Der Einsatz im Irak hat weit über 200 Milliarden Dollar gekostet; ein Ende der Kosten und der Opfer ist nicht abzusehen. Unwille macht sich bemerkbar. Nicht zufällig formulierte Präsident Bush Ende Januar im Bericht zur Lage der Nation vor beiden Häusern des Kongresses:
" Die Vereinigten Staaten ziehen sich nicht von der Welt zurück, sie werden nie vor dem Bösen kapitulieren. Amerika weist die falsche Bequemlichkeit des Isolationismus zurück."
Indes lassen Meinungsumfragen erkennen, dass die Einstellung "Wir sollten uns besser um unsere eigenen Belange kümmern" an Boden gewinnt. Der wirtschaftliche wie der politische Wiederaufbau im Irak kommt schon deshalb nicht voran, weil amerikanische und irakische Verbände nicht einmal gemeinsam imstande sind, die Sicherheit im Lande zu garantieren. Vizepräsident Cheney hatte Ende Mai vergangenen Jahres prophezeit:
" Der Grad der Aktivitäten, unter einem militärischem Gesichtspunkt, wird - denke ich - nachhaltig zurückgehen. Der Aufstand liegt in den letzten Zügen, wenn man so will."
Eine grandiose Fehleinschätzung; die Sicherheitslage hat sich ständig verschlechtert. Schon lange ist nicht mehr auseinander zu halten, was da Aufstand gegen die Besatzungsmacht ist, was Terror und was Vorbote eines Bürgerkriegs. Nach dem Anschlag auf das schiitische Heiligtum in Samarra und den Vergeltungsangriffen auf sunnitische Moscheen, die Hunderte von Opfern forderten, ist nunmehr allenthalben von der Gefahr des Bürgerkriegs die Rede.
Ende 2003 waren - anders als in Europa - sechs von zehn Amerikanern der Auffassung, der Krieg im Irak sei seine Kosten und Opfer wert. Nach jüngsten Umfragen halten 42 Prozent der Befragten an dieser Auffassung fest. Auch das ein bemerkenswerter Unterschied zur Totalablehnung in Europa. Aber seit Ende 2004 hält offenbar eine knappe Mehrheit der Amerikaner diesen Krieg für einen Fehler. Vor vier Monaten erregte ein Abgeordneter aus Pennsylvania, der Demokrat John Murtha, großes Aufsehen.
" Unser Militär hat alles gemacht, was von ihm verlangt wurde. Die USA können im Irak militärisch nichts mehr erreichen. Es ist an der Zeit, die Truppen nach Haus zu bringen."
John Murtha, Jahrgang 1932, ein Vietnam-Veteran, der 37 Jahre die Uniform der Marineinfanterie trug, gilt als entschiedener Anwalt der Streitkräfte. Um so ungewöhnlicher seine Intervention.
" Wenn es nach mir ginge, zögen wir in diesem Jahr ab. Wir hätten sämtliche Truppen in diesem Jahr draußen; wir hätten sie an der Peripherie, in Kuwait, auf Okinawa. Wir stecken mitten in einem Bürgerkrieg."
"Aufzugeben ist keine Abzugsstrategie, sondern eine Formel, das amerikanische Volk noch größeren Risiken auszusetzen," entgegnete Verteidigungsminister Rumsfeld. Im Plenum des Repräsentantenhauses zitierte eine Republikanerin aus einer Zuschrift und meinte den Demokraten John Murtha:
" Feiglinge hauen ab, Marineinfanteristen nie."
Das allerdings kam überhaupt nicht gut an. Nicht von ungefähr musste sich Präsident Bush im erwähnten Bericht zur Lage der Nation ausführlich mit der Rückzugsforderung auseinandersetzen.
" Ein plötzlicher Abzug unserer Streitkräfte würde unsere irakischen Verbündeten Tod und Gefängnis ausliefern, würde Männer wie bin Laden und Zarqawi in einem strategischen Land an die Macht bringen und beweisen, dass ein Versprechen Amerikas wenig bedeutet."
" Angehörige des Kongresses, was immer wir von den Entscheidungen und Debatten der Vergangenheit halten, unsere Nation hat nur eine Option: Wir müssen Wort halten, unsere Feinde besiegen und in dieser lebenswichtigen Mission hinter dem amerikanischen Militär stehen."
Dies Argument - ob der Angriff auf den Irak vernünftig war oder nicht, jetzt müssen wir die Sache zum Erfolg bringen - hat sich bislang durchsetzen können, auch wenn der Druck, in absehbarer Zeit zumindest mit dem Rückzug zu beginnen, stärker geworden ist. Jüngsten Umfragen zufolge votiert jeder zweite Amerikaner dafür. Zalmay Khalilzad, Washingtons Botschafter im Irak, hält vehement dagegen: Falls Amerika seine Truppen zu früh abziehe, könnte ein Krieg die gesamte Region erfassen. Falls die Vereinigten Staaten sich aus dem Irak zurückzögen, so wie sie sich aus dem Bürgerkrieg im Libanon, in Afghanistan und Somalia zurückgezogen haben, könnte dies weltweit dramatische Konsequenzen haben.
Immer wieder preist Präsident Bush Iraks Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie.
" In nicht einmal drei Jahren ist die Nation von der Diktatur zur Befreiung, zur Souveränität, zu einer Verfassung, zu nationalen Wahlen gegangen."
Die Iraker hätten unglaublichen Mut gezeigt, sagte Bush vor Studenten der Kansas State University:
" Wenn jemand sagt, wenn du wählst, krieg ich dich, sagt sich mancher, vielleicht will ich gar nicht wählen. Elf Millionen Iraker gingen in Missachtung der Killer zur Wahl. Ein magischer Moment in der Geschichte der Freiheit."
Die Parlamentswahlen fanden am 15. Dezember statt, aber die Regierungsbildung kam und kam nicht voran. Botschafter Khalizad:
" Die Iraker haben gewählt; aber - unglücklicherweise - entlang der Trennungslinien. Um damit fertig zu werden, müssen sie eine Regierung der nationalen Einheit bilden. Dazu ermutigen wir."
Botschafter Khalizad drängt Schiiten wie Kurden, auch Vertreter der sunnitischen Minderheit in die Regierung aufnehmen; er verlangt, dass vor allem die für die Sicherheit verantwortlichen Ministerien von kompetenten, moderaten Ministern geführt werden, die nicht mit einer der Milizen verbunden sind. Prompt gab es Beschwerden, der amerikanische Botschafter mische sich in die Regierungsbildung ein. Khalilzad ungerührt: Amerika unterstütze den Irak, sofern er die richtigen Entscheidungen treffe; der amerikanische Steuerzahler erwarte, dass sein Geld effektiv eingesetzt werde.
150.000 amerikanische Soldaten mit ihren Verbündeten reichten, den Irak zu erobern. Sie reichten aber nicht, die Aufstände zu unterdrücken und die Ordnung im Lande wiederherzustellen. Nach der Faustregel "20 Mann Sicherheitspersonal pro tausend Einwohner" hätte die Besatzungsmacht bis zu 450.000 Mann stark sein müssen. Der Stabschef des amerikanischen Heeres hatte denn auch von einigen hunderttausend Mann gesprochen, die benötigt würden. Er wurde umgehend kaltgestellt. Aber inzwischen ist offenkundig, dass 130.000 Amerikaner und 60.000 Iraker die Lage nicht einmal gemeinsam in den Griff bekommen. Bushs Formel - Wir reduzieren unser Engagement in dem Maße, wie die Iraker das Heft in die Hand nehmen - verschleiert, dass die Kräfte jetzt schon überfordert sind. Senator John McCain von Arizona, ein Republikaner, fordert seit langem die Aufstockung des amerikanischen Kontingents. Außerdem sagt Bush, über den Abzug entscheiden die Kommandeure vor Ort und nicht Politiker in Washington. Die Frage ist, wie lange sich das durchhalten lässt.
Bereits bei seiner Ankunft in Bagdad im Mai 2003 hat sich Paul Bremer, der Chef der Provisorischen Verwaltung, gewundert, dass amerikanische Soldaten der Massenplünderei nicht Einhalt geboten. Das hätte geschehen müssen, sagt er heute. Er hat - vergeblich - zusätzliche Kräfte angefordert.
" Ich bedaure, in den folgenden Wochen nicht energischer darauf gedrängt zu haben. Wir haben hier ein Muster gesetzt, so dass viele Iraker annahmen, wir seien nicht bereit, uns mit Gewalt durchzusetzen."
Bremer nahm auch zu dem Vorwurf Stellung, die Streitkräfte der Besatzungsmacht hätten irakische Munitionsdepots nicht angemessen geschützt, so dass sich Aufständische und Terroristen gleichermaßen bedienen konnten.
" Alles in allen haben wir an die 85.000 Lagerstätten von Munition gefunden. Das war eine durch und durch militarisierte Gesellschaft. 85.000 Lagerstätten zu bewachen, war einfach nicht möglich."
Die irakische Armee habe sich selber aufgelöst. Sie, Saddam Husseins Hauptunterdrückungsinstrument, wieder aufzustellen, hätte einen Bürgerkrieg provozieren und die Zusammenarbeit mit Kurden und Schiiten gefährden können, also habe man eine neue Armee gegründet, sagt Bremer. Offiziere der alten - bis zum Oberst - hätten sich bewerben können. Außerdem sei es falsch, dass den anderen bis zum Ende der Besatzung kein Sold gezahlt worden sei.
Nachdem Anfang des Jahres Präsident Bush ehemalige Außen- und Verteidigungsminister ins Weiße Haus geladen und über den Stand der Dinge informiert hatte, sagte Madeleine Albright, Außenministerin unter Clinton, sie sorge sich um Amerikas Stellung in der Welt; der Iran, Nord-Korea, der Nahe Osten, Lateinamerika, Russland und China verlangten mehr Aufmerksamkeit. Sie habe erklärt, dass der Irakkrieg ein Krieg aus freien Stücken war. Keine Notwendigkeit. Es aber jetzt wieder zu richten sei eine Notwendigkeit. Keine Wahl. Sie kenne niemanden in ihren Kreisen, der nicht wolle, dass wir es schaffen.
Diese Einstellung - jetzt müssen wir einfach Erfolg haben, ganz gleich, wie wir da hineingeraten sind - ist verbreitet; sie führt dazu, dass die Frage, wie sinnvoll es überhaupt war, den Irak anzugreifen, vorerst zurückgestellt wird. Was die Geheimdienste über die im Irak vermuteten Massenvernichtungswaffen wussten, ist groß und breit untersucht worden, und hier räumt Präsident Bush seit geraumer Zeit ein, dass sich vieles als falsch herausgestellt habe; für die Angriffsentscheidung trage er als Präsident die Verantwortung.
Auch die Geheimdienste Frankreichs, Deutschlands und Russlands, kann man immer wieder hören, seien ebenfalls von chemischen und bakteriologischen Waffen im Irak ausgegangen; außerdem hätte Saddam Hussein umgehend neue produziert, falls die Wirtschaftssanktionen, wie von Frankreich und Russland befürwortet, aufgehoben worden wären.
Paul R. Pillar, ein langjähriger Geheimdienstler, inzwischen Hochschullehrer, schrieb, die Erkenntnisse über die irakischen Massenvernichtungswaffen seien fehlerhaft gewesen; aber sie hätten nicht zum Krieg geführt. Die entscheidenden Beschlüsse seien ohne Erkenntnisse der Geheimdienste gefällt worden; diese seien dazu missbraucht worden, getroffene Entscheidungen gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Erst ein Jahr nach Kriegsbeginn habe ein Entscheidungsträger der Bush-Administration erstmals eine Lagebeurteilung angefordert. Der im August 2004 fertig gestellte Bericht habe vor einem Guerilla- oder Bürgerkrieg gewarnt. Im Wahlkampf habe George Bush derlei als bloßes Dafürhalten abgetan.
Das Fehlen einer seriösen Planung für die Besatzungszeit stellt sich als der größte und letztendlich unbegreiflichste Fehler heraus, der Bush und seiner Administration mehr und mehr zu schaffen macht. Weckte er doch erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Regierung.
Geweckt durch die indiskutable Reaktion der Behörden auf die Überschwemmungskatastrophe im Gefolge des Hurrikans Katrina fragt sich die Öffentlichkeit nun, wer eigentlich für die amateurhafte Nachkriegsplanung im Irak verantwortlich ist. Angeblich ging das Pentagon davon aus, seine Truppen schon nach wenigen Monaten bis auf 25.000 Mann abziehen zu können.
In seinem neuesten Buch bietet der Politologe Francis Fukoyama eine originelle Erklärungsmöglichkeit an. Die Erfahrung des Zusammenbruchs der sozialistischen Staaten könne für die überoptimistischen Erwartungen verantwortlich sein, dass alle totalitären Regime wie seinerzeit das Ceausescus in Rumänien bei leichtesten Anstößen von außen in sich zusammenfallen.
Nicht so sehr der Krieg als solcher, sondern die stümperhafte Planung für die Nachkriegszeit bringt George Bush zunehmend in Schwierigkeiten. Zwei von drei Amerikanern machen aus ihrer Auffassung keinen Hehl, dass die Administration Bush - allen Beteuerungen zum Trotz - kein Konzept hat, um mit dem Chaos im Irak fertig zu werden. Drei Jahre nach Beginn des Krieges kann sich niemand der Einsicht verschließen, dass von den amerikanischen Kriegszielen - der Zerstörung der irakischen Massenvernichtungsmittel, dem Sturz Saddam Husseins, dem Wiederaufbau, der Demokratisierung und der Stabilisierung der Region lediglich der Sturz Saddam Husseins erreicht wurde. Nach Lage der Dinge werden die Vereinigten Staaten noch auf Jahre im Irak militärisch wie finanziell gebunden sein. Damit wird ihr außenpolitischer Aktionsradius geringer werden, auch wenn die NATO in Afghanistan eine größere Last schultern wird. Von der Präventivschlagsdoktrin ist in Washington keine Rede mehr. Aber die globalen Probleme des Terrors und der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln bleiben unverändert auf der Tagesordnung.
Und in diesem Zusammenhang nützt es wenig, wenn sich Europa im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten definiert. Auch das Europa der friedlichen Mittel steht der Entwicklung im Iran einigermaßen hilflos gegenüber. Hier scheint das Proliferationsrisiko eher noch größer geworden zu sein. Selbst wenn man den Irakkrieg dafür verantwortlich macht, dass das ernüchterte Libyen die nukleare Schwarzmarktorganisation des Pakistaners Qadeer Khan hat auffliegen lassen.
Der Krieg im Irak, so betont die Administration in Washington immer wieder, sei Teil des weltweiten Krieges gegen den Terror. Tatsächlich ist der Irak unter den gegenwärtigen Bedingungen das größte terroristische Übungs- und Rekrutierungsfeld aller Zeiten. So ist die Bilanz nicht eben erfreulich, drei Jahre nach dem Angriff auf den Irak.