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Duell im ewigen Eis

"Ich sitze im Schatten der Palmen", schreibt einer mit perfider Freude, "umgeben von einer üppigen Vegetation, schwelge im Genuß herrlichster Früchte und schreibe die Geschichte der Südpolarforschung." Der Gegensatz macht die Musik. Wo seine Aufzeichnungen Temperaturen von minus 50 Grad beschwören, wo Frostbeulen eitern und Gliedmaßen absterben, bekommt das Geschriebene einen besonders schaurigen Anstrich, weiß man ums Überleben des Chronisten, ja weiß - mehr noch - um seine Abneigung gegen tropische Gefilde. Sein wohliger Einleitungssatz ist nicht mehr als eine triumphierende Geste demjenigen gegenüber, der im kalten Element auf der Strecke blieb. Roald Amundsen ist kein britischer Gentleman, als der sich sein Rivale Robert Falcon Scott stets verstand - ein Irrtum, den letzterer mit dem Leben bezahlte. Denn wer den antarktischen Spaziergang in Form eines Poloturniers betreibt - mit Ponys und unangemessener Kleidung - erweist zwar dem Verhaltenskodex seiner Zeit die Referenz, hat aber die Aufgabe nicht begriffen.

Florian Felix Weyh |
    Die Eroberung des Südpols war nicht mit Anmut und tadelloser Haltung zu bewältigen, sondern nur mit einer Strategie der bedingten Kapitulation. Sie betrachtete den eisigen Kontinent als unweigerlich stärker. Amundsen, als Norweger mit Kälte und Dunkelheit vertraut, erwies der Eiswüste den schuldigen Respekt, indem er versuchte, sich in ihr symbiotisch zu verhalten. Statt Ponys zu Zugtieren zu machen, die als Pflanzenfresser nur mitgeführtes Futter verwerten konnten, warf er seinen Schlittenhunden geschwächte Artgenossen vor. Jeder Hund nicht nur eine Antriebsquelle, sondern zugleich auch ein selbstbewegliches Proviantpaket. Ganz anders der ehrversessene Offizier der britischen Marine, Robert F. Scott. Statt ein kränkelndes Pony an Ort und Stelle zu schlachten und als Fleischproviant auf Eis zu legen, läßt er sich vom kranken Tier das Tempo diktieren und verschiebt - tödlicher Fehler - ein Unterstützungsdepot um einige Meilen nach hinten. Auf dem Rückweg wird ihm das zum Verhängnis: Mit seinen beiden letzten Männern stirbt er in der Nähe des ursprünglich geplanten Zufluchtsortes, die Großmut gegenüber einem Pony kostet drei Menschenleben.

    Diese Geschichte ist oft erzählt worden, zuletzt vom Briten Roland Huntford, der für seine Landsleute die überfällige Demontage des letzten britischen Vorkriegshelden vollzog. Robert F. Scott führte in den Expeditionstagebüchern seinen Mißerfolg ausschließlich auf ungünstige Umstände zurück, nie auf eigene Fehler oder Planungsdesaster - aber das konnte er vermutlich auch nicht sehen, denn der Fehler lag im System. Genau diesen Blickwinkel - die historisch-soziologische Vogelperspektive - nimmt nun Rainer K. Langner in seinem Duell der Geisteshaltungen ein. Entschieden wurde der Wettlauf zum Südpol im Kopf, nämlich bei der Frage: cui bono - wem nützt es? Für Scott, der keine Affinität zum kalten Element besaß und in den starren Hierarchiemustern der britischen Marine dachte, war das Abenteuer eine militärisch-organisatorische Herausforderung, in der die britische Zivilisation den unbekannten Kontinent qua technischer Überlegenheit besiegen mußte. Der erste der eigens gefertigten Motorschlitten Scotts brach mit seinem Tonnengewicht aber schon beim Ausladen durchs dünne Eis und versank; zwei weitere gaben rasch ihren Geist auf: Die Theorie der technischen Überlegenheit war falsch, aber sie wurde in der Praxis nicht revidiert. Roald Amundsen hingegen, Angehöriger eines kleinen Volkes, das gerade die Souveränität wiedererlangt hatte, verband mit seinen Polarinteressen eine persönliche Leidenschaft und wußte sich von einer nationalen Aufbruchstimmung getragen. Daß er viel lieber den Nordpol erobert hätte - der Amerikaner Peary kam ihm zuvor - und die Antarktis nur zweite Wahl darstellte, untergrub seinen Willen nicht. Wer gelernt hat, mit einer Okkupationsmacht zu leben wie die Norweger mit den Schweden, wird zum Meister der Überwindung durch Anpassung.

    Dem Berliner Journalisten Rainer K. Langner gelingt unter dem etwas klischeehaften Titel "Duell im ewigen Eis" ein spannendes und mit klug-unaufdringlichen Reflektionen durchwobenes Remake des Südpolstoffes. In seiner Interpretation gibt es freilich gar keine Helden, denn beide - der kühl kalkulierende Amundsen und der introvertierte und überforderte Scott - beide sind alles andere als Vorbilder. Zwei Profilneurotiker mit gigantomanen Strukturen, unfähig, Kritik zu ertragen und jederzeit bereit, ihr lebendes Ich durch eine tote Heldenfiktion zu ersetzen. Heroen wie sie hat die Welt nicht mehr nötig.