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Doppelter Utopieverlust

Die "Mauer in den Köpfen" ist eines der meistgebrauchten Bilder, wenn es um das Verhältnis zwischen Ost und West geht. Ein Bild, das eindeutig negativ besetzt ist. "Die Ostdeutschen sind anders – und das ist gut so" könnte hingegen als Motto für das neue Buch der Leipzigerin Jana Hensel herhalten.

Von Conrad Lay |
    Der Untertitel des neuen Buches der jungen ostdeutschen Schriftstellerin Jana Hensel hat es in sich. Recht provokativ heißt es da: "Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten". Das setzt drei Dinge voraus: dass es dieses ostdeutsche kollektive "Wir" gibt, dass die Ostdeutschen anders sind und drittens, dass das auch gut so sei. Die 1976 geborene und in Leipzig aufgewachsene Autorin fordert eine "Anerkennung der Differenz", wie sie etwa aus dem feministischen Diskurs bekannt ist. Jana Hensel folgert daraus, die Ostdeutschen sollten auf ihrer Unterschiedlichkeit bestehen, die sich aus ihren anderen geschichtlichen Erfahrungen ableitet, und zwar nicht nur bezogen auf die 40 Jahre DDR, sondern auch auf die vergangenen 20 Jahre der Nachwendezeit. Jana Hensel:

    "Der wirtschaftliche Zusammenbruch tritt ja mit einer gewissen Verzögerung erst nach der Währungsreform ein, oder ausgelöst durch die Währungsreform tritt der ökonomische Kollaps 1991/92 ein, und da macht der Osten kollektiv wie individuell, ich würde sagen: bis heute traumatische Erfahrungen, da findet der Bruch tatsächlich statt, da ist er verbunden mit dem konkreten Verlust des Arbeitsplatzes, aber auch mit einem tiefen Einschnitt in die Identität."
    In ihren Reportagen und Essays konzentriert sich die Autorin ganz auf die anderen geschichtlichen Erfahrungen der Ostdeutschen. Ob diese äußeren Bedingungen auch die inneren Wertvorstellungen prägen, bleibt in dem Buch weithin offen. Erläuternd fügt Jana Hensel im Gespräch hinzu:

    "Natürlich haben Sie in Landstrichen mit Arbeitslosigkeit von 20 Prozent und mehr eine andere Vorstellung von den Aufgaben, die der Staat zu übernehmen hätte als in Räumen wie Baden-Württemberg oder Bayern, wo die Arbeitslosigkeit doch sehr viel geringer ist. Da glaubt man an die Mechanismen und Selbstregulierungskräfte des Marktes. Wenn Sie aber eigentlich keinen funktionierenden Markt mehr haben, wie sollen Sie an den glauben? Und insofern sind die Unterschiedlichkeit in den harten Zahlen und Fakten der Beleg für die Andersartigkeit im Wertesystem, aber natürlich gleichzeitig der ausschlaggebende Punkt für die Andersartigkeit im Wertesystem."
    Die ostdeutsche Nachwendegeschichte versteht die Autorin als Geschichte der Anpassung an westdeutsche Normen. Im Unterschied zur Auseinandersetzung der 68-er mit ihren Eltern sei 40 Jahre später die Kritik der jungen ostdeutschen Generation an ihren Eltern zum Allgemeingut, ja zur Staatsräson geworden. Für eine jugendliche Rebellion boten diese Eltern keinen Anlass, sie waren von den Brüchen der Nachwendezeit gebeutelt, verloren ihre Arbeit und mussten sich auf die vom Westen vorgegebenen Normen einstellen. Jana Hensel:

    "Das Verhältnis der Generationen ist ein grundsätzlich anderes, und es liegt schlichtweg daran, dass 1989, diese umfassende Zäsur, für Eltern wie Kinder ein Neuanfang bedeutete. Für die älteren Generationen war es ein Neuanfang zur Hälfte des Lebens, das heißt ich war als Vierzehnjährige, Dreizehnjährige im Grunde in der gleichen Situation wie meine Eltern, nur hatten die schon die Hälfte ihres Lebens hinter sich gebracht. Es gab kaum einen Erfahrungsschatz, es gab kaum Erfahrungen, die sie mir vermitteln konnten, von denen ich das Gefühl gehabt hätte, sie taugten für mich."
    Die ostdeutschen Eltern waren für ihre Kinder - glaubt man Jana Hensel - "ein ohnehin am Boden liegender Gegner". So kommt es zu einer folgenschweren Umkehrung: Lediglich die Verteidigung der Eltern kann in einer solchen Situation als Rebellion erscheinen, der Osten entwickelt sich zu einer verschworenen Gemeinschaft.

    "Ich glaube, dass wir schon einen sehr schonenden Blick auf die Eltern haben, es gibt keine kritische Auseinandersetzung meiner Generation mit den Biografien, mit den Verstrickungen der älteren Generation in die Diktatur, und warum das so ist, das sind für mich spannende Fragen."
    Jana Hensel tritt sehr deutlich dafür ein, den Verlierern der Wende eine Stimme zu geben. Energisch wendet sie sich dagegen, die 40 Jahre DDR auf den Aufstand des 17. Juni 1953 und den Herbst 1989 zu reduzieren, als ob die Ostdeutschen sonst keine Erfahrungen gemacht hätten, auch nicht in der Nachwendezeit, man denke etwa an die Proteste gegen die Abwicklung der DDR-Betriebe. Mit Blick auf die Kalikumpel von Bischofferode schreibt sie, noch immer seien die Demonstrationen der Nachwendezeit nicht als eine tragende Säule der ostdeutschen Identität anerkannt, obwohl sie doch zu dieser maßgeblich beigetragen hätten. Die junge Berliner Schriftstellerin sieht für die Ostdeutschen seit 1989 einen enormen Utopieverlust. Im Grunde handelt es sich um einen doppelten Verlust: Nicht nur, dass die Utopie der DDR, das "bessere Deutschland" zu repräsentieren, ad acta gelegt ist, sondern seitdem tauge auch der Westen als Ort der Sehnsucht nicht mehr. Jana Hensel:

    "Man hat sich immer in das Andere gesehnt. In der Sehnsucht nach dem Westen, dem Nie-Erreichbaren, konnte man gewisse Dinge katalysieren, aber natürlich auch formulieren, weil man zwei Systeme hatte, die man miteinander vergleichen konnte. Es ist eine völlig andere Situation, wenn sie sich dann nach dem Mauerfall nur mehr in einem System wiederfinden und keine Wahlmöglichkeiten mehr haben und keine Ausstiegsfantasien produzieren können, sondern sich mit den Gegebenheiten, wie sie nun mal sind, sich abfinden oder diese gestalten müssen."
    Kritisch sieht Jana Hensel die - wie sie schreibt - "formelhafte, kanonisierte" Erinnerung an die Wiedervereinigung: Danach wird der eine Protest, der Herbst 1989, musealisiert, alle andere Proteste dagegen werden weggeschoben. Ihr Buch ist eine Aufforderung, die Geschichte der deutschen Einheit nicht als verstaubten Kanon zu sehen, der in Sonntagsreden heruntergebetet wird. Auch die Verlierer der Wende, ob in Bischofferode oder anderswo, haben einen Anspruch auf Erinnerung. Die Herstellung der inneren Einheit ist weiterhin eine aktuelle Aufgabe, viele Wunden sind noch nicht vernarbt - dass eine junge Stimme aus dem Osten Deutschlands darauf aufmerksam macht, stimmt zuversichtlich.

    Conrad Lay über Jana Hensel: "Achtung Zone. Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten". Das 192 Seiten starke Buch kommt aus dem Piper Verlag und kostet 14 Euro und 95 Cent (ISBN-10: 3492053653).