Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Dr. Schimpanse

Im November 1987 saß Michael Huffman im Dschungel von Tansania und beobachtete eine Gruppe Schimpansen. Nichts Besonderes für den Primatenforscher der Universität Kyoto und seinen tansanischen Assistenten Mohamedi Kalunde. Im Rückblick entstand an diesem Tag jedoch eine ganz neue Forschungsrichtung. Die Schimpansen schlugen sich den Magen mit Früchten und Nüssen voll. Nur ein Tier blieb abseits. Die Schimpansin Chausiku hatte Durchfall. Sie fraß nichts und war offensichtlich krank:

Von Claudia Ruby | 26.01.2005
    Doch plötzlich ging Chausiku zu einer Pflanze, an der ich noch nie zuvor einen Schimpansen gesehen hatte. Sie kaute darauf herum, und ich fragte meinen Assistenten nach dem Namen: Mjonso antworte er - der wissenschaftliche Name war Vernonia amygdalina. Mohamedi wunderte sich, weil der Strauch äußerst bitter schmeckt. Ein Geschmack, den Schimpansen überhaupt nicht mögen. Sie bevorzugen süße oder saure Nahrung, aber nichts Bitteres. Auf ihrem gesamten Speiseplan von über 200 verschiedenen Pflanzenarten gibt es nur zwei, die bitter schmecken. Eine davon ist Vernonia amygdalina.

    Mohamedi Kalunde ist nicht nur ein exzellenter Primatenforscher, sondern auch der Medizinmann seines Stammes. Den Mjonso-Strauch nutzen die Einheimischen als Heilpflanze, erzählt er. Zum Beispiel gegen Darmparasiten, Magenverstimmung und Fieber. Die Wirkung soll bereits nach 24 Stunden einsetzen. Noch vor Sonnenuntergang kletterte Chausiku an diesem Abend in ihr Schlafnest. Am nächsten Morgen ging es ihr noch immer schlecht. Alle paar Minuten machte sie eine Pause:

    Dann in der Mittagspause, um zwanzig vor zwei sprang Chausiku plötzlich auf und rannte fast eine dreiviertel Stunde umher. Eine drastische Verbesserung. Noch am Morgen konnte sie kaum drei Meter gehen. Auch der Durchfall war weg. Alle Symptome hatten sich gebessert, und wir mussten rennen, um ihr auf den Fersen zu bleiben. Anderthalb Stunden lang hat Chausiku dann so viel gefressen, wie sie nur konnte - völlig anders als die vergangen 20 Stunden.

    Hatte die plötzliche Genesung tatsächlich etwas mit der bitteren Pflanze zu tun? Eine gewagte Hypothese. Doch Huffman beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Durch Kotuntersuchungen fanden die Wissenschaftler heraus, dass ein Darmparasit, der so genannte Knötchenwurm, den Schimpansen das Leben schwer macht. Die Schimpansen infizieren sich vor allem in der Regenzeit, und das ist genau die Jahreszeit, in der sie besonders häufig von dem bitteren Strauch fressen:

    Allerdings nutzt nicht jeder Schimpanse den Strauch, sondern nur Tiere, die ähnliche Symptome haben wie Chausiku: Appetitmangel, Durchfall und Schwäche zum Beispiel. Andere Tiere sehen zu, rühren den bitteren Strauch aber selber nicht an. In den folgenden zwei bis drei Jahren konnten wir zeigen, dass die Belastung mit den Darmparasiten deutlich zurückging, nachdem die Tiere etwas von dem Strauch gefressen hatten.

    Chemische Analysen bestätigten, was die Einheimischen in Tansania und die Schimpansen offenbar schon lange wussten: Der Mjonso-Strauch enthält tatsächlich mehrere pharmazeutisch interessante Wirkstoffe. Im Pflanzenmark fanden die Forscher 30 bisher völlig unbekannte Substanzen. Der Laborbefund stützt also die Theorie von Huffman und Kalunde: Schimpansen behandeln ihre Krankheiten mit speziellen Kräutern. Auch bei anderen Primaten haben Verhaltensforscher Ähnliches beobachtet. Aber woher stammt das Wissen der Tiere?
    Und funktionieren die medizinischen Instinkte auch in Gefangenschaft, zum Beispiel in einem Zoo? Biologen in den Niederlanden wollten das herausfinden: In der Nähe von Apeldorn liegt der Affenberg, ein reiner Primatenzoo. Über 30 verschiedene Arten leben dort in riesigen Freigehegen. Für die südamerikanischen Wollaffen legten die Zoologen extra einen Kräutergarten an, sozusagen eine natürliche Apotheke. Als der Kräutergarten fertig war, warteten alle gespannt, erzählt die Biologin Constanze Melicharek. Wie würden die Affen reagieren?

    Es gab eigentlich drei Möglichkeiten: Entweder sie lassen es links liegen und nehmen nichts davon, oder sie fressen einfach alles auf und reißen Wurzeln raus und zerstören es in Null-Komma-Josef, und alles ist verschwunden. Oder sie fressen wirklich zu gewissen Zeiten gewisse Pflanzen. Und Gott sei Dank hat sich so ziemlich das Letzte erwiesen.

    In den ersten Wochen und Monaten bevorzugten die Affen vor allem Katzenkraut, eine Pflanze mit beruhigender Wirkung. Auch Rettich war anfangs äußerst beliebt:

    Rettich enthält in den Blättern ein natürliches Antibiotikum und weil es eben so schwierige Affen sind, die sehr oft auch Infektionen bekommen, kann man im Nachhinein eigentlich sagen: Vielleicht hatten sie damals was, weil sie in dem ganzen Jahr so viel von dem Rettich gefressen haben. Im nächsten Jahr nämlich war der Gebrauch von Rettich absolut gesunken. Und das weist auch darauf hin, dass die Affen die Kräuter nicht nur fressen, weil sie ihnen gut schmeckt, sondern doch eben situationsbezogen.

    Wie ein guter Arzt verschreiben sich die Tiere genau das, was sie brauchen. Eines Tages zum Beispiel fiel das Wollaffenweibchen Pepe ins Wasser. Pepe paddelte ein Stück um die Insel und kletterte schließlich an einer anderen Stelle wieder an Land:

    Jetzt sind Wollaffen eben sehr sensible Tiere, und wenn so ein klatschnasser Wollaffe, der vielleicht auch nicht so gut zu erkennen ist auf den ersten Moment, da auf ihrer Seite wieder rauskommt, na, das war wirklich Panik in der ganzen Gruppe, alle sind auf die Bäume geflüchtet. Kurz danach haben sie dann die Pepe, die Nasse, doch erkannt. Dann sind sie wieder runtergekommen, und alle sind sie gemeinsam zur Kamille und Melisse gegangen und haben also davon mal ganz kräftig gefuttert.

    Offenbar um sich wieder zu beruhigen, vermutet Melicharek. Die Wollaffen im Zoo konnten sich das Verhalten nicht von ihren Eltern oder Großeltern abgucken. Trotzdem wussten sie scheinbar instinktiv, welche Pflanze welche Wirkung hat:

    Die Affen sind aus tropischen Ländern gekommen, viele wurden im Zoo geboren, aber trotzdem von Instinkten müssten sie eigentlich Blätter kennen, Kräuter kennen aus Südamerika, aus Afrika, aus Asien. Und warum sie dann eigentlich so heimische Kräuter sehr gut kennen und annehmen und offensichtlich auch instinktiv oder wie auch immer wissen: Ja das ist gut gegen Schmerzen, das hilft gegen Stress, das ist also wirklich ein Mysterium.

    Ein Mysterium, mit dem sich inzwischen nicht nur Verhaltensforscher sondern auch Pharmakologen beschäftigen. Denn die tierischen Instinkte können auch dem Menschen nutzen. Überall auf der Welt suchen Pharmafirmen nach neuen Wirkstoffen für neue Medikamente. Die Kräuterkunde von Schimpansen und anderen Tieren könnte ihnen dabei als Wegweiser dienen.