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Düstere Streifen im November

Vier Novemberfilme mit düsteren Themen: "Das große Heft" und "Djeca - Kinder von Sarajevo" beschäftigen sich mit dem Schicksal von Menschen, die Krieg erleben mussten. Die beiden Dokumentationen "Master of the Universe" und "Chasing Ice" thematisieren dramatische Konsequenzen menschlichen Handelns.

Von Jörg Albrecht | 06.11.2013
    "Das große Heft" von János Szász

    "Verabschiedet euch jetzt von eurem Vater! Er muss heute Abend zurück."

    Die 13-jährigen Zwillingsbrüder hoffen, dass es ein Abschied für nur kurze Zeit ist. Nicht nur ihren Vater, der als Soldat wieder in den Krieg zieht, werden sie für viele Monate nicht mehr sehen. Im Sommer 1944 naht auch der Abschied von der Mutter, die ihre Söhne aufs Land bringt, wo sich die Großmutter um die Beiden kümmern soll.

    "Bevor wir zu ihr gekommen sind, hatten wir keine Ahnung, dass die Mutter von unserer Mutter noch lebt. Wir nennen sie Großmutter. Sie nennt uns Hundesöhne."

    Vorbei ist es mit dem behüteten Leben in der Stadt. Auf dem heruntergekommenen Hof der abweisenden Großmutter müssen die Jungen mit anpacken, um sich ihr Essen zu verdienen. Was die Zwillinge erleben, tragen sie ein in ein Schreibheft, das sie von ihrem Vater zum Abschied bekommen haben und das bereits im Titel des Films von János Szász auftaucht: "Das große Heft".

    "Ihr werdet von nun an in dieses Heft alles eintragen, was mit euch passiert. Ihr dürft nichts auslassen."

    Mit "Das große Heft" hat der ungarische Regisseur den gleichnamigen, 1986 veröffentlichten Roman von Ágota Kristóf verfilmt. Obwohl die Handlung während des Zweiten Weltkriegs spielt, ist die Geschichte von "Das große Heft" allegorisch zu verstehen. Am Beispiel der heranwachsenden Zwillinge, die namenlos bleiben, wird beschrieben, wie Krieg Moralvorstellungen verändert und Individuen ihrer humanen Züge beraubt und verrohen lässt. Selten ist das physische und psychische Abhärten von Kindern so nachdrücklich geschildert worden. Die Zehn Gebote hätten sie gelesen. Sagen sie. Aber es halte sich ja niemand daran. "Das große Heft" schildert diesen Weg der Selbstbehauptung schonungslos in nüchternen Bildern und ohne jedes Pathos.

    "Das große Heft": Empfehlenswert

    "Djeca - Kinder von Sarajevo" von Aida Begić

    In "Djeca - Kinder von Sarajevo", dem zweiten Spielfilm der bosnischen Regisseurin Aida Begić ist der Krieg zwar schon lange vorbei. Seine Folgen aber begleiten die Menschen weiterhin in ihrem Alltag. Im Mittelpunkt von "Djeca" steht Rahima, eine junge Frau, deren Eltern im Bosnienkrieg getötet wurden und die sich seitdem um ihren jüngeren Bruder kümmert. Rahima arbeitet als Köchin in einem Restaurant in Sarajevo. Auch sie hat gelernt sich selbst zu behaupten.

    Was sie da mache, wird Rahima beim Schmücken des Weihnachtsbaums im Restaurant von ihrer Kollegin angefahren. Ob man sie in einer Höhle aufgezogen habe. Wütend antwortet Rahima, dass sie nicht in einer Höhle aufgewachsen sei, sondern im Krieg. Im Gegensatz zu Anderen.

    Ja, Rahima hat gelernt sich zu behaupten in einer Stadt, in der längst noch kein normales Leben eingekehrt ist und in der es weiter gefährlich ist, sich mit den falschen Leuten anzulegen. Das muss Rahima erfahren, als sich ihr Bruder mit dem Sohn eines mächtigen Politikers prügelt. Für Rahima, die das Sorgerecht für ihren Bruder hat, beginnt ein Spießroutenlauf. Die Kamera folgt der Protagonistin auf Schritt und Tritt, ist immer ganz nah dran an Rahima, der die Schauspielerin Marija Pikic stolze, unbeugsame Züge verleiht. "Djeca" ist eine düstere Zustandsbeschreibung einer Nachkriegsgesellschaft. Nicht ohne Hoffnung allerdings.

    "Djeca - Kinder von Sarajevo": Empfehlenswert

    "Chasing Ice" von Jeff Orlowski
    "Master of the Universe" von Marc Bauder


    "Ich wehre mich gegen diese stark simplifizierte Vorstellung, dass da kriminelle Elemente am Werk sind, die sich irgendwelche Dinge überlegen, um andere Leute übers Ohr zu hauen. Wir reden hier nicht über albanische Hütchenspieler."

    Nein, wir reden hier über Investmentbanker. Das heißt, Rainer Voss redet von ihnen und ihrer Branche. Eine Branche, die auch mal seine war. Denn Rainer Voss war einer von Deutschlands führenden Investmentbankern. 20 Jahre lang. Ein Insider also, der erklärt, wie der Finanzmarkt funktioniert. Das klingt zunächst dröge, ist es aber ganz und gar nicht. In der Szenerie eines leer stehenden Frankfurter Bankenturms gewährt Rainer Voss Einblicke in ein Paralleluniversum, durch das er jahrelang gesteuert ist als "Master of the Universe". Das Erstaunliche an Marc Bauders gleichnamigen Dokumentation: Der ehemalige "Master" rechnet nicht ab. Er polemisiert nicht. Stattdessen stellt er verständlich Zusammenhänge einer komplexen Materie her. In Zeiten von Finanz- und Bankenkrise eine aufschlussreiche wie auch beklemmende Innenansicht.

    Was aussieht wie eine Szene aus der Trickkiste von Hollywood, dokumentiert das größte Kalben, also das Abbrechen von Eismassen, das jemals aufgezeichnet und gefilmt worden ist. Es sind Aufnahmen aus der Arktis, die für den Naturfotografen und Wissenschaftler James Balog ein weiterer Beweis für den Klimawandel auf der Erde sind. "Chasing Ice" dokumentiert vor allem durch den Einsatz von Zeitrafferaufnahmen, was schon Dokumentationen wie "Eine unbequeme Wahrheit" ins Bewusstsein gerückt haben. Es sei endlich Zeit zu handeln. Eine Binsenweisheit, die selten in eindringlichere Bilder verpackt worden ist.

    "Chasing Ice" und "Master of the Universe": Empfehlenswert