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Drei mal Neuanfänge: Mancher gelingt, mancher nicht

In den drei Filmen dieser Woche geht es um Neuanfänge. In "Gnade" von Matthias Glasner versucht eine Familie in Norwegen neu zu starten. "Angels' Share - Ein Schluck für die Engel" von Ken Loach handelt von einem Ganoven, der zum Wiskey-Experten wird, und "Miss Bala" von Gerardo Naranjo zeigt den Neustart einer jungen Frau in Mexiko an der Grenze zu den USA.

Von Hartwig Tegeler |
    "Gnade" von Matthias Glasners

    "Was ist los? - Ich habe Angst, ich habe was angefahren. Ich bin einfach weitergefahren."

    Und damit scheint der Neuanfang, den Niels, Maria und ihr Sohn Markus in Matthias Glasners Film "Gnade" als Auswanderer in Norwegen suchten, er scheint schon gescheitert. Es stellt sich heraus, dass das Mädchen, das Maria anfuhr, noch lebte. Und überlebt hätte - Konjunktiv -, wenn Maria angehalten hätte.

    "Ich bin das nicht. Ich bin nicht dieser Mensch. Ich stand so unter Schock."

    Matthias Glasner erzählt in "Gnade" kein simples moralisches Drama um Schuld und Sühne, denn der Tod des Mädchens, dieses gemeinsame Geheimnis lassen Niels (Jürgen Vogel) und Maria (Birgit Minichmayr) wieder näher zusammen rücken. Aber das ist nur die eine Seite. Heile Welt gibt es damit noch lange nicht. Die Landschaft, die "Gnade" zeigt, da, am Rande des Eismeers, im trüben Licht der Polarnacht, diese winterliche Wüste wird zu einer Metapher für die Seelen der Protagonisten, die neuen Halt suchten, ihn aber in der Fremde vollkommen verloren haben. Doch dieser Film heißt nicht ohne Grund "Gnade".

    "Gnade" von Matthias Glasner - empfehlenswert.


    "Angels’ Share - Ein Schluck für die Engel" von Ken Loach

    Robbies Neuanfang, so wie Ken Loachs neuer Film "Angels’ Share - Ein Schluck für die Engel", beginnt vor Gericht. Der junge Mann aus Glasgow, Säufer, Kokser hat wieder einmal zugeschlagen.

    "Ihre Akte ist erschreckend. Die meiste Zeit in ihrem noch jungen Leben haben Sie sich wie ein Ganove verhalten. Doch sind sie offensichtlich auch ein junger Mann mit Energie und Talent."

    Weil Robbie Vater wird, landet er nicht im Knast, sondern mit einem Strafkonto von 300 Stunden an gemeinnütziger Arbeit beim engagierten Sozialarbeiter und Whisky-Liebhaber Harry, der ihn und ein paar andere junge Glasgower, alle Looser, Säufer, Hänger und Ausgegrenzte, unter seine Fittiche nimmt. Wobei Robbie, der alles, aber noch keinen Whisky getrunken hat, für diesen traditionellen schottischen Tropfen sofort eine verblüffend feine Nase entwickelt.

    "Ja, ich dachte vielleicht ein Glen oder vielleicht ein Cragganmore. - Wissen sie, das ist sehr interessant, denn ich schwanke selbst zwischen diesen beiden."

    Ken Loach - inzwischen ist der Meister des sozialkritischen, linken britischen Kinos weit über 70 Jahre alt - hat mit "Angels’ Share" einen schönen, märchenhaften Ton gefunden, ohne dabei allerdings die Realität schön zu reden. Paradoxerweise bekommt Robbie seine Chance für einen Neufang, weil er zusammen mit seinen Kumpels ein paar Flaschen eines absurd teuren Whiskys klaut. Kratzen tut das niemand, aber schaden tut es auch nicht.

    "Niemand sieht mich, ich verschwinde einfach hinter den Fässern."

    So darf Robbie am Ende von "Angels’ Share" mit seiner Freundin und ihrem kleinen Jungen zum neuen Job in der Destillerie aufbrechen. Seine drei Kumpels bleiben zurück. Ach, komm, meint der eine, was soll´s, lassen wir uns volllaufen. Eine Utopie sieht anders aus. Ein wirklicher Neuanfang auch. Ken Loach ist Realist; sein Blick auf die Realität ist in seinem neuen Film hoffnungsvoll, ja, verspielt, aber nicht naiv.

    "Angels’ Share - Ein Schluck für die Engel" - herausragend.


    "Miss Bala" von Gerardo Naranja

    Ein Neuanfang in Mexiko, direkt an der Grenze zu den USA, Drogenkrieg, Armenviertel... wie könnte der aussehen? Vielleicht, indem Laura, Hauptfigur in "Miss Bala", als Schönheitskönigin der Armut entflieht?

    "Ich bin Laura Gerero. Und ich bin 23. Ich habe den großen Traum, diesen Staat und seine wunderschönen Frauen zu vertreten."

    Am Abend geht Laura mit einer Freundin in einen Nachtclub, die Schießerei zwischen der Drogenmafia und der Polizei wird sie überleben. Aber sie hat zuviel gesehen. Der Polizist, den sie um Hilfe bittet, ja, er fährt sie direkt zum lokalen Chef des Drogenkartells.

    "Es tut mir leid, es war dumm von mir. Lassen Sie mich bitte frei.
    Keine Angst, Cannelita. Ich kann dir helfen. Ich erwarte aber auch, dass du etwas für mich tust. Was sagst du dazu, Cannelita?"

    Das ist der Beginn von Lauras Höllenfahrt, als Geldkurier, als Fahrerin, als Lockvogel für´s Drogenkartell, dann als Spitzel für die Polizei. Regisseur Gerardo Naranjo wirft in "Miss Bala" einen ungeschönten Blick auf Mexiko, diese nicht mehr zivile Gesellschaft, in der Chaos und Gewalt über das Gesetz gesiegt haben. Auf ihrem Horrortrip steht Laura einmal auf der Straße; sie könnte nach Hause gehen. Aber sie muss den Teufelspakt mit dem Drogenboss erfüllen, denn er weiss, wo sie und ihre Familie wohnen.

    Es ist dieses Gefühl, das viele Menschen in Mexiko haben, niemandem trauen zu können. Wer gehört zur Polizei, wer zu den Kartellen? Wer kann dir helfen? Das ist die entscheidende Frage, sagt Regisseur Naranjo. Manchmal wirkt dieser Film mit seinen ausgewaschenen Farben wie eine Dokumentation, auch wenn Lauras Geschichte eine aus dem Kino bleibt. Denn die junge Frau, die doch nur Schönheitskönigin werden wollte, schafft es, in diesem Chaos von Gesetzlosigkeit zu überleben. Ob das schon reicht, dem Film ein Happyend zu attestieren? Wohl kaum.

    "Miss Bala" von Gerardo Naranjo - herausragend.