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Dorfroman mit ganz eigenem Sound

Aus wechselnden Perspektiven und in vielen kurzen Kapiteln erzählt Bernd Schroeder in seinem neuen Roman die Geschichte eines bayerischen Dorfes und seiner Bewohner. Mit viel Gespür für ihre Seelenlage setzt er einer aussterbenden Lebensform ein eindrucksvolles literarisches Denkmal.

Von Cornelia Staudacher | 07.05.2012
    Bernd Schroeder empfängt mich in seiner kleinen Werkstatt im Erdgeschoss des Hauses, in dem er wohnt. Über einer Werkbank hängt ordentlich aufgereiht all das Werkzeug, das man braucht, um Holz zu bearbeiten oder fantasievolle Lampen aus Aluminium oder alten Blechbehältern anzufertigen.

    Im Bücherregal auf der anderen Seite des Raums stehen seine schriftstellerischen Werke, nach Titeln geordnet. Ein mir bisher unbekannter Titel fällt mir ins Auge: "Kleine Philosophie der Passionen: Handwerken".

    "Ich sag immer, ich bin Handwerker. Ich handwerke ja auch, wir sitzen gerade in meiner Werkstatt hier. Ich wollte mal Architekt werden, ich war eher ein Mathematiker als ein künstlerischer Typ, ich hab gezeichnet und geschrieben. Und dann wurde ich Drehbuchautor, und um Drehbücher zu schreiben, muss man sich ja eine sehr klare Linie bauen, man muss sich ne Dramaturgie zurechtbauen. Und das hab ich immer gemacht mit langen Papierbändern an der Wand, wo dann stand, Szene 1, 2, 3, 4, 5, was kommt in den Szenen vor, welche Figuren, wo spielt das usw. und kriegte dann son Überblick. Wie Leute auf ner Tabelle die Börsen verfolgen, so kann man dann die Geschichte verfolgen. Und da ich nicht chronologisch schreibe, kann ich dann das Kapitel schreiben, und hab den Überblick und weiß genau, an welcher Stelle das ist, was da passieren muss, was da vorher passiert ist. Und das habe ich dann auf meine Romane auch übertragen."

    Diese handwerkliche, pragmatische Herangehensweise bekommt seinen Büchern gut. Die auch dem neuen Roman unterlegte stringente Dramaturgie lässt ihn den Fortlauf der Handlung klar im Blick behalten, und bewahrt davor, sich zu verzetteln oder zu wiederholen. Eine andere solcher dramaturgischen Entscheidungen, gewissermaßen Regieeinfälle des Romanciers, ist der einer inneren Notwendigkeit folgende, von Kapitel zu Kapitel konsequent durchgehaltene Wechsel zwischen Präsens und Imperfekt.

    "Ich schreibe im Präsens das Kind, wie das Kind zu der Zeit empfindet. Und da ist die Sprache kindlicher, jugendlicher, es ist ne einfachere Sprache. Es sind die Reflexionen der Erwachsenen noch nicht drin. Da ich die aber auch schreibe, da ich auch aus Sicht der Erwachsenen schreiben wollte, wechsle ich die Kapitel immer ab, und der Erwachsene, der erzählt, erzählt dann im Imperfekt. Das ist ne strenge Sache, die sich aber so streng gar nicht mitteilt. Es wäre, glaube ich, nicht gut zu lesen, wenn das alles in der Sprache des Kindes wäre. Und es wären viele Dinge gar nicht möglich, die der Erwachsene später erst weiß, weil die Wirtshausgespräche, die kennt ja der Erwachsene dann erst."
    Der Icherzähler , der abwechselnd aus der Perspektive des Kindes und des Erwachsenen spricht, ist, wie der Autor selbst, mit seinen Eltern als Flüchtlingskind in das Dorf gekommen. Autor und Erzähler sind zwar nicht identisch. Aber die autobiografischen Aspekte sind, im Roman wie auch in unserem Gespräch, unüberhörbar.

    "Ich bin in den 50er-Jahren aufgewachsen auf diesem Dorf, und habe die Menschen kennen gelernt. Das ist nicht alles autobiografisch. Es ist ja ein Einzelkind, das ich beschreibe, ich habe Geschwister, es ist dieser Knecht, der nicht genau dieser Knecht ist. Es ist ein Vater, der eine Mischung aus meinem Vater und mindestens zwei Onkeln ist. Ich habe dann ja in diesem Ort mit meinen Geschwistern Bayrisch gesprochen, mit den Eltern hochdeutsch. Und in dem Buch schreibe ich einmal, meine Muttersprache ist nicht die Sprache meiner Mutter. Wenn wir Kinder unsere Eltern ärgern wollten, haben wir so bayerisch gesprochen, dass sie nichts verstanden haben."

    In vielen kurzen Kapiteln wird in dem Roman die Geschichte des Dorfes und seiner Bewohner kaleidoskopartig aufgerollt, wobei der Wechsel der Perspektive auch Rückblicke in die jüngste Vergangenheit möglich macht. Die interessanteste und die Hauptfigur, wenn man überhaupt von einer solchen reden kann, ist Veit, der Knecht. In seiner ungeschliffenen, wortkargen Art ist er der Gegenpol zu dem dünkelhaften, geschwätzigen Vater des Icherzählers, dem Seiler, wie er von den Bauern genannt wird. Veit, der am untersten Ende der dörflichen Hierarchieleiter steht, ist fleißig und hilfsbereit, lustig - und schlau, wie sich allmählich herausstellt: Nachdem er für ein paar Wochen verschwunden war, verbreitet sich im Dorf das Gerücht, er habe eine Erbschaft gemacht und sei deshalb in Amerika gewesen. Im Gasthof wird er nun zuvorkommender behandelt. Veit schweigt dazu, so wie er all die Fragen nach seiner Herkunft stets unbeantwortet lässt. Den Jungen, der unter der Strenge des autoritären Vaters leidet, zieht Veit magisch an.

    "Dieser Knecht ist ja ein Ersatzvater, wenn man so will. Die Beziehung zum Vater ist kompliziert. Der Junge merkt sehr schnell, dass dieser Vater ein bisschen Scharlatan ist. Und er merkt, wie dieser Vater in der Geschichte, wie der Vater einen Hühnerstall bauen will, der kann ja keinen Hammer in die Hand nehmen. Und der Sohn will lieber Schreiner werden als sonst was. Aber die ehrgeizige Mutter will, dass er studiert. Dieser Respekt vor dem Vater, der verloren geht, ist schon ein zentrales Thema. Und das treibt ihn auch zu diesem Veit hin, der ein einfacher, viel einfacherer Mensch ist, der aber für ihn eine Ruhe ausstrahlt, der sagt, ich habe, was ich brauch, und was ich nicht brauche, das hab ich nicht. Wie er sagt, ich glaube, der ist der glücklichste Mensch in unserem Ort. Oder diese Stelle, wo er sagt, der Veit der geht seinen Weg, der sagt, er macht jetzt das, dann macht er das, dann macht er das. Mein Vater der, wenn er nach rechts gehen will, will er zugleich auch nach links gehen, dann weiß er nicht, wo er gehen soll, dann geht er geradeaus und weiß gar nicht, was er dort soll."

    Der ganz eigene Sound des Romans - kurz und bündig, nur das Notwendigste erzählend – zeugt vom Gespür des Autors für die Belange und die Seelenlage der Dorfbewohner. Die Aufmerksamkeit und respektvolle Sympathie, die er ihnen entgegenbringt, haben sich auf kongeniale Weise im Erzählduktus niedergeschlagen, als Ausdruck einer Direktheit und Bodenständigkeit, hinter der etwas Widerständiges, Unbeirrbares aufscheint. Allen voran Veit, Seilers Gegenpart. Als Seiler Veit wieder einmal mit seinen Fragen bedrängt, wird er im Beisein der anderen von Veit ruhig und bestimmt in seine Schranken gewiesen:

    "Da lachten die Bauern, leise und sparsam, wie es ihre Art ist, denn bei allem Respekt gegenüber dem viel wissenden und noch mehr sprechenden Flüchtling freuten sie sich doch, wenn es dem Seiler mal wieder einer gab."
    "Es soll niemand denunziert werden. Diese Menschen auf dem Dorf, wenn einer ein Verrückter ist, ist er ein Verrückter, es hat immer alles seine Geschichte. Der Nazi, der sich dann im Glockenstuhl erhängt hat, sich selbst gerichtet hat, weil er wusste, in dem Dorf wird er nicht mehr existieren können, der war ein armer Häusler. Der war im Dorf der Letzte, der Habenichts, und der war jetzt der Nazi und der hatte plötzlich die große Schnauze, weil der hatte jetzt seinen großen Vorsitzenden und hatte seine Ideale und wollte die Bauern damit belästigen, und sie mussten mit ihm umgehen und noch dazu die eine Bauernfamilie, die einen Halbjuden versteckt hat im Heu, das war sehr kompliziert. Aber auch ihn denunziere ich ja nicht, er hat ja auch seine Geschichte."

    Umsichtig und bedacht setzt Bernd Schroeder die Akzente und hält die Spannung. Mit einem Schwenk in die heutige Zeit schließt er. Der Erzähler kehrt aus Anlass eines Klassentreffens nach Jahrzehnten in das Dorf zurück, das mittlerweile in der Einflugschneise des Münchner Flughafens liegt, was die Dorfbewohner, allen voran Seiler, vergeblich zu verhindern versucht hatten. Auf der Hauptstraße kann man sich wegen des Fluglärms nicht mehr unterhalten und von den 17 Höfen, die es einmal gab, bestehen nur noch drei. Sein erster Gang führt ihn auf den Friedhof. Und als er vor Veits Grab steht, überkommt ihn zuerst Rührung und dann eine nostalgisch verklärte Heiterkeit, die ihm die vielen Episoden in Erinnerung bringt, von denen der Roman handelt.

    Eine "Vorstufe der Verödung", wie sie zuletzt nach dem Dreißigjährigen Krieg zu beobachten war, nennt Gerhard Henkel die stetig zunehmende Landflucht, ablesbar am rapiden Rückgang ländlicher Einwohnerzahlen, an verlassenen Bauernhäusern und verödeten Ortskernen. Diesem eigenen Kosmos einer Lebensform, die seit den Fünfziger Jahren massiv am Aussterben ist, setzt Bernd Schroeder in seinem mit Realitätssinn, Besonnenheit und Empathie verfassten Dorfroman ein eindrückliches literarisches Denkmal.

    Bernd Schroeder, Auf Amerika.
    Roman, Hanser Verlag, München 2012, 176 Seiten, 18,40 Euro