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Drei Jugendliche planen ihren Selbstmord

Tobias Elsässer wagt sich an ein sehr sensibles Thema heran, dass vor allem auch Jugendliche beschäftigt - den Selbstmord. Der Autor hat bei seinen Recherchen im Internet schockierend feststellen müssen, dass das Tabuthema dort offen in Foren diskutiert wird.

Von Ina Nefzer |
    Train, Sailor und Whisper wollen gemeinsam Selbstmord begehen. Drei Jugendliche, die nur wenig voneinander wissen. Die weder ihre richtigen Namen kennen, noch sich jemals gegenüber standen. Ihre Begegnungen finden im Internet statt, in einem Chatroom.

    Train: Die Zeit ist abgelaufen. Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr.
    Whisper: Habt ihr schon besprochen, wo wir es tun werden?
    Sailor: Du hast es aber eilig.
    Train: Bin noch auf der Suche nach einem geeigneten Ort.
    Whisper: Wie sieht der weitere Plan aus?
    Train: Ich bestimme den Ort. Den Zeitpunkt könnt ihr dann festlegen.
    Sailor: Ich könnte uns Schlaftabletten besorgen.
    Whisper: Kann nicht gut schlucken.
    Sailor: Schon mal was von Zerkleinern gehört?
    Train: Wir werden springen.


    Die Drei ahnen nicht, dass ein Vierter mitliest: Yoschua. Auch er ein jugendlicher Schüler, ein Computer-Freak, der gerade ein Programm entwickelt, das ihm - unerlaubt natürlich - Zutritt in private Chatrooms ermöglicht. Dieser heimliche Mitleser könnte zu ihrem Schutzengel werden.

    Tobias Elsässer weiß, wie prekär das Thema seines neuen Romans "Für Niemand" - gerade für Jugendliche - ist. Wohl deswegen präsentiert er Yoschua schon auf der ersten Buchseite - noch vor allen anderen Figuren. Der potenzielle Retter macht das überwiegend innere Geschehen, das auf den kommenden 156 Seiten ausgebreitet wird, erträglicher. Und spannender.

    Die Rolle, die das Internet spielt, sieht der Autor durchaus kritisch. Einerseits vermag es suizidgefährdete Jugendliche aus ihrer Isolation zu holen, weil sie - durch die geschützte Anonymität - die Planung des eigenen Selbstmords zu thematisieren wagen. Andererseits sind sie dort aber erst recht allein gelassen:

    "Schockiert hat mich wirklich vor allem die Tatsache, dass wenn man "Suizid" eingibt und noch ein paar Stichworte bei Google - wie man es eben so macht, wenn man recherchiert. Dann wird man feststellen, dass man unglaublich viele Foren findet, wo sich die Leute gegenseitig empfehlen, wie man sich am besten umbringt. Das war für mich die Erkenntnis, die ich am erschreckendsten gefunden hab, bei der Recherche: Dass es schwieriger ist, eine Telefonnummer zu finden, wo man wirklich anrufen kann. Und da jemand sitzt, der auch fachlich einem in so einer Notsituation helfen kann. Stattdessen findet man einfach lauter chats, wo die Leute sich eher austauschen, in einer merkwürdigen Sprache. Wo man auch nicht weiß, ob sie es ernst meinen. Spielen die jetzt eine Rolle, wollen die sich eigentlich jetzt über das Themas "Suizid" unterhalten, weil es ein spannendes Thema ist, ein düsteres Thema, mit dem man einfach das Gespräch länger am Laufen halten kann? Das fand ich schon sehr erschreckend, dass das Internet da im Prinzip oft keine Hilfe bietet."

    Drei Jugendliche, drei Leben, drei Notlagen: Dass Train im wirklichen Leben Nidal heißt, Sailor Sammy und Whisper Marie - lässt Tobias Elsässer lange offen. Der Leser muss vieles in seinem Roman selbst entschlüsseln. Fragen stellen und Antworten finden - mit dieser Herangehensweise moduliert der Autor sein Thema mal leise, mal laut:

    Tastend kreist er es ein, in zwölf Kapiteln mit zwölf Fragen: Von "Wen wirst du vermissen?" über "Wofür hasst du dich?" zu "Wonach suchst du?".

    Wie hat er es geschafft, derart authentische Chat-Dialoge zu schreiben?

    "Man geht in Chatrooms und schaut, wie die Leute reden. Man muss die Figuren sehr gut kennen und versucht, was ist das Level der Einzelnen, auch das sprachliche. Wie können sie miteinander kommunizieren? Was wollen sie auch nicht preisgeben?"

    Das, was Train, Whisper und Sailor im Chat nicht preisgeben, sind die Gründe und Umstände, die zu Nidals, Maries und Sammys Verzweiflung führten, zum Gefühl von Ausweglosigkeit und ihren Gedanken an Suizid. Diese Motive scheinen in den verschachtelten Einzelepisoden auf, wenn schlaglichtartig Leben und Innenleben der Figuren beleuchtet wird:

    Marie, sie brachte früher gern mit ihrer Mutter, Vaters Kreditkarte zum Glühen. Doch ein Erlebnis hat ihr behütetes Leben durchschnitten, hat sie aus der Bahn geworfen. Marie zieht sich ganz in sich selbst zurück, schreibt Briefe an eine Emma. Erst als eine Kurzepisode das Thema 'Babyklappe' aufwirft, beginnt man zu verstehen.

    Auch Sammy kommt aus bürgerlichen Verhältnissen, gegen die sie rebelliert. Sie fühlt sich ungeliebt, versucht Halt in der Musik zu finden:

    "Sammy ist so eine Figur, die mir sehr nahe ist, weil ich hab als Jugendlicher angefangen, Musik zu machen und mir geht es heute noch so, dass ich mit den meisten Liedern, die ich schreibe nicht zufrieden bin. Deshalb, weil ich das Gefühl habe, wenn man kreativ sein will und Songs schreiben will, dann passiert es ganz leicht, dass man kopiert. Und eigentlich sucht ja jeder nach seiner Identität, eben auch auf musikalische Weise und Sammy tut das ja auch. Sammy sucht eigentlich ständig nach ihrer Identität auch über die Musik und erst am Ende des Buchs erreicht sie ja sozusagen dieses höhere Level und dieses Gefühl "Ich hab meine Musik gefunden". Also hab ich jetzt auch einen Grund zu leben."

    Der dritte im Bunde ist Nidal, ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund, der in seiner Clique gern den coolen Macho spielt. Er ist klug, wird sogar schulisch gefördert und kommt an eine neue Schule, findet sich dort aber nicht zurecht. Nidal ist schwul und er weiß, wenn er zuhause sein wahres Gesicht zeigen würde, würde es zur Katastrophe kommen.

    Neben den Jugendlichen kommen auch Außenstehende zu Wort, die in das Geschehen hineingezogen werden. Ein Mädchen, das nebenbei bei der Telefon-Seelsorge jobbt und heillos überfordert ist oder ein Zugführer, der im Gespräch mit einer Psychologin herauszufinden versucht, wie er weiterleben soll, nachdem ein Mensch vor ihm auf den Gleisen lag:

    Warum tut jemand so etwas? Warum will der jemand mich, einen Unschuldigen, mit hineinziehen? Ich will kein Mörder sein, verstehen Sie?

    Viele einzelne Dialoge, Szenen, Episoden und Handlungsstränge - aus wechselnden Perspektiven - verwebt der Autor zu einem dichten Handlungsgeflecht und überlässt es dem Leser, alle Einzelteile nach und nach zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Diese literarische Konstruktion bindet den Leser maximal ein und bietet Hochspannung bis zum überraschenden Ende. Elsässer schafft es, das Thema Suizid und jugendliche Identitätssuche differenziert, subtil und schonungslos zu vergegenwärtigen. Und in all dem Unglück immer wieder die rettende Frage nahezulegen: Wie kann ich trotz allem weiterleben? Mittendrin findet Sammy plötzlich eine Antwort und die klingt nur auf den ersten Blick einfach: "Vielleicht ist das der Trick. Die Lösung. Für alles. Sich zu mögen."

    Tobias Elsässer: Für Niemand, Sauerländer 2011, Euro 12,95.