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Doppelter Saisonauftakt am Schauspiel Leipzig

Arnolt Bronnens Stück "Recht auf Jugend" ist das selten gespielte Erstlingswerk des expressionistischen Dramatikers. Das "Dramatische Gedicht" Peer Gynt von Henrik Ibsen gilt als ein "heiß-kaltes" Stück, eine Mischung aus Kolportage, Abenteuerroman und Gesellschaftssatire. Beide Premieren waren in Leipzig zu sehen.

    "Vom Ich zum Wir ... und Zurück", so lautet das Motto der neuen Spielzeit am Schauspiel Leipzig. Die Suche nach dem eigenen Selbst und nach einer individuellen, aber auch nach einer kollektiven Identität bestimmt auch die Hauptfiguren der ersten beiden Premieren. Henrik Ibsens "Peer Gynt" lebt in der Inszenierung des Intendanten Wolfgang Engel in einer Art Obdachlosenheim oder Nachtasyl.

    Bühnenbildner Andreas Jander hat zwei lange Reihen einfacher Stahlrohrbetten vor eine diagonale Wand gestellt, in deren Podesten hoch oben Madonnenfiguren stehen, darüber führen Luken nach draußen. Ein Bühnenbild von beeindruckender, prägender Kraft. Hier spielt ein Geiger den Gestrandeten ihre Sehnsuchtsmelodien auf. Wer aus diesem Elend hinaus will, braucht viel Kraft oder viel Phantasie. Der kraftvolle Schauspieler Aurel Manthei gibt seinem Peer Gynt beides: der kommt mutwillig und aufbrausend, trotzig bis ungerecht daher und will mit aller Energie seinen Weg machen und sich selbst verwirklichen.

    Peer rennt mit dem Kopf gegen die Wand, tritt die Tür zu Ingrid, der Braut des anderen ein und flieht mit ihr, indem er die Wand hoch und durch eine Luke hinaus klettert. Doch sofort ist er wieder im Obdachlosenheim: wohin Peer auch flieht, er bleibt in dem Elend der Welt. Aus dem er entweder in eine Traumwelt flüchtet (so verzerren sich ihm die anderen Heimbewohner im Suff zu Trollen), oder in der er sich seine eigene Welt schafft. Für Solveig, die mit ihren Eltern und den blau-rot gestreiften großen Tragetaschen osteuropäischer Auswanderer kommt, konstruiert er sich über zwei der Betten im Heim ein Zelt. Das ist ihm die Hütte in den Bergen, in der Solveig ein Leben lang auf Peer warten muss.

    Wolfgang Engel kann mit diesem Bühnenbild auf äußerliche Figurenaktualisierungen verzichten. Sein ungemein starkes, in jeder Rolle triftig besetztes Ensemble spielt die alte Geschichte, und der Zuschauer denkt an heute. Wobei die gespielte Stückfassung von Peter Stein und Botho Strauß intelligent mit reimenden Passagen aus Christian Morgensterns Übertragung durchsetzt ist. Im zweiten Teil, wenn Peer in den Westen gegangen ist und ihn die Regeln der Profitgesellschaft zu einem harten global player gemacht haben, der immer noch eine Identität sucht, die seinem Ich wahre Bedeutung geben soll, sind die Bettreihen auf zwei Podesten auseinandergerückt. Dazwischen spielen im Sand die ein wenig folkloristisch behäbigen Szenen seiner Weltreisen: Beduinen tanzen, Vertreter der Kolonialmächte bieten Kabarettnummern, und die Rückkehr übers Meer mit einem Peer, der zum Überleben nach dem gelernten Haifischprinzip einen anderen Menschen aus dem Boot wirft, wirkt etwas aufdringlich poetisch existentiell inszeniert. In diesem zweiten Teil, in dem die Personen für ihre Auftritte wie Untote in den Betten bereit liegen, "funktionieren" Bühnenbild und Inszenierung nicht mehr so wie im starken und überzeugenden ersten Teil. Wunderbar intensiv und komisch sind zum Schluss aber dann die Szenen mit Armin Dillenbergers Knopfgießer, vor dem Peer vergeblich immer wieder in Identitätsfindungen durch andere zu flüchten sucht. Peer findet bei Wolfgang Engel nicht seine Ruhe im Schoß von Solveig, sondern beide sitzen nebeneinander und schauen in die, in ihre Welt.

    Die Welt des 17jährigen Hans Harder ist in Arnolt Bronnens "Recht auf Jugend" der Aufruhr. Tilman Gersch inszeniert in der Neuen Szene, der kleinen Spielstätte des Leipziger Schauspiels, eine kaum zweistündige, ungemein komprimierte Fassung des auf 200 Seiten ausufernden Textes, den der 17jährige Gymnasiast Arnolt Bronnen 1913 als Wut- und Wortgebilde aufgetürmt hat. Mordanschlag gegen den Lehrer, Ermordung eines Kameraden zur Schaffung eines Märtyrers, Schülerstreik und Scheitern vor dem Vater: bei Bronnen ist Empörung gegen Eltern und Autoritäten alles, und die Psychologie spielt keine Rolle. Die Potsdamer Uraufführung bot 1997 expressives Sprechtheater mit Erwachsenen als Negativklischees. In einer Zeit, in der laut Shell-Studie die Übereinstimmung zwischen Kindern und Eltern überwiegt, inszeniert man in Leipzig das Stück als heftig hilflose Suchbewegung von Jugendlichen, die nach dem eigenen Ich in Sexualität und gesellschaftlichen Verhaltensmustern suchen. Hans Harders Protest heiß "Ich denke nicht". Auf leerer glatter Spielfläche mit Bodenluken zeigen die vorzüglichen Darsteller kräftiges Körpertheater von intensiver Bildlichkeit.

    Wenn zu Beginn ein Vater seinen Sohn beim Essen mit Gewalt löffelweise abfüttert und anschließend die sechs Jugendlichen ihr "Schön ist die Jugend" singen, um dann schwere Steinbrocken über die Bühne zu tragen, so findet die Inszenierung gleich ein schönes Bild für die Probleme der Figuren und des Stückes.
    Alte Stücke, zeitgenössisch aktuell gespielt: mit Ibsen und Bronnen gelang dem Schauspiel Leipzig ein starker Spielzeitauftakt.