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DOV-Buch: "Orchesterland Deutschland"
Wie steht es um die deutsche Orchesterszene?

Fusionen, Auflösungen, Privatisierungen: Die deutsche Wiedervereinigung hat die Orchester- und Theaterlandschaft grundlegend verändert. Welche Erwartungen und Herausforderungen die Zeit prägten und wie politische Entscheider die Lage heute sehen, erläutert ein neues Buch der Deutschen Orchestervereinigung.

Von Matthias Nöther | 22.02.2021
Ein Orchester mit Dirigent sind im Dunklen vor einer Leinwand zu sehen, auf der eine Brandung zu sehen ist. Links und rechts stehen im Hintergrund, neben der Leinwand, Sängerinnen und Sänger eines Chores.
Die Thüringer Symphoniker: Keine Rückkehr zum Flächentarif, aber es soll Verbesserungen geben. (Foto: Oliver Jentsch)
Von den ersten Nachwendejahren bis heute ist der Bestand an Orchestern um fast ein Viertel geschrumpft. Der Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen betont allerdings, dass es noch immer mehr Orchester in Deutschland gibt als irgendwo sonst auf der Welt – und übrigens doppelt so viele im Osten wie im Westen. Die noch viel höhere Orchesterdichte der ehemaligen DDR in den Neunziger Jahren beizubehalten, sei dagegen politisch nicht zu rechtfertigen gewesen.
"Die nach der Wende von Abwicklungen betroffenen Klangkörper waren entweder in Kleinstädten angesiedelt oder in Städten mit mehreren Berufsorchestern, das heißt an Standorten, an denen abgesehen von besonders offensichtlichen Finanzierungsproblemen mittel- und langfristig keine Nachfrage zu erwarten gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund und in Relation zu den sonstigen tiefgreifenden kulturellen, ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen innerhalb der vergangenen drei Jahrzehnte kann daher eindeutig konstatiert werden, dass die ostdeutschen Orchester die unvermeidlichen historischen Transformationen insgesamt mehr als "glimpflich" überstanden haben."
Frauke Roth von der Dresdner Philharmonie hält im Rahmen Verleihung des Kunstpreises und der Förderpreise der Landeshauptstdt Dresden die Laudatio im Festspielhaus Hellerau
Neustart des Musiklebens - "Diese Selbstverständlichkeit ist passé!"
Ganz vorsichtig blicken Musikfans in Richtung Ostern. Vielleicht geht dann wieder etwas im Land mit der höchsten Dichte an Orchestern und Opernhäusern weltweit. Wie so ein Neustart des Musiklebens aussehen könnte, erläutert die Intendantin der Dresdner Philharmonie.

An kleinstädtischen Standorten haben eher Theater überlebt

Bei den kleinstädtischen Standorten habe allerdings meistens das Theater überlebt, während das zusätzliche Konzertorchester abgewickelt wurde. Jacobshagen räumt daraufhin ein: "Die lange Liste der aufgelösten Konzertorchester zeigt, dass fast ausschließlich Standorte im Osten betroffen waren."
Die Geschichte der Streichungen begann 1991 mit dem Brandenburgischen Konzertorchester Cottbus, ihm folgten innerhalb von zehn Jahren acht weitere ostdeutsche Konzertorchester. Auch im Westen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, verschwanden Orchester– spektakulär waren auch zwei Fusionen südwestdeutscher Rundfunkorchester, die letzte ist erst wenige Jahre her. Veränderte die Wiedervereinigung das Orchesterleben aber auch zum Guten? Bemerkenswert ist in dem Band "Orchesterland Deutschland", dass ausschließlich ein westdeutscher Orchestermusiker ein Gefühl des Zusammenwachsens der Orchesterszene erlebt haben will – der Bassposaunist und DOV-Funktionär Hartmut Karmeier aus Trier, der sich im Januar 1990 spontan ins Auto setzte und nach Weimar fuhr.
"Unvergessen bleibt der Abend mit Kollegen des Orchestervorstands der Staatskapelle Weimar im Restaurant des ehrwürdigen Hotels Elephant. Großes Interesse bestand am Tarifvertrag für Kulturorchester. Gedanken machten sich die Weimarer schon zu diesem frühen Zeitpunkt über den Platz ihres Traditionsklangkörpers in einer möglichen gesamtdeutschen Orchesterlandschaft."
Beispiel Weimar: Man gewinnt im Buch nicht immer den Eindruck, dass Orchestermusiker den Veränderungen ihres gesellschaftlichen und beruflichen Umfelds Beachtung schenken – das spricht unfreiwillig ausgerechnet die langjährige Weimarer Konzertmeisterin Ursula Dehler aus.
"Niemand in der Staatskapelle wurde gekündigt. Wir hatten auch keine Sorge um unsere Arbeitsplätze. Alle waren gut ausgebildet."

Herausforderung: "Ein beständiges Publikum gewinnen"

Das muss in den Ohren gerade von Musikern der Weimarer Nachbarstädte wie Hohn klingen. Haben Musikerinnen und Musiker in Saalfeld, Gotha oder Eisenach so viel schlechter gespielt als die Staatskapelle Weimar, dass die Politik Anlass sah, gerade diese Orchester zu schließen oder zu fusionieren? Orchestermusiker sollten es nicht auf ihre künstlerische Leistung oder auf große Traditionen zurückführen, wenn Landes- und Kommunalpolitiker beschließen, sie gleichbleibend zu fördern. Die politische Verantwortlichen übrigens haben zuweilen weitaus besser erkannt, was Orchester in Zukunft förderungswürdig macht. Zum Beispiel Martin Eifler, der derzeitige Referatsleiter Musik der Kulturstaatsministerin Grütters. Was die Zukunft von Orchestern fordert, darin sieht Eifler keinen Unterschied mehr zwischen Ost- und Westorchestern – gerade in den Zeiten nach Corona.
"Die Hauptherausforderung besteht doch erst einmal darin, ein beständiges Publikum zu gewinnen, ohne das auch keine gesellschaftliche Relevanz erreicht werden kann. Wer ist dieses Publikum, was für Bildungsvoraussetzungen bringt es mit? Was folgt aus der zunehmenden Diversität unserer Gesellschaft und was aus veränderten Zugriffen auf kulturelle Inhalte? Wie verändern sich Erwartungen an kulturelles Erleben?"
Solche Fragen stellen sich Orchester in Zeiten von Corona noch einmal stärker, aber immer noch nicht stark genug. So wie kurz nach der Wende sollte auch die Interessenvertretung der Orchester, von der dieses Büchlein stammt, nicht weitermachen: Wenn damals Orchester trotz Schließungsdiskussionen erhalten blieben, mal gleichbleibend, mal spürbar schlechter bezahlt, dann wurde das begrüßt. Vielleicht war aber diese Reaktion nach der Wiedervereinigung zu undifferenziert. Es fehlte eine Strategie für die Kulturinstitution Orchester der Zukunft. Das vermutet der thüringische Kultusminister Benjamin-Immanuel Hoff.
"Kristina Volke kritisierte 2005 in ihrer Betrachtung der ostdeutschen Kulturtransformation, dass die Neuordnungen nicht auf vorausschauendes Management der kommenden Krise, sondern auf den Erhalt der zahlreichen Einzelinstitutionen ausgelegt waren. Was sich aus der Situation der Zeit nur allzu verständlich ausnimmt, stellt sich im Nachhinein als strategischer Fehler dar."

Ein Vorgeschmack auf den großen Orchester-Kahlschlag?

Kultusminister Hoff verkündet dagegen in dem Buch "Orchesterland Deutschland" stolz, dass zumindest die bis zu dreißig Prozent Gehaltsunterschiede bei thüringischen Orchestern nun ein Ende haben sollen: "Deshalb soll mit dem Haushalt 2021 nun endlich das Theater Rudolstadt mit den Thüringer Symphonikern in den Flächentarif zurückkehren."
Verwunderung ist angebracht: Kultur gerät während der Pandemie unter Rechtfertigungsdruck wie nie zuvor. Aus dem Thüringischen Kultusministerium hört man auf Nachfrage nun eine etwas vorsichtigere Formulierung: Es soll Verbesserungen geben. Vom Flächentarif für das gebeutelte Rudolstädter Orchester, eines der ältesten in Deutschland, ist keine Rede mehr. Die Kommunen würden nicht mitmachen. Ist das ein Vorgeschmack auf den großen Orchester-Kahlschlag in der Provinz? Man mag es kaum aussprechen: Aber vielleicht ist der jetzige Zeitpunkt der denkbar schlechteste, um in einem Buch ein Fazit darüber zu ziehen, wie gut die deutsche Orchesterszene doch wirtschaftlich und politisch dasteht.