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Du bist mein Moskau und mein Rom und mein kleiner David. Gesammelte Briefe 1907 - 1938

"Leichtfüßig, klug, geistreich, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen dieses Jahrhunderts geschenkt."

Elsbeth Wolffheim |
    Pier Paolo Pasolinis Charakteristik des 1938 im stalinistischen GULAG umgekommenen russischen Dichters Ossip Mandestam stimmt haargenau: Er war ein großes Kind, und ein ungemein kluges dazu. Lebenslang war der 1891 geborene Dichter getrieben von seiner "Sehnsucht nach Weltkultur". Doch es wurde ihm schwer gemacht, sie zu befriedigen. Schon im zaristischen Rußland gab es einschneidende Behinderungen: wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er nicht zum Studium zugelassen, weshalb er sich kurzerhand taufen ließ. Im Jahre 1911 wurde er dann an der Petersburger Universität immatrikuliert. Seine phänomenale Bildung, vor allem in der klassischen antiken, aber auch in der französischen Literatur und im Werk Dantes, hat er sich aber keineswegs nur an der Universität erworben. Seine geistige Neugier stieß ihn allenthalben auf die abenteuerlichsten Fährten, wie sein lyrisches. aber auch sein essayistisches Werk bezeugt. Es ist ein geradezu glitzernder Spiegel der Weltkultur.

    Das enthüllen die jetzt auf deutsch herausgekommenen 'Gesammelten Briefe' aus den Jahren 1907 bis 1938 freilich nur am Rande. Denn diese Briefe an die Dichterfreunde Anna Achmatowa, Boris Pasternak und andere, an seine Ehefrau Nadeshda, sowie an sowjetische Funktionäre geben vornehmlich Einblick in seine von diversen Repressalien gebeutelte Existenz. In der ersten Hälfte der Sammlung kreisen sie um die schwierige Alltagsbewältigung des fast immer von Geldnöten geplagten Dichters,von der mühseligen Brotarbeit als Übersetzer, von Krankheit und der ewigen Suche nach einem ruhigen Arbeitszimmer. Das revolutionäre Rußland hatte seinen geistigen Repräsentanten wenig Komfort zu bieten. Aber von solchen Unannehmlichkeiten lässt der Dichter sich nicht entmutigen. Viel schlimmer ist für ihn, dass seine Ehefrau Nadeshdap die er im Jahre 1922 geheiratet hat, wegen einer Tuberkulose in den Jahren zwischen 1923 und 1926 oft monatelang zu Kuraufenthalten ans Schwerze Meer reisen musste. Dieser erzwungenen Trennung verdanken wir ein hinreißendes Konvolut von Liebesbriefen, die man auch als Psychogramm lesen kann. Z.B. den folgenden Briefauszug vom 9. März 1926:

    "Gestern habe ich nicht geschrieben - vor lauter Unruhe hatte ich keine Kraft dazu. Du verstehst das ja. Hab ich Dich mit meinem Telegramm nicht aufgeweckt? Alle im Haus schauen mich mit zärtlichem Mitleid an wie einen Irren. /... / Du bist meine Liebe, meine Wunderschöne mit dem hohen Stirnchen, mein Freund, mein Engel. Warte auf mich."

    Aber dieser von Sehnsucht fast Verrückte ist auch ein Lebenskünstler, der sich über winzige Kleinigkeiten unbändig freut. Man sieht ihn förmlich vor sich, wie er durch die Straßen hastet, um einen Brief an die geliebte Nadja aufzugeben. Und sie teilt seine Empfindungen voll und ganz. Noch in ihrem letzten Brief an ihn vom 22.Oktober 1938, der ihn nicht mehr erreicht, schreibt sie:

    "Ossjuscha, was war mein kindliches Leben mit Dir für ein großes Glück. /.../ wir stießen einander an wie blinde junge Hunde und fühlten uns wohl dabei. Und Dein armer, fieberheißer Kopf und all der Wahnsinn, mit dem wir unsere Tage verbrannten. Was wer das für ein Glück."

    Aber dieses Glück war den äußeren Widrigkeiten abgetrotzt. Im Jahre 1927 beginnt die erste Hetzkampagne gegen den Dichter, und von jetzt an ist sein Leben eine einzige Tortur. Fortan beherrscht beide die Angst vor der drohenden Verhaftung. Und doch beugt Mandelstam sich nicht, beharrt er auf Menschenwürde Es ist ungeheuer beeindruckend, wie mutig er die staatliche Ranküne gegen ihn in Briefen an offizielle Kulturbeamte anprangert, z.B. an den Leningrader Schriftstellerverband:

    "Die Föderation mitsamt ihren Kommissionen ist zur bürokratische Folterkammer verkehrt worden, wo die Ehre eines Schriststellers seine Arbeit und die sowjetische, ja die sowjetische Sache verhöhnt wird."

    Von zahlreichen Verhören zermürbt und von schweren Herzattacken bedroht, schreibt er 1933 ein scharfes Epigramm auf Stalin, das durch Mundpropaganda publik wird. Das bricht ihm das Genick. Für drei Jahre wird er in die Provinzstadt Woronesh verbannt und bald nach der Rückkehr aus der Verbannung nach Sibirien deportiert. Sein jammervoller Tod in einem Transitlager in der Nähe von Wladiwostok im Dezember 1938 wird erst 1992 vollständig aufgeklärt. Persönliche Zeugnisse aus der letzten Lebenszeit gibt es kaum. Ein großer Teil seiner Briefe wurde vernichtet, ein einziger aus dem Lager blieb erhalten, ein karges Dokument vom November 1938:

    "Ich habe fünf Jahre bekommen für konterrevolutionäre Tätigkeit. Bin äußerst abgemagert, fast nicht wiederzuerkennen. Aber Kleider schicken, Essen und Geld - weiß nicht,' ob es Sinn hat. Versucht es trotzdem. Ich friere sehr ohne Kleider.

    Es ist dies ein exemplarisches Schicksal im kommunistischen Rußland, wir wissen es längst. Und doch hat es seine eigene Handschrift, deren Schriftzüge von holpernder Fröhlichkeit und überschäumender Fantasie bis zu grenzenloser Mutlosigkeit und Verzweiflung reichen. Zumal die letzten Dokumente scheinen wie mit zusammengebissenen Zähnen geschrieben. Der große Vorzug dieser schön gedruckten Briefausgabe besteht neben den Primär-Texten in einem geradezu stupend gearbeiteten Anhang des Herausgebers. Ralph Dutli hat nicht nur umfassende Anmerkungen verfasst, sondern auch schriftliche Eingaben von Nadeshda Mandelvstam sowie Anklageschriften und Gutachten der Staatssicherheit angefügt. Sein kluges, umfangreiches Nachwort resümiert das Leben eines der größten russischen Dichter an Hand zahlreicher biographischer, aber auch zeitgeschichtlicher Zeugnisse - vor allem aber resümiert es dieses Schicksal mit Empathie.