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Doppelte Ehre

Jeder große deutsche Klassiker - ob Goethe, Schiller, Lessing – hat es dazu gebracht, sein Leben und Werk in einer eigenen literarischen Gesellschaft gewürdigt zu finden. Dem in Frankfurt an der Oder geborenen Dichter Heinrich von Kleist wurde diese Ehre gleich zweimal zuteil, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg: Zunächst im Jahr 1920 – heute, am 4. März, vor genau 85 Jahren wurde die erste deutsche Kleist-Gesellschaft gegründet.

Von Joachim Scholl | 04.03.2005
    In meiner Lektüre glaube ich ein Zentrum gefunden zu haben, um das das Kleist‘ sche Werk - und zwar mit gleichbleibender Intensität – kreist: um das Zerbrochene nämlich, das Inkohärente, um das Unaufgelöste und Unauflösliche, um das Schiefe...

    Im Jahr 2000 erhielt die jüdische Schriftstellerin Barbara Honigmann den Kleist-Preis, verliehen von der Heinrich von Kleist-Gesellschaft, im Berliner Deutschen Theater. Wenige Kilometer von hier hatten sich achtzig Jahre zuvor ebenfalls zahlreiche Verehrer des Dichters eingefunden, um im Sitzungssaal der Preußischen Staatsbibliothek am 4. März 1920 die deutsche Kleist-Gesellschaft zu gründen. Barbara Honigmanns analytische Worte vom Wesen Kleists hätten in diesem Kreis wohl für erheblichen Protest gesorgt. Von den psychologischen Zerrissenheiten seines Werkes war nicht die Rede, es herrschte ein ganz anderer Geist. Der Germanist Georg Minde-Pouet, Kleist-Herausgeber und einer der beiden ersten Vorsitzenden der Gesellschaft, machte in seiner Ansprache zur Gründungs-versammlung deutlich, welchen Kleist man im Sinn hatte:

    Gerade heute müssen wir uns auf die Männer besinnen, die bekannt haben, dass nur nationale Kunst urkräftig ist. Als Kleist sah, dass das Glück für den einzelnen nur im Heil der Gesamtheit ruht, vollzog sich in ihm die große Wandlung, die den bis dahin lediglich der Ausbildung des einzelnen Menschen Zustrebenden, den ästhetischen Höhenwanderer und kosmopolitischen Dichter, umformte zum rückhaltlosen Dichter des Vaterlandes, zur freudigen Unterordnung unter die Idee des Staates, zur Selbstbezwingung.

    Die Gründung der Kleist-Gesellschaft war ein bewusst nationalkonservativer Akt, den zwei Jahre nach der deutschen Niederlage etliche literarische Gesellschaften ähnlich vollzogen. Gewissermaßen trotzig suchte man im Andenken an die Dichter nach einer neuen deutschen Identität. Und gerade Kleist schien einer solchen verengten Optik glänzende Perspektiven zu bieten. Weg von der "Penthesilea" hin zur "Hermannsschlacht" und zum "Prinz von Homburg", den schon im 19. Jahrhundert der Historiker Treitschke als "schönstes Werk deutscher Soldatendichtung" feierte - mit dem ‚nationalen‘ Kleist ließ sich Balsam auf die gedemütigte deutsche Seele träufeln. In Paragraph 2 der Satzung der Kleist-Gesellschaft wurde diese Ideologie festgeschrieben:

    Die Gesellschaft bezweckt, die Erinnerung an den Dichter im deutschen Volke lebendig zu erhalten und das Verständnis für sein Werk wie für seine Persönlichkeit, insbesondere die durch ihn beflügelte vaterländische Gesinnung auf jede Weise zu fördern.

    Viele namhafte Persönlichkeiten wurden zu Mitgliedern: der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch, Hugo von Hofmannsthal, Max Liebermann, Reichsminister Walter Rathenau. 20 Mark betrug der Jahresbeitrag, der erste Kassenbericht verzeichnet penibel die Kosten der Gründungssitzung: 882 Mark, 25 Pfennige. Sitz der Gesellschaft war Kleists Heimatstadt Frankfurt an der Oder. Es folgten mehr als zehn Jahre durchaus verdienstvoller wissenschaftlich-bibliographischer Arbeit. Nach der Gleichschaltung aller literarischer Gesellschaften 1933 sah man die Kleistforscher jedoch erneut an vorderster nationaler Front. Schon ein Jahr später erklärte der zweite Vorsitzende der Kleist-Gesellschaft, Julius Petersen, Goethe und Schiller zu den "ersten Nationalsozialisten". Und am 28. November 1937 fand man sich zur Jahrestagung mit der Hitler-Jugend zusammen. Ein gewisser Werner Kuhnt, Gebietsführer HJ der Kurmark Frankfurt/Oder, durfte markig verkünden:

    Unbändig stolz erkennen wir die Größe unserer Zeit daran, dass die Einsamen der deutschen Vergangenheit heute nicht mehr verlassen sind, sondern dass sie uns durch ihr großes Leben die Pflicht auferlegen, durch eine große Tat ihrer Sehnsucht Erfüllung zu schaffen. Wir können und wir wollen es. Denn ihre Sehnsucht ist unsere Sehnsucht heute. Wir fassen sie in Worte, wenn wir vom heiligen deutschen Reich sprechen. Diesem Reich Soldat zu sein, bemühen wir uns als Hitlerjungen. Du, Heinrich von Kleist, bist diesem Reich ein untadeliger Offizier gewesen. Darum ist dein Wort uns heute Befehl

    Nach dem Krieg erlosch die Gesellschaft. 1960 wurde sie - in betonter Abgrenzung zur unseligen nationalistischen Tradition - als Heinrich von Kleist-Gesellschaft wiedergegründet. Heute ist sie eine international anerkannte Institution philologischer Forschung. Seit 1985 verleiht die Vereinigung alljährlich den Kleist-Preis, inzwischen gilt er in Deutschland als renommierteste literarische Auszeichnung nach dem Büchner-Preis.