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Dresden
Europäische Konferenz progressiver Juden

Das progressiv-liberale Judentum ist vor rund 200 Jahren in Deutschland entstanden und gehörte bis zur NS-Zeit zu den wichtigsten jüdischen Strömungen in Deutschland. Die vor 20 Jahren gegründete "Union Progressiver Juden in Deutschland" traf sich mit dem europäischen Dachverband zur Konferenz in Dresden.

Von Wolfram Nagel | 30.04.2014
    Eine junge Frau mit Kippa in Berlin
    Eine junge Frau mit Kippa in Berlin (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    "Die Hauptaufgabe einer zweijährlich stattfindenden Jahresversammlung ist ja die Gemeinschaft zu pflegen und sich über die einzelnen Probleme in den verschiedenen europäischen Ländern auszutauschen. Und das hat wunderbar funktioniert. Man konnte das auch in den Gottesdiensten sehen. Trotz unterschiedlicher Traditionen ist es gelungen, hier ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, und das ist die Hauptaufgabe dieser Jahrestagung."
    Seit Anfang der 1990er Jahre habe das progressive Judentum einen bis dahin kaum erwarteten Aufschwung erlebt, so Rabbiner Walter Homolka, Direktor des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam. 22 Gemeinden sowie drei Organisationen gehörten der Union Progressiver Juden in Deutschland inzwischen an. Sie sind nicht nur Teil der europäischen Dachorganisation, sondern auch der 1929 in London gegründeten Weltunion für progressives Judentum. Diese vertritt 1,8 Millionen liberale Juden weltweit und ist damit die mitgliederstärkste religiöse Vereinigung im Judentum überhaupt.
    "Die liberale Bewegung hat sich im Wesentlichen durch den Umbruch von 1989 wieder gegründet. Das hatte einmal zu tun damit, dass die amerikanischen Streitkräfte ihre Militär-Seelsorgestationen zurückgezogen haben und auch viel Zivilpersonal zurückgelassen haben...die dann hier einen Aspekt ihres religiösen Lebens vermisst haben. Aber auch die russischen Zuwanderer haben sich auf die Suche nach einer Identität für ihr Judentum begeben. Und das war der Grund, weshalb das liberale Judentum hier an der Wiege, wo Deutschland ja federführend war für die Entwicklung des liberalen Judentums im 19. Jahrhundert, einfach neu anknüpfen konnte."
    So ganz bei Null musste man nach dem politischen Umbruch 1989/90 jedoch nicht anfangen. In West-Berlin und in den jüdischen Gemeinden der DDR war die liberale Tradition des deutschen Judentums nach dem 2. Weltkrieg weiter gepflegt worden, wenn auch mit eingeschränkten Möglichkeiten.
    "Man kann sehen, dass die liberale Tradition in Deutschland nie tot war. Also in Berlin-Westberlin hat sie sich gehalten sozusagen für die Bundesrepublik Deutschland ganz exemplarisch und in der DDR war' s mein er Meinung nach sowieso nicht besonders orthodox ... da war durchaus eine Saat noch fruchtbar, die nun ausgeschlagen hat und die sich nun entwickelt."
    Moderne, architektonisch anspruchvolle Synagoge am Hasenberg
    Auch das ist ein Grund, weshalb sich die Europäische Union für das progressive Judentum Dresden als Tagungsort ausgesucht hat. Die Stadt kann nicht nur auf eine lange Tradition liberal-jüdischen Lebens verweisen, etwa mit der 1840 geweihten Sempersynagoge. Mit der neuen Synagoge am Hasenberg wurde Anfang 2000 eine der modernsten und architektonisch anspruchsvollsten Synagogen in Deutschland errichtet.
    "Für uns ist unsere Bewegung in Deutschland besonders wichtig ... Wir waren schon zwei Mal in den letzten 20 Jahren in Deutschland und haben uns entschieden, Dresden ist zentral, eine schöne Stadt, aber es gibt auch historische Gründe. Für uns ein wichtiger Punkt, dass hier vor acht Jahren die Ordination von drei Rabbinern von unserem Rabbinerseminar in Deutschland vom Geigerkolleg in Dresden stattgefunden hat und das war für uns historisch für die ganze jüdische Welt, historisch das erste mal soweit nach dem Krieg, dass Rabbiner in Deutschland ordiniert wurden."
    Die Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs prägen seitdem zunehmend das liberale Gemeindeleben nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ost- und Westeuropa, als Rabbiner und Kantoren. Für den Briten Leslie Bergmann, Präsident der Europäischen Union für das progressive Judentum, grenzt es fast an ein Wunder, dass selbst in Polen neue jüdische Gemeinden gegründet werden:
    "Erstmals Polen, wo man gedacht hat, dass überhaupt nicht übergeblieben ist, hat man gedacht, vielleicht sind dort 5000 Juden, heute sind' s 50 000. Und das neueste Wunder ist Spanien, wo vor 500 Jahren ... da waren keine Juden ... seit den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist das ein Blühen von jüdisches Leben in Spanien wieder."
    Ein Thema des Kongresses war auch die Situation der Juden in der Ukraine und in Russland.
    Besonders in der Ost-Ukraine und auf der Krim sind die jüdischen Gemeinden in das Spannungsfeld des Konflikts geraten. Zunehmender Antisemitismus, bspw. von den Gruppierungen des sog. Rechten Sektors oder den Anhängern des Nazikollaborateurs Bandera sowie ein übersteigerter Nationalismus drohe die Gemeinden zu spalten, sagt Natalia Verzhborska aus Kiew:
    "Ich habe mit meinen Kollegen in Moskau, in St. Petersburg und auch in der Ukraine gesprochen, und alle versuchen zumindest jetzt eine Position zu halten in den Gemeinden, damit die jüdischen Gemeinden diese Spaltung nicht haben, weil natürlich in den Gemeinden gibt es die Leute, die Verständnis für die Situation haben."
    Gehören doch den jüdischen Gemeinden in der Ukraine vor allem russischsprachige Mitglieder aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion an. Konflikte drohen aber auch von anderer Seite. Die sich in den vergangenen Jahren langsam etablierenden liberalen Gemeinden werden von Chabat Lubawitsch bedrängt. Diese sektenähnliche orthodoxe Strömung übe sehr großen Einfluss in Osteuropa aus, so Natalia Verzhborska. Ehemals liberale Synagogen wie z. B. die Hauptsynagoge von St. Petersburg, sind fest in deren Hand. Ein anderes Beispiel ist die liberale Gemeinde auf der Krim.
    "Die Beziehungen zwischen Chabat Lubawitsch und den Reformbewegungen in der ehemaligen Sowjetunion war nicht immer einfach und jetzt natürlich in der Krise ist ein bisschen schlimmer geworden, weil manche Chabat-Lubawisch-Rabbiner versuchen auch manche Synagogen einfach zu bekommen. Wir hatten die gleiche Situation in Simferopol ... plötzlich kommt da ein Lubawitscher und sagt, wir machen hier eine neue Gemeinde und wir möchten helfen, aber dann die Synagoge soll chabat-orthodox sein."
    Verschärfte Situation der liberalen Gemeinde von Simferopol
    Verschärft hat sich die Situation der liberalen Gemeinde von Simferopol nach der Annektion der Krim durch Russland. Aber nicht nur die Situation dort sei Thema des Kongresses gewesen, so Walter Homolka, sondern bspw. auch die Frage, wie es in Ungarn weiter geht:
    "Die liberalen Gemeinden sind in Ungarn diskriminiert durch das Kirchengesetz Viktor Orbans von 2011 und trotz einer kürzlichen Verurteilung vor dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof sieht es nicht danach aus, als würde sich hier eine schnelle Lösung ergeben."
    Insgesamt befasste sich der Kongress natürlich auch mit ganz innerjüdischen Themen, etwa die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, Formen des liberalen Gottesdienstes, die Gleichberechtigung von Frau und Mann, oder die Stellung der progressiv-liberalen Gemeinden im Verhältnis zu anderen jüdischen Strömungen. Die liberale Bewegung sei in Deutschland noch immer ganz klar in der Minderheit, sagt Sonja Guentner, die Vorsitzende der Union progressiver Juden in Deutschland.
    "Das ist zur Zeit eine Entwicklungsphase, die wir einfach haben, die großen Strömungen des Judentums sind in Deutschland inzwischen fest etabliert, das ist die Orthodoxie, zu einem Teil auch die Ultraorthodoxie, das ist Masorti und das ist auch in sehr wachsendem Tempo die progressive Bewegung, und wir werden sehen, wie sich das weiter entwickelt. Da sind wir noch sehr am Anfang. Das progressive Judentum ist eine junge Bewegung."
    Eine Bewegung, die sich allerdings bereits wieder mit den alten, längst überwunden geglaubten Problemen befassen müsse. Zwar stärken neue Mitglieder aus Israel oder den USA die Gemeinden, doch die Zuwanderungswelle aus Osteuropa ist verebbt. Das Problem der Überalterung betreffe alle Gemeinden, ob orthodox oder liberal.
    "Da sehen wir, dass die starke Vergrößerung der Gemeinden leider nicht dazu geführt hat, dass sie auch demografisch stabiler geworden wären. Wir sehen jetzt nach 20 Jahren, dass im Grunde genommen die gleichen Probleme, die wir vor 20 Jahren hatten, wieder da sind."
    Anders formuliert: Die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben ein großes Nachwuchsproblem. Und das ist existenziell:
    "Insgesamt schwindet die Zahl der Gemeindemitglieder über das gesamte jüdische Spektrum. ... Die Einheitsgemeinde war ihr erster Anlaufort, weil sie da die Strukturelle Hilfe bekommen haben zur Integration, die sie brauchten, und wie das dann in der zweiten Generation weiter geht, auch das differenziert sich im Moment sehr stark aus."