
Die Hinterwand der Kammer fährt nach oben und gleißendes Licht blendet die Zuschauer. Da steht sie, die alte Pfandleiherin. Raskolnikows Mordopfer im roten Gewand. Doch es ist keine Frau, sondern ein Mann, ein weiterer Raskolnikow, der in das verspiegelte, enge Grab tritt. Raskolnikow tötet mit der Axt die Erscheinung, dann sitzen sie da zu fünft. Fünfmal schon ist die Wand nach oben gefahren. Beim sechsten Mal stehen zehn Pfandleiherinnen im gleißenden Licht, drängen in die enge Kammer auf die Raskolnikows, während die Wände langsam zusammenfahren. Die Masse Mensch wird so auf engstem Raum zusammengequetscht, kreischend und die Arme ausstreckend. Raskolnikow entkommt seinem schlechten Gewissen nicht.
"Du bist ein Mörder! Ein Mörder bist du!"
Der junge Regisseur Bastian Kraft liebt große Bilder. Installationen sind das, in die er seine Schauspieler wie in einen überdimensionalen Setzkasten hineinstellen kann. Der Eiserne Vorhang ist geschlossen. Die Kammer befindet sich in zwei Metern Höhe. Eine kleine, verspiegelte Aussparung ist das. Wie ein gläserner Sarg sieht die ärmliche Behausung von Dostojewskis Studenten aus. Der liegt schon im Roman mehrere Tage im Delirium. Geplagt von bösen Träumen, erlebt er wieder und wieder den einen Mord, den er doch nicht verkraften kann. Mit der Kammer, in der die Raskolnikows immer wieder Opfer der toten Pfandleiherin werden, hat Kraft ein überzeugendes Arrangement entworfen, ein Seelenbild, das rund eine Stunde lang ziemlich faszinierend einen Aspekt dieses großen Romans versinnbildlicht. Doch leider ist nach der Pause nicht Schluss, sondern der Abend geht noch zwei Stunden weiter.
Denn Bastian Kraft kann es nicht bei seinem Seelenbild belassen, er muss unbedingt den ganzen Roman erzählen. Und es zeigt sich, dass er jenseits des gebauten Bildes nicht viel mit dem Stoff anzufangen weiß. Nach der Pause inszeniert er das Psycho-Duell des Mörders mit dem Kommissar wiederum als maximal groß angelegtes Bild. Eine ganze Reihe mitten im Zuschauerraum macht er für den Kommissar frei, der wiederum kein anderer als einer der vielen Raskolnikows ist. Hier kann er mit großer Geste auf- und abgehen und sich verbal mit dem Raskolnikow auf der Bühne in Wortgefechte verwickeln. Der läuft in der inzwischen in Bodennähe herab gefahrenen Kammer wütend auf und ab. Raskolnikow wird immer nervöser angesichts dieses Kommissars, der alles zu wissen scheint, aber keinen einzigen Beweis besitzt.
"Bitte, halten sie sich nach dem Recht! Sind sie berechtigt, gegen mich vorzugehen, dann tun sie es! Aber dann tun sie es in der vorgeschriebenen Form, ja. Etwas anderes lasse ich mich nicht gefallen!"
"Ruhig, nur ruhig, das ist ja beinah ein Anfall Verehrtester, sie brauchen dringend frische Luft. Wenn sie so weitermachen, kommt es vielleicht noch zu einem Rückfall, ich weiß ja von ihrer Krankheit."
Bastian Kraft setzt auf die Kraft des Arrangements.
Ein wiederum gut gebautes Bild ist das, in dem die Schauspieler Dostojewskis Text abspulen. Schauspieler sind das, die ohne Bruch ihre Figuren spielen, von ihnen selbst erfahren wir nichts. Frank Castorf hat einst an der Berliner Volksbühne begehbare Räume gebaut, in denen sich sein legendäres Ensemble frei bewegen konnte, in denen sich Männer wie Martin Wuttke oder Henry Hübchen jeden Abend anders durch den Text kämpften und dabei immer irgendwie auch persönlich als Menschen auf der Bühne anwesend waren. Bastian Kraft dagegen setzt vollkommen auf die Kraft des Arrangements.
Als wollte er den Schauspielern nicht zutrauen, sich wirklich den Textwelten zu stellen, baut er starre, unverrückbare Bilder, in denen die Texte dann mit minimalem Bewegungsspielraum in einem biederen psychologischen Realismus gespielt werden. Ganz zum Schluss fährt der Eiserne Vorhang endlich nach oben und wir sehen ein letztes großes Bild. Es schneit auf der gigantischen, leeren Frankfurter Bühne. Einer der vormals vielen Raskolnikows takelt durch den Schnee. Seine große Liebe Sonja ist als mütterliche Frau im weißen Kleid auch da.
Noch einmal wird versucht, sich dem Dostojewski Text zu nähern, wird von der Religion gesprochen und dem Verbrechen, verspricht Raskolnikow Sühne zu leisten für seine Tat und mit Sonja in die Verbannung nach Sibirien zu gehen. Aber das alles bleibt plattitüdenhaft in diesem großen Schaukasten, der wie einer der illustrierenden Stiche aus dem 19. Jahrhundert daherkommt. Man kann da mal schön draufgucken, aber wirklich näher kommt man dem Klassiker durch die hübschen Bilder nicht.