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Düsteres Drama von Fremdheit und Schuld

"Rocco und seine Brüder" von Lucchino Visconti aus dem Jahr 1960 ist einer der großen Filme des italienischen Neorealismus. Er erzählt von einer Familie aus Süditalien, die auf der Suche nach Arbeit nach Mailand geht. Die Familie zerfällt in der fremden Großstadt, die Brüder werden zu Feinden. Der niederländische Regisseur Ivo van Hove hat das Stück mit seinem Ensemble Toneelgroup für die RuhrTriennale inszeniert.

Von Karin Fischer |
    Als Luchino Visconti sein düsteres Familiendrama drehte, war der Neorealismus in Italien beinahe vorüber. Auch auf dem Theater im Jahr 2008 ist er nicht leicht wieder zu beleben. Visconti hat das Sozialkolorit in den Baracken der Einwanderer aus dem Süden und auf den Großbaustellen der aufstrebenden Metropole Mailand recherchieren lassen. In der Jahrhunderthalle stellt der aufwändig hergestellte und zum Teil live gespielte Soundtrack von Harry de Wit viel bedrohliche Atmosphäre, aber auch den ganzen gesellschaftlichen Hintergrund her: der überfüllte Bahnhof, die Montagehalle bei Alfa Romeo, das überhitze Setting eines Boxkampfs. Die Synthesizer-Schläge sind fast körperlich zu spüren:

    Der Regisseur Ivo van Hove, der für eine überhaupt sehr körperliche Spielweise steht, schickt seine Schauspieler wirklich "in den Ring". Sie schwitzen, sie schreien, sie kämpfen minutenlang miteinander; sie reparieren eine Waschmaschine, kochen Spaghetti, bewältigen Umzüge. Die Vergewaltigung Nadias - Simone bestraft sie und Rocco für deren echte Liebe, weil sie ihm 'Hörner aufsetzt' - findet in fast vollkommener Dunkelheit als schwer erträgliche Geräuschorgie statt. Die Szenen mit der herausragenden Schauspielerin Halina Reijn sind die eindrücklichsten überhaupt. Dass von den vielen überschießenden Emotionen letztlich aber doch wenig rüber kommt, hat jedenfalls weniger mit der Inszenierung, und auch nicht mit Jan Versweyvelds Bühnenbild zu tun, das die Zuschauer wie um einen Boxring herum platziert: Ein Plateau in der Mitte ist flankiert von vier zweistöckigen Türmen, die die unterschiedlichen Spielorte und Behausungen darstellen, zum Beispiel die drei Wohnungen der Familie: die erste ein Bretterverschlag, die letzte eine Mehrzimmer-Wohnung mit Waschmaschine. Es ist die Geschichte selbst, die auf Distanz hält. Als Sozialepos für heute kommt sie zu fremdartig daher, als Melodram ist sie zu behäbig und langatmig.

    Was also bleibt? Die Erkenntnis, dass Boxen doch nicht nur ein Sport, sondern eine aggressive Verarbeitungsstrategie von Fremdheit und die Männern gemäße Methode zur Abfuhr von Aggression und Hass ist? - Eine misslingende Integrations-Geschichte, die zeigen soll, welche Verluste und Opfer der Kampf um Assimilation zeitigt? Und wie stark die alten Werte, die Blutsbande auch in einer neuen Heimat wirken? Rocco, der sich selbst als einfacher Mann aus dem Süden bezeichnet, glaubt an die "heiligen Gesetze" der Familie: Treue, bis fast in den Tod. Er ist ein Heiliger aus Sturheit. Die Mutter, die schon ganz zu Beginn auf die Familienehre pocht, verkörpert als Witwe zwar "das Gesetz", ist aber gleichfalls nur Opfer ihrer eigenen Abhängigkeit von den tradierten Überzeugungen.

    Ein einziger, Ciro, bricht aus der Familienmoral aus, nicht aber aus der bäuerlichen Bilderwelt seiner Heimat: "Die schlechten Linsen muss man auslesen", sagt er, bevor er Simone, der Nadia umgebracht hat, an die Polizei verrät.

    Dieses Wertesystem ist reaktionär, und als solches natürlich höchst ärgerlich. Knapp drei Stunden vor Augen geführt zu bekommen, dass Frauen innerhalb dieses Systems nichts wert sind, ist darüber hinaus sehr anstrengend. Dass es solche Frauen in den Migrantenfamilien zu Tausenden heute noch gibt, lesen wir jeden Tag in der Zeitung. Dennoch bleibt das die dramatischste Erkenntnis dieses Theaterabends. Und für die hätte man Visconti nicht unbedingt gebraucht.