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"Du bist die Erste, die noch lebt"

Im Jahr 2005 hat die WHO weltweit 66.000 Nieren-Transplantationen gezählt. Zehn Mal so viele wären nötig gewesen, um wirklich allen Kranken zu helfen. Kein Wunder, dass immer mehr Verzweifelte den Weg ins Ausland suchen. Das Geschäft boomt jetzt in Ägypten. Hier gibt es genügend Arme, denen man eine Niere abkaufen oder zur Not auch stehlen kann.

Von Esther Saoub | 06.06.2009
    Ingy Hassan ist auf dem Weg zu einer Bekannten, als neben ihr ein Auto bremst. Die Frau am Steuer fragt nach einem islamischen Heiligtum ganz in der Nähe. Ingy beugt sich zum Fenster, um der Frau den Weg zu beschreiben. Was danach geschehen ist, weiß sie nicht mehr:

    "Irgendwann bin ich wieder aufgewacht und lag in der Wüste. Viel später haben mich Leute gefragt, ob die Frau mir etwas ins Gesicht gesprüht hat, oder in den Händen hatte, aber sie hielt nur das Lenkrad fest. Mehr weiß ich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, war ich in der Wüste."

    Offenbar wurde die 40-jährige Ingy betäubt und entführt, um ihr Organe zu entnehmen. Ihre Zuckerkrankheit hat sie gerettet:

    "Irgendwann, bevor ich richtig wach wurde, habe ich ein Flüstern und Geräusche gehört: Eine Frau hat gesagt, 'sie hat Diabetes'. Als ich dann wieder bei Bewusstsein war, in der Wüste, war mein Geld weg, mein Handy, und ich hatte über sechs Einstiche in den Händen und Unterarmen. Außerdem blutete ich aus zwei Wunden auf dem Kopf."

    Jemand hat sie bewusstlos geschlagen, fügt die Schwägerin hinzu.
    Ingy schleppt sich zur nächsten Siedlung und erfährt, dass sie am anderen Ende der Stadt ist. Sie ruft zuhause an und beruhigt ihren Mann und die vier Töchter. Bis sie abgeholt wird, kommt Ingy bei einer Bäuerin unter:

    "Die Frau half mir, mich zu waschen und sagte, du bist nicht die Erste, wir finden hier oft Leichen, immer an der gleichen Stelle, aber du bist die Erste, die noch lebt."

    Wir sitzen im engen Wohnzimmer der Familie: Ingys Mutter und Schwiegermutter, ihre Schwägerin und die Töchter, die der Mutter alle verblüffend ähnlich sehen.
    Ingy wohnt in einem typischen Kairoer Mittelschichtviertel: vorn an der Ecke eine Eisenwerkstatt, unten im Hauseingang ein Polsterer, dessen elektrischer Tacker bis hoch in Ingys Dreizimmerwohnung zu hören ist.
    Den Frauen fallen noch mehr Geschichten ein: von einem Jungen, der plötzlich verschwand und ohne Organe wieder aufgefunden wurde, von einer Frau, die nach zwei Tagen ohne Augen zurückkam....

    Seit in Indien Organspenden an Nichtverwandte nur noch in Ausnahmefällen möglich sind, und die Philippinen freiwillige Spenden legalisiert, aber den Verkauf oder Export von Organen verboten haben, scheint Ägypten zum neuen Umschlagplatz für Organe zu werden. Arme verkaufen eine Niere, um ihre Schulden zu begleichen – meist erhalten sie nur einen Bruchteil der vom Empfänger bezahlten Summe und werden nach der Operation so schlecht versorgt, dass sie selbst erkranken. In einem Fall hat ein Mittelsmann eine ganze Gruppe von Straßenkindern überredet, eine Niere zu verkaufen. Für umgerechnet 1400 Euro. Hani Hilal, von der Stiftung für eine bessere Kindheit, hat den Fall mit aufgeklärt:

    "Zwei Privatkliniken, die Transplantationen durchgeführt haben, wurden danach geschlossen. Es wäre leicht, in diesem Fall, die Verantwortlichen zu finden und zu verurteilen, aber das Innenministerium hat sich auf die Straßenkinder konzentriert und sie wie Angeklagte behandelt, nicht wie Opfer."

    Ein Gesetz, dass freiwillige Organspenden erlaubt, den Verkauf allerdings verbietet, soll erst Ende des Jahres vom Parlament verabschiedet werden. Im Moment ist das ganze eine Grauzone, sagt Hani Hilal:

    "Wir befinden uns in einer Krise: Kindesentführungen, Menschenhandel, Handel mit den Organen von Kindern. Und das Innenministerium gibt keine Antwort auf die Fragen der Menschen – weder bestätigt es die Gerüchte, noch widerlegt es sie, um die Menschen zu beruhigen. Wir haben keine Beweise für das, was erzählt wird. Selbst in einem Fall, in dem sieben Kinder ohne Organe unter einer Brücke gefunden wurden, konnten wir bei der Polizei kein entsprechendes Protokoll finden. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder, das Ganze ist ein Gerücht, oder eine unsichtbare Hand verbirgt die Informationen."

    Seit 2003 hat das Innenministerium keine Statistiken mehr über Zahlen entführter Kinder veröffentlicht, obwohl die Kinderschutz-Stiftung sie immer wieder einfordert. Die Familienministerin sprach neulich für dieses Jahr von 61 Fällen, von denen 48 zurück gekehrt seien. Wieso sagt sie nicht gleich, es sind 65 zurückgekehrt, fragt Hani Hilal sarkastisch, und zeigt mir das Foto eines verschwundenen Jungen:

    "Er ist viereinhalb und wird seit Februar vermisst, dieses Mädchen hier ist drei. Das Problem ist, die Polizei verdächtigt als Erstes die Eltern. Der Vater des Mädchens wurde 24 Stunden festgehalten, als er sie vermisst melden wollte."

    Ingy Hassan hat noch am Abend der Entführung den Versuch gemacht, Anzeige zu erstatten. Blutüberströmt wie sie war, ging sie zur Wache. Sie solle in zwei Stunden wiederkommen, hieß es. Sie ging nicht wieder hin.

    Al-Hara an-nazifa, "Saubere Gasse", heißt die enge Straße, in der Ingy wohnt. Und im Vergleich zum Viertel draußen sieht sie in der Tat aufgeräumt aus. Doch in den Tagen nach der Entführung traute sich die sonst lebensfrohe Frau noch nicht einmal bis zum Laden an der Ecke. Inzwischen hat sie ihren Humor wiedergefunden:

    "Als ich dort in der Wüste lag, dachten die Leute, ich sei tot. Aber ich saß ja schon wieder. Wer zerstört schon sein eigenes Haus? Ich habe zu meinem Mann gesagt, siehst du, ich lebe noch, ich gebe dir nicht die Chance, wieder zu heiraten. So schnell wirst du mich nicht los..."