Mit Raoul Mörchen, guten Morgen und herzlich willkommen. In den nächsten zwanzig Minuten heißt es Abschied nehmen: Abschied vom Komponisten Franz Schubert und Abschied von zwei verdienten Interpreten. Es geht um eine Aufnahme des sogenannten Quartettsatzes, eines Fragment gebliebenen Streichquartetts von 1820, vor allem aber geht es um Schuberts spätes Streichquintett vom Herbst 1828. Die beiden Werke eingespielt für das Label Harmonia Mundi von einem der ältesten noch bestehenden Ensembles seiner Art, dem Tokyo String Quartet.
Schubert, 1. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
So klingt der Anfang vom Ende. Das Ende gleich zweier Geschichten. Das Ende von Franz Schubert zum einen. Denn die verstörende Eröffnung seines einzigen Quintetts für Streicher, dieses wankende Hin und Her zwischen Apathie und Lebenskraft, zwischen Trauer und Trost, leitet eines der letzten großen Werke ein, das der Komponist vollenden kann. Anfang Oktober 1828 bietet er es zusammen mit anderen Manuskripten einem Verleger in Leipzig an: "Ich habe", schreibt Schubert, "unter anderem drei Sonaten fürs Pianoforte allein komponiert, mehrere Lieder von Heine gesetzt und endlich ein Quintett für 2 Violinen, 1 Viola und 2 Violoncelli verfertigt. Wenn Ihnen vielleicht etwas von diesen Compositionen konveniert, so lassen Sie es wissen." Im folgenden Monat erliegt der Verfasser der Syphilis. Veröffentlicht wird das Quintett erst 25 Jahre später. Seinen wirklichen Wert zu entdecken, ist – wie so oft im Schuberts Fall – zukünftigen Generationen vorbehalten.
Schubert, 1. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Mit seinem Streichquintett nimmt Franz Schubert, wohl ohne es zu ahnen, Abschied von der Kammermusik. Diesen Abschied nehmen, auf ganz andere Weise, nun auch zwei Musiker, die seit mehreren Jahrzehnten zu den großen ihres Fachs zählen: der Geiger Kikuei Ikeda und der Bratscher Kazuhide Isomura vom Tokyo String Quartet. Beide haben kurz vor dem Erscheinen der neuen CD ihren Rückzug vom Ensemble verkündet. Ikeda gehört zu den Gründungsmitgliedern des seit 1969 bestehenden Quartetts, Isomura ist seit 1974 dabei. Der Abschied wird allerdings nicht übers Knie gebrochen. Bis zum Sommer 2013 wollen die beiden Japaner noch mitmischen. Ihrer Schubert-CD werden vermutlich also weitere Veröffentlichungen folgen in der vertrauten Besetzung. Sie wäre aber auch allein ein hervorragendes Finale – der Wahl der Werke wegen und der unverminderten Überzeugungskraft ihrer Interpreten.
Schubert, 3. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Beethoven hatte das Feld vorbereitet, Schubert nachgelegt: Beide haben etwa in der Mitte ihres Schaffens die Kammermusik aus der Kammer befreit und auf die Bühne gestellt. Kammermusik war bis dato fast ausnahmslos Hausmusik, geschrieben nicht für ein Publikum, sondern für die, die sie spielen: für Laien in der Mehrzahl, die sich zum eigenen Vergnügen im kleinen Kreis versammelten, um neue Musik kennenzulernen, um ihre oft beträchtlichen Fertigkeiten zu vertiefen oder um einfach einen kurzweiligen Abend zu verbringen. Was Schubert nun aber in seinem Quintett verlangt, hat die meisten Amateure damals geflissentlich überfordert, ebenso wie es bereits die vier Jahre zuvor entstandenen letzten Quartette getan haben. In einem geschichtlich nicht aufzuhaltenden Prozess emanzipiert sich die beste, mutigste Musik dieser Zeit von alten Konventionen, will sich nicht mehr begnügend mit Kompromissen. So fordert sie von ihren Interpreten höchste Professionalität und von ihren Zuhörern ebensolche Konzentration. In der heimischen Wohnstube ist für solche Ansprüche kein Platz mehr. Schuberts Quintett ist Musik für den Konzertsaal, künstlerisch erwachsen in allen Belangen.
Schubert, 2. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Schuberts letzte Werke sind von der posthumen Kritik und Wissenschaft oft als Vorboten des nahenden Todes gedeutet worden. Einiges spricht für, vieles gegen diese These, biografisch, aber auch musikalisch: Etwa die Wahl des hellen, ungetrübten C-Dur als Grundtonart für das Quintett. Oder des auf Streichinstrumenten noch heller klingenden E-Dur für dessen zweiten Satz, ein Adagio, das aller Sorgen entrückt zu sein scheint. In der Aufnahme des Tokyo String Quartets mit dem zweiten Cellisten David Watkin wagt man an dieser Stelle kaum zu atmen, so sacht und ruhig strömt diese Musik.
Schubert, 2. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Die Idylle währt nicht ewig: die plötzlich Erregung, die das Adagio in seiner Mitte erfährt, die emotionale Aufladung, ist ein typischer, skeptischer Kommentar des Romantikers Schubert auf himmlische Träumereien – für einen solchen Umschwung bedurfte es keiner Todesahnung. Auch die verstörende Ambivalenz des gesamten Quintetts ist für ihn nicht ungewöhnlich. Selten allerdings hat Schubert sie so zugespitzt wie hier: Schon der Beginn des Quintetts spielt mit Täuschung und Enttäuschung und falschen Erwartungen. Was wie ein Vorspiel klingt, ist bereits der Anfang, auf Stimmungen, Tonarten und Tempi ist kein Verlass. Regeln der Harmonik werden allerorts gebrochen durch sogenannte Rückungen, durch Veränderungen der Tonarten ohne nachvollziehbare Modulationen, ohne Vorwarnung und Zusammenhang. Auch formal ist dieses Quintett voller Brüche: So überrascht Schubert im Mittelteil des Scherzos, dem Trio, mit einer plötzlichen Drosselung der Bewegung: die ausgelassene Stimmung und der tänzerische Schwung sind mit einem mal dahin.
Schubert, 3. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Was Schubert umtreibt in seinem großen Quintett, dieses so genau kalkulierte Schwanken zwischen Euphorie und Starre, zwischen Ruhe und Hast, zwischen Erwartung und Enttäuschung, man kann es nacherleben und in seiner Dramaturgie verstehen in der Interpretation des Tokyo String Quartet und des verstärkenden Cellisten David Watkin. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, und es wirkt als solches umso aufregender und anregender, als das Ensemble die Beleuchtungswerte zwischen Licht und Schatten sehr genau zu dosieren versteht. Schuberts Ambivalenz, in der sich die Verunsicherung eines ganzen Zeitalters spiegelt, braucht keine Brechstange, sondern Erfahrung und Verantwortung.
Technisch ist beim Tokyo String Quartet selbst im fortgeschrittenen Alter noch alles im grünen Bereich, auch klanglich: Schuberts kompositorische Dreiteilung des Ensembles in zwei Duos und einen grundierenden Bass, eine der wesentlichen Herausforderungen dieses Werks an seine Interpreten, sie wird deutlich herausgearbeitet, ohne dass dabei der Gesamtklang zerreißt und die Totale verloren geht.
Wie gesagt: es ist ein großer Abschied, der hier eingeleitet wird: Wenn Kikuei Ikeda und Kazuhide Isomura das Quartet im Sommer 2013 verlassen, wird die Lücke nicht einfach zu schließen sein.
Schubert, 4. Satz (Schluss) aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Das war der Schluss vom vierten und letzten Satz des Streichquintetts in C-Dur von Franz Schubert, gemeinsam mit dem sogenannten Quartettsatz eingespielt vom Tokyo String Quartet und dem Cellisten David Watkin. Die neue Platte ist erschienen beim Label Harmonia Mundi und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
Franz Schubert: Streichquintett C-Dur, D956; Quartettsatz c-Moll D703
Interpret: Tokyo String Quartett, David Watkin, Violoncello
Label: Harmonia Mundi
HMU 807247 LC 7045
EAN 093046742768
Schubert, 1. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
So klingt der Anfang vom Ende. Das Ende gleich zweier Geschichten. Das Ende von Franz Schubert zum einen. Denn die verstörende Eröffnung seines einzigen Quintetts für Streicher, dieses wankende Hin und Her zwischen Apathie und Lebenskraft, zwischen Trauer und Trost, leitet eines der letzten großen Werke ein, das der Komponist vollenden kann. Anfang Oktober 1828 bietet er es zusammen mit anderen Manuskripten einem Verleger in Leipzig an: "Ich habe", schreibt Schubert, "unter anderem drei Sonaten fürs Pianoforte allein komponiert, mehrere Lieder von Heine gesetzt und endlich ein Quintett für 2 Violinen, 1 Viola und 2 Violoncelli verfertigt. Wenn Ihnen vielleicht etwas von diesen Compositionen konveniert, so lassen Sie es wissen." Im folgenden Monat erliegt der Verfasser der Syphilis. Veröffentlicht wird das Quintett erst 25 Jahre später. Seinen wirklichen Wert zu entdecken, ist – wie so oft im Schuberts Fall – zukünftigen Generationen vorbehalten.
Schubert, 1. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Mit seinem Streichquintett nimmt Franz Schubert, wohl ohne es zu ahnen, Abschied von der Kammermusik. Diesen Abschied nehmen, auf ganz andere Weise, nun auch zwei Musiker, die seit mehreren Jahrzehnten zu den großen ihres Fachs zählen: der Geiger Kikuei Ikeda und der Bratscher Kazuhide Isomura vom Tokyo String Quartet. Beide haben kurz vor dem Erscheinen der neuen CD ihren Rückzug vom Ensemble verkündet. Ikeda gehört zu den Gründungsmitgliedern des seit 1969 bestehenden Quartetts, Isomura ist seit 1974 dabei. Der Abschied wird allerdings nicht übers Knie gebrochen. Bis zum Sommer 2013 wollen die beiden Japaner noch mitmischen. Ihrer Schubert-CD werden vermutlich also weitere Veröffentlichungen folgen in der vertrauten Besetzung. Sie wäre aber auch allein ein hervorragendes Finale – der Wahl der Werke wegen und der unverminderten Überzeugungskraft ihrer Interpreten.
Schubert, 3. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Beethoven hatte das Feld vorbereitet, Schubert nachgelegt: Beide haben etwa in der Mitte ihres Schaffens die Kammermusik aus der Kammer befreit und auf die Bühne gestellt. Kammermusik war bis dato fast ausnahmslos Hausmusik, geschrieben nicht für ein Publikum, sondern für die, die sie spielen: für Laien in der Mehrzahl, die sich zum eigenen Vergnügen im kleinen Kreis versammelten, um neue Musik kennenzulernen, um ihre oft beträchtlichen Fertigkeiten zu vertiefen oder um einfach einen kurzweiligen Abend zu verbringen. Was Schubert nun aber in seinem Quintett verlangt, hat die meisten Amateure damals geflissentlich überfordert, ebenso wie es bereits die vier Jahre zuvor entstandenen letzten Quartette getan haben. In einem geschichtlich nicht aufzuhaltenden Prozess emanzipiert sich die beste, mutigste Musik dieser Zeit von alten Konventionen, will sich nicht mehr begnügend mit Kompromissen. So fordert sie von ihren Interpreten höchste Professionalität und von ihren Zuhörern ebensolche Konzentration. In der heimischen Wohnstube ist für solche Ansprüche kein Platz mehr. Schuberts Quintett ist Musik für den Konzertsaal, künstlerisch erwachsen in allen Belangen.
Schubert, 2. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Schuberts letzte Werke sind von der posthumen Kritik und Wissenschaft oft als Vorboten des nahenden Todes gedeutet worden. Einiges spricht für, vieles gegen diese These, biografisch, aber auch musikalisch: Etwa die Wahl des hellen, ungetrübten C-Dur als Grundtonart für das Quintett. Oder des auf Streichinstrumenten noch heller klingenden E-Dur für dessen zweiten Satz, ein Adagio, das aller Sorgen entrückt zu sein scheint. In der Aufnahme des Tokyo String Quartets mit dem zweiten Cellisten David Watkin wagt man an dieser Stelle kaum zu atmen, so sacht und ruhig strömt diese Musik.
Schubert, 2. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Die Idylle währt nicht ewig: die plötzlich Erregung, die das Adagio in seiner Mitte erfährt, die emotionale Aufladung, ist ein typischer, skeptischer Kommentar des Romantikers Schubert auf himmlische Träumereien – für einen solchen Umschwung bedurfte es keiner Todesahnung. Auch die verstörende Ambivalenz des gesamten Quintetts ist für ihn nicht ungewöhnlich. Selten allerdings hat Schubert sie so zugespitzt wie hier: Schon der Beginn des Quintetts spielt mit Täuschung und Enttäuschung und falschen Erwartungen. Was wie ein Vorspiel klingt, ist bereits der Anfang, auf Stimmungen, Tonarten und Tempi ist kein Verlass. Regeln der Harmonik werden allerorts gebrochen durch sogenannte Rückungen, durch Veränderungen der Tonarten ohne nachvollziehbare Modulationen, ohne Vorwarnung und Zusammenhang. Auch formal ist dieses Quintett voller Brüche: So überrascht Schubert im Mittelteil des Scherzos, dem Trio, mit einer plötzlichen Drosselung der Bewegung: die ausgelassene Stimmung und der tänzerische Schwung sind mit einem mal dahin.
Schubert, 3. Satz aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Was Schubert umtreibt in seinem großen Quintett, dieses so genau kalkulierte Schwanken zwischen Euphorie und Starre, zwischen Ruhe und Hast, zwischen Erwartung und Enttäuschung, man kann es nacherleben und in seiner Dramaturgie verstehen in der Interpretation des Tokyo String Quartet und des verstärkenden Cellisten David Watkin. Es ist ein Wechselbad der Gefühle, und es wirkt als solches umso aufregender und anregender, als das Ensemble die Beleuchtungswerte zwischen Licht und Schatten sehr genau zu dosieren versteht. Schuberts Ambivalenz, in der sich die Verunsicherung eines ganzen Zeitalters spiegelt, braucht keine Brechstange, sondern Erfahrung und Verantwortung.
Technisch ist beim Tokyo String Quartet selbst im fortgeschrittenen Alter noch alles im grünen Bereich, auch klanglich: Schuberts kompositorische Dreiteilung des Ensembles in zwei Duos und einen grundierenden Bass, eine der wesentlichen Herausforderungen dieses Werks an seine Interpreten, sie wird deutlich herausgearbeitet, ohne dass dabei der Gesamtklang zerreißt und die Totale verloren geht.
Wie gesagt: es ist ein großer Abschied, der hier eingeleitet wird: Wenn Kikuei Ikeda und Kazuhide Isomura das Quartet im Sommer 2013 verlassen, wird die Lücke nicht einfach zu schließen sein.
Schubert, 4. Satz (Schluss) aus: Streichquintett C-Dur, D 956
Das war der Schluss vom vierten und letzten Satz des Streichquintetts in C-Dur von Franz Schubert, gemeinsam mit dem sogenannten Quartettsatz eingespielt vom Tokyo String Quartet und dem Cellisten David Watkin. Die neue Platte ist erschienen beim Label Harmonia Mundi und wurde Ihnen vorgestellt von Raoul Mörchen.
Franz Schubert: Streichquintett C-Dur, D956; Quartettsatz c-Moll D703
Interpret: Tokyo String Quartett, David Watkin, Violoncello
Label: Harmonia Mundi
HMU 807247 LC 7045
EAN 093046742768