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Drei Sommer am See

Ein Schloss am Wörthersee - das war nichts für Johannes Brahms. Adlige, musikbegeisterte Damen stellten ihm dort nach und störten ihn bei der Arbeit. So entfloh er in ein kleines Häuschen direkt am See, um ungestört zu komponieren. Hauptsächlich in D-Dur - die Hauptwerke seiner drei Sommer in Pörtschach sind die zweite Sinfonie und das Violinkonzert.

Von Mascha Drost |
    Es war eine sehr glückliche Zeit für Brahms, das hört man dem Konzert an und auch unserer neuen Platte: Vadim Repin ist der Solist, ihn begleiten Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester.

    " Johannes Brahms
    1. Satz (Ausschnitt) aus: Violinkonzert D-Dur, op. 77
    aus: Allegro non troppo
    Vadim Repin, Violine
    Gewandhausorchester Leipzig
    Leitung: Riccardo Chailly
    DG LC 0173
    477 7470"

    Das Leipziger Orchester dieser Aufnahme war schon bei der Uraufführung des Stückes dabei: 1879, als das Violinkonzert von Johannes Brahms zum ersten Mal erklang. Joseph Joachim war der Solist damals, und neben dieser Tätigkeit als öffentlicher Taufpate auch musikalischer Geburtshelfer - denn Brahms hatte von den technischen Möglichkeiten der Geige verhältnismäßig wenig Ahnung. Und so spiegelt dieses Konzert auch die musikalische Persönlichkeit Joachims wider: Keine geigerisch-virtuosen Mätzchen, Solist und Orchester stehen sich gleichberechtigt gegenüber. In dieser Tradition sieht - und hört - sich Vadim Repin auf seiner neuen Aufnahme. Gleich zu Anfang: Statt, wie so oft gehört ungestüm über Noten und Geige herzufallen, setzt Repin auf einen kontrollierten Angriff - der seine Wirkung deswegen aber nicht verfehlt, ganz im Gegenteil. Jede Attacke, jeder Akkord sitzt und wirkt - ohne dass unnötig viele Bogenhaare dran glauben müssen, ohne Schnarren und Kratzen. Ein entschlackter Brahms, nicht nur solistisch, sondern auch vom Orchester. Chailly und das Gewandhausorchester kommen ohne romantische Glasur aus, setzen stattdessen auf einen zwar warmen, aber schlanken und durchsichtigen Klang. Das alles dürfte ganz im Sinne von Brahms und Joseph Joachim sein; auch wenn von diesem Konzert keine Aufnahme mit Joachim existiert - aus Erzählungen und von wenigen Tondokumenten weiß man, dass er eine sehr gerade und schnörkellose Art zu spielen hatte. Nichtsdestotrotz hochvirtuos, er war einer der größten - wenn nicht sogar DER größte Geiger seiner Zeit, wie die von ihm komponierte Kadenz zum Brahms-Konzert beweist. Auf die hat Vadim Repin jedoch verzichtet - er spielt die Kadenz von Jascha Heifetz.

    "Johannes Brahms
    aus: Violinkonzert D-Dur, op. 77
    aus: 1. Satz Allegro non troppo
    Vadim Repin, Violine
    Gewandhausorchester Leipzig
    Leitung: Riccardo Chailly
    DG LC 0173
    477 7470"

    Als "Explosion einer Bombe" - so hat Vadim Repin seinen ersten Höreindruck dieser Heifetz-Kadenz mit Heifetz selbst beschrieben - dem kann ich mich nur anschließen. So sehr Repin die Gestaltung dieser Kadenz auch gelungen ist - ein bisschen mehr Sprengstoff hätte seine Interpretation noch vertragen können: hier ein ganz kurzer Vergleich mit dem "Original".

    "Johannes Brahms
    aus: Violinkonzert
    aus: 1. Satz Kadenz
    Jascha Heifetz, Violine
    Chicago Symphony
    Leitung: Fritz Reiner
    RCA LC 0316
    0902661779-2"

    Ein kurzer Ausflug zu Jascha Heifetz, und nun wieder zu unserer heutigen Neuen Platte, hier im Deutschlandfunk.

    Im Kärntner Land, in dem das Violinkonzert entstand, würden die Melodien nur so umherfliegen, behauptete Brahms in einem Brief, man müsse aufpassen, sie nicht zu zertreten. Eine der schönsten Melodien konnte sich glücklicherweise vor Brahms' Stiefeln retten, in den zweiten Satz des Violinkonzerts. Pablo de Sarasate, der große Virtuose des 19. Jahrhunderts, nörgelte allerdings, der Geiger müsse sich diese - seiner Meinung nach - einzige Melodie im ganzen Konzert von einer Oboe vorspielen lassen; Sarasate hat dieses Konzert nie gespielt. Vielleicht lag es einfach daran, dass er keine Oboisten wie die des Gewandhauses kennengelernt hatte, weich und gleichmäßig im Ton, wie überhaupt alle Bläser dieses Orchesters, die sich zu Anfang des 2. Satzes samtweich aneinander schmiegen

    "Johannes Brahms
    aus: Violinkonzert D-Dur, op. 77
    aus: 2. Satz Allegro non troppo
    Vadim Repin, Violine
    Gewandhausorchester Leipzig
    Leitung: Riccardo Chailly
    DG LC 0173
    477 7470"

    Warm, innig und trotzdem nicht zu süß - so hätte sich Brahms diesen zweiten Satz wohl gewünscht. Der gebürtige Hamburger war alles andere als ein Süßholzraspler und Repin ist es ebenso wenig.

    Dass sich neben dem Violinkonzert auch noch ein anderes Konzert auf der CD verbirgt, wird erst bei genauerem Hinsehen klar - und auch, dass dazu ein zweiter Solist nötig ist. Der ist zwar - was die Schriftgröße als auch die Fotodichte dieser CD-Produktion betrifft - etwas zu kurz gekommen, musikalisch aber kann sich Truls Mørk nicht beschweren: Brahms hat dem Cello in seinem Doppelkonzert einen völlig gleichberechtigten Part eingeräumt, es vielleicht sogar etwas bevorzugt. Es ist sein letztes Orchesterwerk, schroff und etwas unnahbar, des Öfteren wird es als Werk der "schönen Stellen" bezeichnet, als ganzes jedoch kein großer Wurf. Mit diesem Unfug könnte diese neue Einspielung ein für allemal aufräumen. Dass beide Solisten die teilweise sehr ungeigerischen bzw. uncellistischen Einfälle des Stücks mühelos meistern versteht sich von selbst; sie schaffen es aber auch, die manchmal etwas ruppige und verkopfte Musik des späten Brahms zugänglich zu machen, ohne sie weichzuspülen.

    "Johannes Brahms
    aus: Doppelkonzert für Violine und Violoncello a-moll, op. 102
    aus: 1. Satz
    Vadim Repin, Violine
    Truls Mørk, Violoncello
    Gewandhausorchester Leipzig
    Leitung: Riccardo Chailly
    DG LC 0173
    477 7470"

    Vielleicht lehne ich mich mit der folgenden Behauptung ein wenig zu weit aus Fenster, aber: das Brahms Doppelkonzert scheint ein neues Traumpaar gefunden zu haben. Vadim Repin und Truls Mørk arbeiten zwar das erste Mal zusammen, doch stimmen sie - wie der Cellist im Booklet erklärt - in ihrer musikalischen Herangehensweise, ihrem perfektionistischen Anspruch was Klang, Ausdruck und Phrasierung betrifft, bestens überein. Das scheint auch auf die Instrumente - eine Guarnieri-Geige und ein Montagnana-Cello - zuzutreffen, denn der Reiz dieser Aufnahme besteht nicht in den Reibungen und Gegensätzen der beiden Klangfarben, sondern vielmehr in deren Verschmelzung.

    Mit dem Doppelkonzert wollte Brahms die auseinandergegangene Freundschaft zu Joseph Joachim wieder neubeleben - die versöhnlichen Töne im dritten Satz sind nicht zu überhören und haben die gewünschte Wirkung nicht verfehlt.

    "Johannes Brahms
    aus: Doppelkonzert für Violine und Violoncello a-moll, op. 102
    aus: 3. Satz
    Vadim Repin, Violine
    Truls Mørk, Violoncello
    Gewandhausorchester Leipzig
    Leitung: Riccardo Chailly
    DG LC 0173
    477 7470"

    Vadim Repin und Truls Mørk mit dem Doppelkonzert von Johannes Brahms, begleitet von Riccardo Chailly und dem Gewandhausorchester Leipzig. Der Schluss dieser wunderbaren Neuen Platte bildet auch den Schluss dieser Sendung; im Studio verabschiedet sich Mascha Drost - Ihnen noch einen schönen Sonntagmorgen.