Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Double

Jemand mußte Daniel de Roulet verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er 17 Jahre lang von der Schweizer Polizei bespitzelt. Und dies scheinbar ohne nachweisbare rechtliche Grundlage, also illegal. Aber Daniel de Roulet war kein Einzelfall. Ende der 80er Jahre kam sie ans Licht, die sogenannte Fichenaffäre: Seit 1945 hatte unter anderem die Bundespolizei Dossiers von rund einer Million Schweizer Bürgern angelegt - wie im Falle de Roulets - ohne Rechtsgrundlage. Beschattet wurden die Opfer Tag und Nacht, ihre Briefe geöffnet und ihre Telefongespräche mitgeschnitten. Mit oft fatalen Folgen für ihr privates und berufliches Leben, wie der Fall de Roulets ebenfalls zeigt. "Wir haben in der Schweiz so eine Soft-Stasi, also eine sanfte Stasi gehabt", erzählt Daniel de Roulet. "Das hat sich über Jahre entwickelt, und zwar vom Anfang des Jahrhunderts an. 1945 kam es ganz hart, und gerade während des Kalten Krieges. Organisiert wurde das von denselben Polizisten, die auch die Juden aus der Schweiz haben wollten. Zum Beispiel Rothmund, der damalige Chef der Bundespolizei, der hat das ‘J’ im deutschen Paß erfunden. Er sagte den Nazis, sie sollen den Paß mit einem ‘J’ versehen, so daß man die Juden erkennt und ihnen kein Asyl gibt, sowohl in der Schweiz wie auch in ganz Südamerika."

Christoph Schmitz | 29.01.1999
    De Roulet erhält Einsicht in seine drei Kilo schwere Akte. Und da er Mitte der 90er Jahre gerade wieder einmal Opfer jener Schweizer Mentalität geworden ist, die den Schnüffelstaat ermöglicht hat, will er auf seine Akte, die sogenannte Fiche, literarisch reagieren, wie einst Max Frisch: "Max Frisch hat ja auch seine Fiche bekommen. Zweimal hat er versucht ein Buch zu schreiben. Das erste war es sehr ironisch. Als das ganze fertig war, hat er es weggeschmissen. Ein anderes war sehr böse, das war eine Rache gegen den Polizeistaat. Leider auch literarisch unbrauchbar. Ich glaube, das ist eine ganz große Anforderung, wenn man seine eigene Polizeiakten beschreiben muß. Man versucht, nicht voll ironisch, nicht voller Rache zu schreiben und eine Distanz zu bekommen."

    Distanz und damit Souveränität hat de Roulet hinsichtlich seines Materials gewonnen, wie das Ergebnis "Double" zeigt. De Roulets Akte wird geöffnet, als er 20 Jahre alt ist, also 1964. Der Grund: Er setzt sich für Kriegsdienstverweiger ein und wird für 24 Stunden Mitglied der KP, was den Staat an seiner rechten staatsbürgerlichen Gesinnung zweifeln läßt. Auch bei allem späteren politischen und sozialen Engagement nimmt de Roulet lediglich sein bürgerliches Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch. Die gesetzeswidrige Schnüffelbürokratie versetzt das in Hysterie. Sie leitet ihre Informationen an de Roulets Arbeitgeber weiter und hintertreibt damit immer wieder seine berufliche Karriere. "Jedesmal wenn eine Frage an die Schweiz gestellt wird, ist das eine Frechheit", so de Roulet. Das kann die politische Klasse nicht verstehen, daß man Fragen stellt; weil sie nur die Konsenskultur fördern wollen und verstehen. Sie verstehen auch nicht, wenn ein Jude kommt und sagt, er will sein Geld zurück. Dann sagt man, ja, man könnte es ihm schon geben, aber sicher sind wir nicht schuld daran. Diesen Widerspruch kann man nie lösen, wenn diese Kultur sich nicht ändert. Und diese Widerspruchkultur muß kommen, sonst gibt’s keine Schweiz mehr für mich."

    Seinen nüchternen Ereignisbericht, seine präzisen Erinnerungsskizzen konfrontiert der Autor mit Zitaten aus den Spitzelberichten. Mit der Gegenüberstellung entlarvt de Roulet den Dünkel in der behördlichen Sicht seines Leben, korrigiert sie, nimmt seinen Beschattern gewissermaßen den Griffel aus der Hand und emanzipiert sich selbst zum Autor seiner Biografie. Das Schreiben geht ihm dabei leicht von der Hand, schnörkellos ist sein Stil, genau seine Darstellung: "Meine Sprache kommt vom Rennen. Es sind kurze Sätze. Es ist nicht abstrakt. Ich vermeide schwierige Konstruktionen, also auch schwierige Tempi, ich schreibe immer im Präsens."

    Bei allem Ungemach, dem der Autor über Jahre ausgesetzt war, scheinen ihn die widrigen Umstände nicht gebrochen zu haben, vielleicht Dank der Ironie des Gebeutelten, die auf jeder Seite mitschwingt. Daniel de Roulet hat aber nicht nur ein individuelles Porträt gezeichnet, sondern auch das Porträt seiner Generation. Einer Generation, die etwa Mitte des Jahrhunderts geboren wurde und im Schweizer Großbürgertum aufgewachsen ist. De Roulets Verwandtschaft sowohl väterlicher wie mütterlicherseits bewohnen die Bankiers- und Unternehmervillen an den Gestaden des Züricher und Genfer Sees. Ein Porträt seiner Generation ist de Roulets "Double" vor allem deshalb, weil er seine eigene Vita mit der zweier Leidensgenossen aus dem gleichen Milieu verflicht, mit der Fritz Zorns, des Autors von "Mars", und der Werner Saubers, der als vermeintlicher Terrorist erschossen worden ist. Daniel de Roulets und Werner Saubers politisches Engagement und Fritz Zorns schriftstellerische Abrechnung und - so sieht Zorn es selbst - sein Krebsleiden werden als unmittelbare Reaktionen auf Schweizer Verhältnisse dargestellt. In zahlreichen mit spitzer Feder geschilderten Episoden dieser drei éducations helvétiennes zeigt de Roulet die alle individuellen Regungen abtötende Sucht nach familiärer Harmonie und nationalem Gemeinsinn, die ständische Überheblichkeit gegenüber dem gemeinen Volk und die auf Schweizer Neutralität gründende Selbstgerechtigkeit. "Das zeigt zum Beispiel das Buch von Zorn", so de Roulet. "Zorn schreibt ein Buch, zehn Jahre nach 68, wo er sagt, er sei von der Schweiz erstickt worden und zu Tode erzogen und daran stirbt."

    Sorgfältig bettet der Autor seine Lebensgeschichten nicht nur in die sozialen Verhältnisse ein, sondern auch in die zeitgeschichtlichen Ereignisse. In knappen Rapports läßt er beispielsweise die Berliner Studentenproteste Ende der 60er Jahre Revue passieren, die Entwicklung der RAF oder die Unruhen und Kämpfe in Zürich in den 80er Jahren, was mitunter allerdings etwas belehrend daherkommt. "Das Buch habe ich meinem Sohn gewidment, er ist 17jährig, er weiß von dieser Sache gar nicht, bis jetzt. Deshalb habe ich diese Sache ziemlich didaktisch geschrieben, für den Leser, also für meinen Erstleser."

    So sicher wie de Roulet den sozialkritischen Part seines Buches sprachlich gestaltet, so wenig findet er den angemessenen Ton für seine Liebesgeschichte. Geradezu unbeholfen wirken die erotischen Szenen. Der nüchterne Bericht scheint ihn derart in Beschlag genommen zu haben, daß ihm zur Liebe nichts einfällt. Aber es ist sowieso nicht die Sprache, die "Double" zu einem Ereignis macht, es ist vielmehr der politische Skandal, von dem erzählt wird: Kein geringerer als der derzeit noch amtierende Präsident des Gesundheitswesens im Kanton Waadt scheint den Informatiker de Roulet vor wenigen Jahren aus seiner Funktion in einem staatlichen Krankenhaus gedrängt zu haben, ohne Begründung, ohne daß de Roulet auch diesmal etwas Böses getan hätte, wie er in "Double" schreibt. Der Präsident hat ihm vermutlich eine Publikation nicht verziehen, in der de Roulet vor Jahren die Überwachungsmethoden Schweizer Behörden offengelegt hatte. Das mißgünstige staatliche Auge wacht auch nach der Fichenaffäre über dem Land: "1998, als ich aus Sarajewo zurückkam, schreibt die Polizei über meine Literatur: ‘Aus Argumentation und Wortwahl seiner Schriften geht eindeutig hervor, daß der Antragsteller im Zusammenhang mit der Fichenaffäre immer noch ein allgemeines Gefühl des Mißtrauens gegenüber der Obrigkeit empfindet."