Donnerstag, 28. März 2024

Rechtsstaatsprinzip "ne bis in idem"
Karlsruhe entscheidet über das Doppelbestrafungsverbot

Niemand darf wegen derselben Handlung zweimal bestraft werden. Doch gilt das auch nach einem Freispruch, wenn neue Beweise auftauchen? Per Gesetz wurden da Ausnahmen geschaffen. Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht die Sache klären.

26.05.2023
    Vor einem Staatsanwalt liegen im Landgericht in Mönchengladbach (Nordrhein-Westfalen) die Strafprozessordnung und das Strafgesetzbuch
    Gestritten wird über die Frage, wann beendete Strafprozesse wieder aufgerollt werden dürfen (picture alliance / dpa / Wolfram Kastl)

    Was besagt der Grundgesetzartikel 103 Absatz 3?

    Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland besagt: "Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Diese Garantie im Grundgesetz wird auch "Verbot der Doppelbestrafung" genannt. Juristen nutzen auch den lateinischen Ausdruck: "ne bis in idem" - "nicht zweimal in derselben Sache".

    Wie kam es zu einer Änderung bei der Doppelbestrafung?

    Hans von Möhlmann, dessen Tochter Frederike 1981 vergewaltigt und ermordet worden war, startete 2015 eine Online-Petition für eine Gesetzesänderung: Es müsse doch möglich sein, so sein Ziel, ein Verfahren wieder zu eröffnen, wenn neue, wissenschaftlich anerkannte Methoden einen freigesprochenen Täter überführten. Fast 200.000 Menschen unterschrieben die Petition.
    Der konkrete Fall: Ismet H. wurde 1982 wegen Vergewaltigung und Mord an Frederike von Möhlmann vom Landgericht Lüneburg zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Später hob der Bundesgerichtshof das Urteil wegen eines Rechtsfehlers wieder auf und verwies den Fall ans Landgericht Stade. Den dortigen Richtern reichten die Beweise gegen H. nicht aus. Der Mann wurde freigesprochen. Der Vater des Opfers wollte die Entscheidung nicht akzeptieren. Er schaffte es, dass 2012 die seinerzeit gefundenen Beweise nochmals überprüft wurden. Und weil sich zwischenzeitlich die technischen Möglichkeiten zur Auswertung von DNA-Spuren deutlich weiterentwickelt hatten, fand man an Frederikes Sachen tatsächlich Spuren, die erneut auf Ismet H. deuteten.
    Aber: Ismet H. war rechtskräftig freigesprochen worden. Deshalb startete Hans von Möhlmann seine Petition, um die Wiederaufnahme von Strafprozessen zu erleichtern.

    Was wurde gesetzlich neu geregelt?

    Möhlmanns Petition wurde von der Politik aufgenommen. Der Deutsche Bundestag beschloss 2021 mit den Stimmen der damals Großen Koalition, dass bei schweren Straftaten ein Prozess wiederaufgerollt werden kann, wenn es neue Beweise gegen einen Verdächtigen gibt. Auch dann, wenn der zuvor rechtskräftig freigesprochen wurde.
    Zuvor hatte es im Bundesjustizministerium Bedenken wegen eines möglichen Verstoßes gegen das verfassungsrechtliche Doppelbestrafungsverbot gegeben. Doch Union und SPD hielten an ihrem Gesetzentwurf fest. Die Große Koalition regelte neu, unter welchen Bedingungen Strafprozesse wieder aufgerollt werden könnten, nämlich, wenn "neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes, Völkermordes, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechens gegen eine Person verurteilt wird.“
    Ob das noch mit dem Doppelbestrafungsverbot vereinbar ist – darüber streiten Juristen und Politiker seitdem. Nun liegt die Sache in Karlsruhe, beim Bundesverfassungsgericht: Die mündliche Verhandlung fand am 24. Mai 2023 statt. Das Urteil steht noch aus.

    Welche verfassungsgemäßen Bedenken dagegen gibt es?

    Der Rostocker Rechtsprofessor Björn Schiffbauer sagt, in einem Rechtsstaat müsse man sich als Mensch darauf verlassen können, "dass der Staat einen in Ruhe lässt, wenn er einen schon strafrechtlich verfolgt hat“. Und "strafrechtlich verfolgt" bedeutet auch, dass der Grundsatz "ne bis in idem", "nicht zweimal in derselben Sache", auch dann gilt, wenn jemand in einem Verfahren bereits freigesprochen wurde, so Schiffbauer. "Der Freispruch besagt nämlich – amtlich –, der Staat hatte hier einen Verdacht, mich wegen einer Straftat zu verfolgen, konnte mir aber nicht nachweisen, dass ich diese Straftat auch tatsächlich begangen habe. Und auch damit soll Rechtsfrieden einkehren. Also, wenn der Staat einmal einen Vorwurf erhoben hat, dann muss es mit dem gerichtlichen Urteil damit auch sein Bewenden haben."
    Schiffbauer kritisiert auch den Namen des von der Großen Koalition beschlossenen "Gesetzes zur Wiederherstellung der materiellen Gerechtigkeit“. Gerechtigkeit ist sei ein schönes Wort. „Nur, sie trägt auch in sich, dass jede einzelne Person ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hat. Und das macht das Ganze sehr subjektiv. Und subjektive Ausnahmen zu einem objektiven Verfassungsgrundsatz lassen sich nicht in die Waagschale werfen. Das gibt von vorneherein eine Schieflage. Und das ist mein persönliches Problem mit der Begründung 'aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit' muss es jetzt eine weitere Ausnahme zu dem Grundsatz ne bis in idem geben.“
    Auch der Bundespräsident zögerte zunächst, das neue Gesetz auszufertigen. Letztlich unterzeichnete er es dann im Dezember 2021 doch. Frank-Walter Steinmeier übersandte dem Bundestag ein Schreiben, in dem er eindringlich an die Abgeordneten appellierte, "das Gesetz einer erneuten parlamentarischen Prüfung und Beratung zu unterziehen".

    Was sagen Befürworter des Gesetzes?

    Der SPD-Bundestabgeordnete Johannes Fechner, selbst Jurist, sagte 2021 im Parlament zur Begründung des Gesetzes: „Warum machen wir das? Es ist, wie ich finde, schreiendes Unrecht, wenn einem Mörder seine Tat nachgewiesen werden kann, er aber nicht verurteilt werden kann, weil er zuvor freigesprochen worden ist. Das können wir nicht hinnehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Wenn es bestimmte Straftaten gibt, die nicht verjähren – wie eben Mord – so zeige das doch schon eine Wertung des Gesetzgebers, dass ein Mörder immer damit rechnen müsse, wegen dieser schwersten Straftat doch noch bestraft zu werden, argumentierte der SPD-Politiker damals: „Von dieser Wertung ausgehend, muss deshalb eine Verurteilung möglich sein, wenn ein Täter freigesprochen wurde, dann aber nach dem Freispruch durch neue Beweismittel oder durch eine neue Auswertungsmöglichkeit früherer Beweismittel der Tatnachweis erbracht wird. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.“
    Johannes Fechner (SPD) spricht im Bundestag
    Bundestagsabgeordneter Johannes Fechner (SPD) (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Kira Hofmann)
    Marco Luczak, damaliger rechtspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, sagte, bei der Abwägung habe man es sich nicht leichtgemacht: „Die Rechtskraft von Urteilen ist ein hohes Gut. Nicht zuletzt ist der Grundsatz in Artikel 103 Absatz 3 unserer Verfassung, dass niemand wegen einer Tat zweimal bestraft werden kann, mit Verfassungsrang ausgestattet. Das ist ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips. Aber zum Rechtsstaatsprinzip gehören auch die materielle Gerechtigkeit und der Rechtsfrieden. Da muss man schon fragen: Ist es wirklich ein Sieg des Rechtsstaats, wenn ein mutmaßlicher Mörder auf freiem Fuß bleibt? Ich glaube, nein. Das Festhalten an einem falschen Urteil kann niemals für Rechtsfrieden sorgen, wenn es sich um solch exzeptionelles Unrecht wie Mord oder Völkermord handelt.“

    Warum verhandelt das Bundesverfassungsgericht über das Gesetz?

    Wenige Monate nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes kam der damalige Tatverdächtige im Mordfall Frederike von Möhlmann, Ismet H., wieder in Untersuchungshaft. Aber nur vorübergehend, denn er legte mit seinen Anwälten Verfassungsbeschwerde ein. Karlsruhe setzte den Haftbefehl unter Auflagen aus.
    Nun muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob die Einleitung eines Wiederaufnahmeverfahrens rechtmäßig war. Und dabei geht es nicht nur um den Fall Frederike von Möhlmann, sondern um die grundsätzliche Frage, ob das neue Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

    Peggy Fiebig, tei