Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Dröhnendes Moral-Debakel

Sebastian Baumgartens Tolstoi-Inszenierung suggeriert ein Kontinuum des Bösen: vom russischen Urmenschen über die Neureichen der post-sowjetischen Ära bis hin zu Menschen der Zukunft. Die dröhnende Bühnenästhetik von der Zottelkostümierung bis zum Russen-Rap erzeugt jedoch eine Künstlichkeit, die den Inhalt überlagert.

Von Karin Fischer | 26.11.2012
    Die Arme weit ausgebreitet wie die Christusstatue über der Stadt Rio de Janeiro, blickt ein Pope streng hinunter aufs Bühnenvolk. Die großräumige Figur ist selbst schon das Ganze Bühnenbild, ihr Korpus enthält Eingänge, Aufbauten oder Rampen und kann um 180 Grad gedreht werden. Eine Videoprojektion lässt immer wieder das Gesicht von Milan Fras, Sänger der slowenischen Rockband "Laibach” darauf erscheinen, die Gruppe hat den Sound zum Stück komponiert, einen bildhaften Klangteppich mit satten Geräuschen und harter Musik, ergänzt von Video-Schnipseln: politische Aufmärsche in der Sowjetunion, lächelnde Pioniere, pflügende Bauern.

    Die Philosophie der Band, auf Wikipedia nachzulesen, besteht aus der Integration aller musikalischer Stile in der post-post-, also der "nach allem"-Ära, aber mit einer politischen Botschaft. Ähnlich widersprüchlich funktioniert die Inszenierung Sebastian Baumgartens. Die Botschaft des Popen ist nämlich eine doppelte: Die Orthodoxie in Russland lebt und sieht alles, und: Dieses Theater will sie entlarven, indem sie ihr huldigt. Damit vollzieht Baumgarten einerseits Tolstois Kritik an der offiziellen Kirche nach. Der Regisseur weitet aber den historischen Raum des Dramas aus, indem er es in drei unterschiedlichen Zeitaltern spielen lässt.

    Zu Beginn sind alle Figuren extrem körperbehaart und kommen zottelig wie Orang-Utans daher, eine deutliche Anspielung auf den Neandertaler im oder den Wolfscharakter des Menschen. Und tatsächlich erzählt Tolstoi im Drama ja eine Geschichte jenseits aller Moral. Der alte Bauer Pjotr wird von seiner Frau vergiftet, damit sie den Knecht Nikita heiraten kann, der sogleich ihre behinderte Tochter verführt, deren neu geborenes Kind er dann im Keller ermordet und verscharrt. Nikitas Vater Akim fordert zwar beharrlich "Denk an deine Seele", und ganz am Ende scheint Nikita tatsächlich geläutert, aber zuvor sind so gründlich alle Werte zerstört worden, dass diese "Erlösung" eigentlich keine mehr sein kann.
    O-Ton "Die Leute sagen, es sei schrecklich, falsch zu schwören. Dabei ist es ganz einfach, ganz einfach."

    Baumgartens Idee der drei Zeiten suggeriert ein Kontinuum des Bösen: vom russischen Urmenschen mit Fellmütze und Samowar über die Neureichen der post-sowjetischen Ära, die in Luxus und Alkohol schwelgen bis zu glatten und glatzköpfigen Menschen aus der Zukunft. Andererseits katapultiert die im Wortsinne dröhnende Bühnenästhetik von der Zottelkostümierung bis zum Russen-Rap die Inszenierung in eine extreme Künstlichkeit, vor der jeder Inhalt verblassen muss. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, allen voran Till Wonka und Imogen Kogge als Nikita und seine Mutter, machen das Beste aus der trashig-karikaturhaften Überzeichnung ihrer Rollen. Falls die Inszenierung aber ein Abgesang auf russische Autoritäten sein sollte, wie sie in Form der Orthodoxie das Land auch heute wieder fest im Griff haben, ging auch das im allgemeinen Getöse unter.