine leistungssportliche Laufbahn beendet ist."

    Hemmanns Heimtrainer, Gerd Falkenstein stand plötzlich ohne seinen besten Athleten da:

    "Mich hatte man nicht mal gefragt! Ruckzuck war er draußen, das ist ja so, solche Entscheidungen sind ja im DDR-Sport ganz schnell gewesen, Zackbums, das war ja im Prinzip von heute auf morgen."

    Manfred Höppner war bereits Anfang Februar 1982 zur Öffnung der B-Probe nach Moskau gereist. Sein Bericht:

    "Der Befund des Turners Hemmann war eindeutig positiv. Bei dem Präparat handelt es sich um ein im DDR-Leistungssport nicht erlaubtes Mittel. Genosse Ewald hat sich selbst vorbehalten, das Gespräch mit Hemmann zu führen. Sollte dieser eigenmächtig gehandelt haben, wird er von seinem Leistungsauftrag entbunden, ansonsten wird die Verbandsärztin Dr. Fröhner zur Verantwortung gezogen."

    Ralf-Peter Hemmann erinnert sich gut an das Gespräch mit dem DTSB-Präsidenten Ewald. Er habe ihn unter Druck gesetzt, behauptet, er habe sich das Mittel selber besorgt und gespritzt und er habe ihm auch gesagt, es handele sich um eine "politische Entscheidung". Für ihn:

    "... war es ein Schock und ich muss auch ehrlich sagen, so richtig hab ich’s auch immer noch nicht überwunden. [...] Ich habe mich immer wie einer gefühlt, der im Gefängnis war, aber unschuldig war und alle Welt wollte mit einem plötzlich nicht mehr so viel zu tun haben, das ist schon ein Schlag."

    Der Weltmeister erhielt eine offizielle Verabschiedung, samt Orden und Obolus für seine Erfolge. Es folgte die Einberufung zur Armee und danach bot man ihm im Sportclub an, mit jungen Turnern zu arbeiten. Nur von der Presse hat nie wieder jemand angerufen:

    "Es ist totgeschwiegen worden, das hat natürlich mehr Raum für die verschiedensten Gerüchte oder Meinungen gegeben, weil, klar, keiner konnte sich vorstellen, wieso hört er auf einmal auf."

    Die damalige Verbandsärztin, Gudrun Fröhner, wusste um die Umstände des Rücktritts. Sie nennt den Fall heute "tragisch". Damals ist sie mit Hemmann gemeinsam zu Manfred Ewald nach Berlin gefahren, wurde aber selbst nicht angehört:

    "Es war so was von schlimmer Psychoterror, es war ganz schlimm, und am meisten, weil mir ja der Junge leidtat, ja."

    Von Hemmanns Unschuld ist sie absolut überzeugt; und auf die Frage, ob sie ihm unerlaubte Mittel verabreicht habe, reagiert Fröhner sehr entschieden:

    "Nie! Nie! Nie! Kommt überhaupt nicht infrage! Ich schwöre, nie!"

    Ralf-Peter Hemmann glaubt nicht, dass seine Ärztin eine Schuld trifft. Keine der bislang bekannten Akten sprechen in diesem Fall gegen sie. Eine Erklärung für den unerklärlichen Vorgang lieferte den Beteiligten die DDR-Verbandsführung. Trainer Gerd Falkenstein:

    "Erzählt wird eigentlich, dass die DDR damals irgendwie im Wintersport sowjetische Athleten hat auffliegen lassen und dass das eine Retourkutsche war."

    Eine geschickte Version, denn ihr zufolge trägt niemand in der DDR eine Schuld. Doch sie ist, ebenso wie alle anderen Aussagen, bis heute weder bewiesen noch widerlegt. Mit ihr kommt allerdings auch die FIG, der Internationale Turnerbund, ins Spiel. Warum hat sie Hemmann die Medaille nicht aberkannt und dem zweitplatzierten sowjetischen Turner Akopian zugesprochen?

    Entgegen der Aussage Höppners machte der positive Dopingbefund eines DDR-Turners nämlich schon während der Wettkämpfe in Moskau die Runde. Ein amerikanischer Zeitzeuge erinnert sich, dass die Kampfrichter vor Ort alle darum wussten. Und auch einer der damaligen DDR-Kampfrichter bestätigt heute, dass es das "Gerücht" schon in den Tagen von Moskau gegeben habe. Man darf davon ausgehen, dass der damalige FIG-Präsident, der Russe Yuri Titow, kein Interesse an einem Dopingfall hatte, noch dazu aus einem sozialistischen Bruderland. Dies lässt einen Deal zwischen ihm und dem Vorsitzenden des Oberkampfgerichts Karl-Heinz Zschocke aus der DDR durchaus plausibel erscheinen.

    Die FIG teilte nun auf Anfrage lapidar mit, ihr Archiv reiche nur zwanzig Jahre zurück. Doch just 1982, also im Jahr Eins nach dem Fall Hemmann, richtete sie eine medizinische Kommission ein. Ralf-Peter Hemmann hilft all das wenig. Er wartet bis heute auf Aufklärung.