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Doppelvergabe von Olympia 2024 und 2028
"Eine historische Chance, sich für Zugeständnisse einzusetzen"

Die Olympischen Spiele 2024 und 2028 sollen - geht es nach der IOC-Exekutive - im September gleichzeitig vergeben werden. Nach Ansicht des amerikanischen Politikwissenschaftlers Jules Boykoff ist dieses Verfahren für den Ausrichter von 2028 eine große Chance: Dann hätte die Olympiastadt mehr Möglichkeiten mitzubestimmen - und eine Art Hebel gegenüber dem IOC.

Jules Boykoff im Gespräch mit Marina Schweizer | 10.06.2017
    Läufer beim LA-Marathon werben für die Olympische Spiele 2024 in ihrer Stadt.
    Läufer beim LA-Marathon werben für die Olympische Spiele 2024 in ihrer Stadt. (imago sportfotodienst)
    Marina Schweizer: Herr Boykoff, zeigt diese Entscheidung, wie händeringend das IOC für gute Nachrichten kämpft?
    Jules Boykoff: Darüber gibt es keinen Zweifel. Das IOC ist seit einiger Zeit mitten in einer zeitlupenartigen Krise. Die Entscheidung, die Spiele 2024 und 2028 gleichzeitig zu vergeben, ist eine kurzzeitige Reparaturmaßnahme, weil es zwei ziemlich starke Bewerber für diese Spiele gibt. Aber ob das wirklich die Langzeit-Probleme angeht, ist eine andere Frage.
    Schweizer: Würden Sie diese Entscheidung als eine Art Paradigmenwechsel einschätzen?
    Boykoff: Das muss sich noch zeigen – aber es könnte gut einer werden. Es könnte einer für Städte sein, auf dem Weg zu einem Hebel gegenüber dem IOC. Typischerweise ist es ja so: Das IOC sagt, was in einer Olympiastadt passieren wird und sie haben die Hebel. Wohingegen jetzt, wenn – davon gehen ja viele Menschen aus – LA zustimmt, erst die Spiele 2028 zu nehmen, werden sie plötzlich Hebel in der Hand haben. Wenn sie dem IOC diesen Gefallen tun. Dann ist natürlich die Frage: Was macht das IOC denn für sie?
    Schweizer: Also Sie denken, die Menschen in den potenziellen Gastgeberstädten sollten eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen und in die Richtung denken: Das IOC braucht diese Städte. Also, wenn eine Stadt da jetzt die Zweitgesetzte ist – wie könnten die Bürger da etwas verlangen?
    Boykoff: Absolut. Ich glaube, wenn die Menschen in LA an den richtigen Stellen Druck machen, dann könnten sie alle möglichen Arten von Bonbons bekommen, die sie sonst nie hätten bekommen können. Während normaler Bewerbungszeiten.
    Lassen Sie uns mal einen Schritt zurückgehen und das große Ganze betrachten: Aktivisten in Städten auf der ganzen Welt haben die olympischen Spiele ernsthaft in Frage gestellt – von Hamburg über Boston über Toronto und Budapest – wo auch immer – es hat eine beträchtliche Anzahl an Protestgruppen gegeben, die einen großen Einfluss auf unsere heutige Diskussion über Olympische Spiele gehabt haben. Und das ist jetzt wieder einer dieser Momente, in dem Protestgruppen einen großen Einfluss darauf haben könnten, wie es mit den Spielen weitergeht. Das wird ziemlich sicher in LA passieren. Wie können Protestgruppen Druck auf Offizielle vor Ort ausüben, dass sie einen Nutzen für die Bürger herausziehen? Es ist auf jeden Fall ein historischer Augenblick, um dies zu tun.
    Schweizer: Also, im Sinne eines Spiels: Wenn Sie wollen, dass unsere Protestgruppen leiser in ihrer Kritik werden, dann müssen Sie uns auch ganz schön was versprechen?
    Boykoff: Das ist eine Art, wie man das sehen kann. Vielleicht traue ich ihnen zu viel zu, aber die andere Art wäre es zu fragen: Wie können wir den Menschen vor Ort helfen? Wie können wir sie an Board holen und es schaffen, dass sie sich mehr über Olympia freuen.
    Mehr an die Menschen denken
    Schweizer: Wen meinen Sie mit – "sie"?
    Boykoff: Mit "sie" meine ich, die Personen im Bewerbungs- beziehungsweise Organisationskomitee. Aber auch gewählte Offizielle, die mit verantwortlich sind. Also vom Gemeinderat zum Bürgermeister Eric Garcetti und andere, die ihr politisches Gewicht da einbringen. Ich meine: Die gewählten Offiziellen sind ja diejenigen, die wiedergewählt werden wollen. Also müssen sie auch etwas vorweisen können rund um die Olympischen Spiele.
    Aber seien wir doch ehrlich: Das Versprechen eines olympischen Erbes ist bei den jüngsten Olympischen Spielen einfach nicht wahr geworden. Sie müssen dazu nicht weit zurückgehen: Schauen Sie nach Rio de Janeiro. Ich habe dort vor den Olympischen Spielen gewohnt. Da gab es viele Versprechen, was die Lösung des Problems mit verunreinigtem Wasser angeht. Das ist definitiv nicht eingelöst worden. Jetzt haben Sie dort Spielstätten, die man weiße Elefanten nennen kann, die dort verrotten. Also: Städte sind sich dieser Probleme ja bewusst und LA muss nicht nur sein bestes geben, diese zu vermeiden. Die Stadt muss auch an Wege denken, wie es tatsächlich ein positives Erbe geben könnte – für ganz normale Menschen, die es sich gar nicht leisten können, ein Ticket für die Spiele zu kaufen. Es sind diese Menschen an die wir jetzt mehr denken müssen.
    Schweizer: Eines der Hauptargumente, Olympische Spiele in einer Stadt auszurichten, ist der viel zitierte Schub für die Wirtschaft und die Infrastruktur.
    Boykoff: Ja, das sagen sie immer. Und es gibt oft einen leichten Aufschwung in der Bauindustrie. Gut vernetzten Menschen in diesem Bereich geht es gut. Und es wird ja auch neue Infrastruktur geschaffen. Aber leider oft nicht zugunsten der normalen Menschen. Das nutzt oft der Bauindustrie oder den lokalen politischen Eliten. Nehmen Sie doch mal das Beispiel Rio, da habe ich mit eigenen Augen die Ausweitung des Metro-Netzes gesehen– was ja an sich ein vernünftiges Vorhaben ist – die geht durch eines der größten Armenviertel der Stadt. Also, es gibt eine neue Möglichkeit der Fortbewegung für die Menschen, die dort leben. Aber hat das das größte Bedürfnis der normalen Menschen in Rio bedient? Absolut nicht. Der nördliche Teil Rios braucht dringend eine Anbindung. Also: Ein zielgerichteter Ausbau der Infrastruktur, der für die normalen Durchschnittsbürger Sinn ergibt: Ja. Aber Infrastruktur, die dazu da ist, die Olympischen Spiele reibungsloser über die Bühne gehen zu lassen? Das sind normalerweise fragwürdige Projekte, die langfristig keinen positiven Einfluss haben.
    "Es wird Zeit, dass das Geld mit den Menschen in den Ausrichterstädten geteilt wird"
    Schweizer: Wenn ich Sie richtig verstehe, könnte eines der Hauptargumente des IOC von den Menschen vor Ort umgekehrt werden in diesem Sinne: Wir nehmen hier Risiko auf uns, wir wissen, wir könnten unter Spielen leiden – was können Sie und dafür bieten?
    Boykoff: Ja, richtig. Mal ganz ehrlich: Das IOC sitzt auf etwa einer Milliarde Dollar Erspartem, es hat sich gerade ein 300-Millionen Dollar teures, palastartiges Hauptgebäude in Lausanne erlaubt. Die Funktionäre leben das schöne Leben, wenn Executive Board Mitglieder bei den Spielen auftauchen, können sie 900 Dollar Tagessatz einstreichen und da sind Hotels und all das noch gar nicht einberechnet. Da ist so viel Geld im Umlauf – es wird Zeit, dass dieses Geld mit den Menschen in den Ausrichterstädten geteilt wird.
    Schweizer: Könnte das die wahre Agenda 2020 sein – nur nicht gemacht vom IOC, sondern von den Menschen in den Ausrichterstädten, die nun eine bessere Verhandlungsposition haben?
    Boykoff: Die Olympische Agenda 2020 ist eine Ansammlung von unglaublich redundanten Empfehlungen. Man muss sie auch immer als Empfehlungen sehen. Ich glaube, ich bringe eine gesunde Skepsis gegenüber diesen Empfehlungen mit. Seien wir doch ehrlich: Eines der ersten Vorhaben, die sie davon schnell umgesetzt haben, war die Schaffung eines Olympischen Fernsehsenders. Und es ist ja nicht so, dass die Menschen auf der ganzen Welt nach einer Möglichkeit gefleht haben, noch mehr davon zu sehen. Bestimmt nicht die Kritiker, Akademiker und sozialen Bewegungen, die Fragen gestellt haben. Also: Ob diese Doppelvergabe jetzt wirklich im Lichte der Agenda 2020 stattfindet? Ich glaube, es ist einfach das Glück des IOC, das ist ja nicht wirklich eine Situation, die sie selbst geschaffen haben. Es waren die Protestgruppen, Akademiker und sozialen Bewegungen, die die Fragen gestellt haben und dadurch das Szenario geschaffen haben, in dem wir jetzt sind.
    "Das ist eine historische Chance"
    Schweizer: Also, wenn man so will: Deren Agenda 2020.
    Boykoff: Ich würde sagen sie – und damit meine ich die normalen Menschen in der Ausrichterstadt – haben jetzt eine nie dagewesene Chance, eine eigene Agenda 2024 oder eigentlich ja 2028 zu formen. Eine Möglichkeit, selbst mitzubestimmen, wohingegen das IOC zuvor immer von oben herab das Sagen hatte, was in der Olympiastadt passieren muss. Wenn wir etwas sehen, dann eine Agenda 2028, die endlich einen Beitrag der Bürger beinhalten könnte.
    Schweizer: Wie stark trauen Sie einem potenziellen Organisationskomitee in LA zu, da wirklich harte Verhandlungen mit dem IOC zu führen? Verhandlungen, bei denen sie das maximale herausholen?
    Boykoff: Ich persönlich verkehre nicht mit diesen Menschen, die in LA für die Olympiabewerbung verantwortlich sind. Also auf persönlicher Ebene kann ich nicht sagen, wie sie sich verhalten werden. Aber ich hoffe schon, dass sie den Grips haben und ihnen klar wird: Das ist eine historische Chance, sich wirksam für Zugeständnisse einzusetzen, die wir seit drei Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben. Das ist eine historische Chance und ich hoffe, sie sind klug genug, sie nicht zu vergeuden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.