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Dunkle Mythen
Die Angst vor Verschwörungen als religiöses Problem

Nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur - vollkommen losgelöst von der Frage, ob es eine Verschwörung gegeben hat. Der Religionswissenschaftler Michael Blume sagte im Deutschlandfunk: "Der Verschwörungsglaube ist ein religiöses Problem."

Michael Blume im Gespräch mit Benedikt Schulz | 22.07.2016
    Der Religionswissenschaftler und Blogger Michael Blume.
    Der Religionswissenschaftler und Blogger Michael Blume. (picture alliance / dpa / Horst Galuschka)
    Michael Blume, Jahrgang 1976, ist Religionswissenschaftler, Blogger und Buchautor. Beruflich ist er Referatsleiter im Staatsministerium Baden-Württemberg
    Sein jüngstes Buch hat den Titel: "Der Reiz dunkler Mythen für Psyche und Medien". Eine seiner zentralen Thesen: Bei der eskalierenden Angst vor der vermeintlich weltbestimmenden Macht übermenschlicher Superverschwörer handele es sich um nicht weniger als "einen fehlgehenden religiösen Glauben im klassisch-gnostischen oder pseudo-säkularisierten Gewand".
    Das Interview in voller Länge:
    Benedikt Schulz: Die aktuellen Ereignisse in der Türkei versetzen viele Beobachter in Sorge. Die großangelegten Säuberungen in Verbindung mit dem inzwischen erklärten Ausnahmezustand, das alles lässt nichts Gutes erahnen. Und es kam ziemlich schnell die Theorie auf, Erdoğan selbst stecke hinter dem Putschversuch vom vergangenen Freitag. Der wiederum bezichtigte das geistige Oberhaupt der Gülen-Bewegung, Fethullah Gülen, hinter diesem Putsch zustecken. Und Anhänger des Präsidenten mutmaßen im Netz, Gülen sei eigentlich eine Marionette der amerikanischen oder wahlweise der zionistischen Weltverschwörung: klassische Verschwörungstheorien in einer politisch unruhigen Zeit für die Türkei. Aber auch andernorts grassieren derzeit wieder vermehrt Verschwörungstheorien. Und an eine Verschwörung böser Mächte zu glauben, ist dabei nicht das Privileg der Ungebildeten, auch Menschen mit hohem Bildungsniveau erliegen oft dem Charme dieser Theorien. Michael Blume ist Religionswissenschaftler und beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema und hat zuletzt ein Buch dazu veröffentlicht: "Verschwörungsglauben. Der Reiz dunkler Mythen für Psyche und Medien". Mit ihm bin ich verbunden: Hallo Herr Blume.
    Michael Blume: Hallo Herr Schulz, guten Morgen.
    Schulz: Welche Mechanismen, Herr Blume, von Verschwörungstheorien greifen Ihrer Meinung nach in der aktuellen Situation in der Türkei?
    Blume: Grundsätzlich ist ja das Problem, dass Verschwörungstheorien widerlegbar wären, also, eine Theorie kann man überprüfen und widerlegen. Womit wir es hier zu tun haben sind Verschwörungsmythen. Das heißt, die Leute glauben das, auch wenn es gar keine Belege dafür gibt, und dann wird es tatsächlich ein Problem. Denn dann kann man es nicht widerlegen. Also, wenn jemand behauptet: Eine Hexe hat mein Feld vernichtet oder die Juden machen eine Weltverschwörung, dann lässt sich das einfach nicht mehr überprüfen, nicht mehr widerlegen - und die Leute steigern sich dann in ein Glaubenssystem hinein, in einen Verschwörungsglauben. Und das ist gerade das Problem in der Türkei.
    "Richtig radikal und gefährlich"
    Schulz: Konkret, was verläuft denn da gerade prototypisch aus Ihrer Sicht oder was verläuft anders?
    Blume: Es ist grundsätzlich schon seit einer längeren Zeit in der Türkei so, aber wir haben das weltweit, auch in Deutschland, auch in den USA, Philippinen, Japan, dass mehr und mehr Menschen glauben, die Welt werde von bösen Verschwörungen bestimmt und Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, das würde gar nicht mehr funktionieren, das sei nur eine Lüge oder das sei bestenfalls naiv. Und wenn sie das erst einmal glauben, dann ist das für sie natürlich auch klar, dass es zum Beispiel völlig okay ist, Leute zu verhaften, Leute zu foltern, Leuten Dinge zu unterstellen, Richter zu feuern. Also das heißt, man nimmt dann keine Rücksicht mehr auf die demokratischen Regeln, man hält die für schwach oder sogar selbst für einen Teil der Verschwörung und dann wird es natürlich richtig radikal und gefährlich.
    Schulz: Also würden Sie sagen, dass Präsident Erdoğan derzeit ganz konkret mit solchen Verschwörungsmythen arbeitet?
    Blume: Also, es war schon sehr erkennbar, dass er das genutzt hat, diesen Putsch, die Listen mit den riesigen Zahlen von Leuten, die jetzt verhaftet und entlassen worden sind. Das streitet selbst die türkische Regierung nicht mehr ab, dass diese Listen schon vorbereitet waren. Und was eben auch die westliche Öffentlichkeit erst langsam versteht, ist, dass er das gezielt in Richtung USA gesteuert hat. Also, im Internet, auch auf meinem Blog, können Sie zum Beispiel so einen Facebook-Meme sehen, wo dann gezeigt wird, wie der Erdoğan den Obama knufft und ihm quasi zeigt: 'Ha, die Türkei ist nicht Ägypten, wir haben es Euch gezeigt, wir haben Euch Verschwörer zurückgeschlagen.' Also, es richtet sich der Verschwörungsvorwurf einmal gegen die Gülen-Bewegung, aber letztlich gegen die gesamte westliche Welt, vor allem die USA.
    Schulz: Kommen wir kurz auf die Gülen-Bewegung zu sprechen. Vielleicht müssen wir kurz klären: Was ist das? Wer steckt da genau hinter und hinter dem Oberhaupt?
    Blume: Genau. Fethullah Gülen ist ein islamischer Gelehrter, der eine große Bildungsbewegung aufgebaut hat in der Türkei, im laizistischen Staat, durchaus mit Strukturen, die sich lange verborgen gehalten haben, und er war sehr lange ein Verbündeter von Erdoğan. Und die haben sich dann überworfen, auch im Zuge dieser Korruptionsermittlungen gegen Erdoğan und sein Umfeld, er hat ihm vorgeworfen, dass er sich gegen ihn gestellt habe. Und seitdem werden Gülen-Anhänger, die Hizmet-Bewegung, in der Türkei sehr brutal verfolgt und Oppositionelle werden beschuldigt, der Terrororganisation Gülen anzugehören.
    Der Fethullah Gülen selber lebt in den USA. Und das ist natürlich, wie gesagt, aus der Sicht von Erdoğan ganz spannend, weil so kann er den Leuten deutlich machen: Hinter der Verschwörung, hinter dem Putsch steckt eigentlich der Westen, die EU und die USA. Und damit peitscht er sozusagen den Verschwörungsglauben in der Türkei gegen den Westen auf.
    Der Glaube, dass böse Mächte die Welt beherrschen
    Schulz: Herr Blume, Sie entwickeln in Ihrem Buch über Verschwörungsglauben die These, dass es sich eben dabei genau darum handelt, um Glauben, dass es sich – so schreiben Sie – "um ein religiöses Problem handelt". Was hat der Glaube an das Böse oder an eine bösartig geleitet Superverschwörung zu tun mit dem, was wir Glauben an Gott oder an Götter nennen?
    Blume: Ja, das ist tatsächlich so, in einem Glauben, wie wir ihn uns vorstellen, glauben die Menschen ja an die Herrschaft des Guten. Sie glauben, es gibt zum Beispiel einen guten Gott und der regiert die Welt - natürlich gibt es auch Böses oder Herausforderungen, aber insgesamt kann ich der Welt vertrauen. In einem Verschwörungsglauben dreht sich das um. Verschwörungsgläubige gehen davon aus, dass böse Mächte die Welt beherrschen, also Zionisten, Amerikaner, die Moslembrüderschaft, Außerirdische – da gibt es ganz Unterschiedliche, wen man da quasi einsetzt –, Freimaurer, Illuminaten. Und diesen Menschen glauben dann nicht mehr, dass gute Mächte die Welt regieren, sondern dass eigentlich die ganze Welt von Verschwörern regiert wird, von einer Gruppe von Superverschwörern und sie selber würden das erkennen und würden verzweifelt gegen dieser Superverschwörung ankämpfen.
    Alle radikalen Gruppen, ob links, rechts oder religiös, berufen sich auf Verschwörungen, gegen die sich angeblich nur verteidigen. Und deswegen kommt es dann, dass diese Leute Gewalt anwenden und dann aber doch erklären: 'Ja, aber wir haben uns doch nur verteidigt, wir mussten das tun – die Flüchtlingsheime angreifen oder den Terroranschlag ausführen –, weil wir verteidigen uns doch nur!' In ihrem Selbstbild sind Sie diejenigen, die durch die Verschwörer angegriffen werden.
    Geschlossenes Weltbild
    Schulz: Würden Sie denn sagen, dass die Parallele zwischen religiösem Glauben und Verschwörungsglauben darin liegt, dass sie sich auf eine ähnliche Art und Weise der Überprüfbarkeit oder vielleicht sogar der Vernunft entziehen?
    Blume: Ganz genau. Also, schon Charles Darwin hat darauf hingewiesen – der war übrigens studierter Theologe –, dass er bei seinen Reisen nicht gefunden hat, dass die Leute automatisch an Gutes glauben, er fand häufig den Glauben an böse verschwörerische Mächte. Wir haben zum Beispiel den Glauben an Hexerei, den haben wir bis heute noch. In Afrika oder Indonesien werden jedes Jahr Abertausende, vor allem Frauen und Kinder, getötet und vertrieben unter dem Vorwurf, Hexen zu sein. Und in der westlichen Welt haben wir das so ein bisschen zurückgedrängt, weil wir das in Deutschland ja auch hatten, den Antisemitismus, den Hass gegen Juden, die Protokolle der Weisen von Zion, diese Fälschung aus dem 19. Jahrhundert.
    Wir haben in Baden-Württemberg jetzt sogar wieder einen Landtagsabgeordneten, der an die Echtheit glaubt von diesen Dingern. Und das ist zum Beispiel ein Arzt, das ist also kein dummer Mensch, der ist über die AfD in den Landtag gekommen und der hat über Jahre hinweg ein geschlossenes Weltbild entwickelt, in dem an allem die Juden beziehungsweise die Zionisten schuld seien und wo sozusagen alles Sinn macht, weil er meint, er hat das Böse erkannt. Und mit so jemandem können sie dann natürlich kaum noch diskutieren.
    Schulz: Der klassische religiöse Verschwörungsglaube ist die Gnosis, also diese Idee, dass da eine kleine Gruppe von Wissenden existiert, die über geheime Kenntnisse verfügt und die über diesen bösen Gegengott, den sogenannten Demiurgen Bescheid weiß. Ist das sozusagen in der Struktur die Blaupause für Verschwörungstheorien bis in unsere Gegenwart?
    Blume: Exakt, so ist es. Also, in der Populärkultur ist das auch schon lang so angekommen. Denken Sie an Akte X oder denken Sie an Matrix, wo sozusagen der kleinbürgerliche Hacker entdeckt, dass die ganze Realität eine Verschwörung ist, was gar nicht so ist, sondern da stecken in dem Fall Maschinen dahinter, künstliche Intelligenzen und natürlich Staatsagenten, der Mr. Smith, das sind quasi die Protagonisten der Verschwörung, und er muss das aufdecken. Und in diesen Modus tauchen immer mehr Leute ein. Und beispielweise benutzen auch die Salafisten, also radikale Muslime, Auszüge aus dem Film Matrix, um ihrerseits die Leute anzulocken. Wir hatten jetzt im Januar ja ein Verfahren gegen einen IS-Anhänger, gegen einen Deutschen, ein ehemaliger Drogenabhängiger, der zum IS konvertiert ist, zum Islamischen Staat, und der sagte: Nein, an Gott habe er nicht glauben können, aber dann diese YouTube-Videos über die Illuminaten, da habe er gesehen, es gibt einen Teufel – ja – und dann müsste es wohl auch einen Gott geben. Also, da steht das Böse im Vordergrund. Es ist nicht mehr der Glaube an das Gute, sondern die Leute glauben an die Macht des Bösen.
    "Das ist die Gefahr unserer Zeit"
    Schulz: Jetzt haben Sie schon selbst einen Griff in die Populärkultur getan. Diese Narrative von Verschwörungstheorien, die üben ja – jetzt ungeachtet jetzt ihres Inhaltes – eine Art von sinnlichem Reiz auf uns Menschen aus. Anders lässt sich ja auch so ein Dan-Brown-Roman und dessen Erfolg nicht erklären, der ja letztlich nur alte Theorien recycelt. Woran liegt dieser sinnliche Reiz für uns Menschen darin?
    Blume: Perfekt, sehr gut! Das ist tatsächlich ein Aspekt. Im ersten Moment ist es natürlich sehr spannend. Wenn sie sich vorstellen, sie haben das Gefühl, sie entdecken jetzt die große Verschwörung, plötzlich macht alles Sinn – warum sie Streit in der Familie haben, warum sie Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben, an allem ist jemand anderes schuld –, plötzlich hat ihr Leben einen Sinn, sie haben einen klaren Gegner. Das ist erstmal aufregend.
    Die Leute fühlen sich am Anfang wie in einem Film, sie sehen sich als Helden, die aufklären. Auf Dauer spinnen sie sich natürlich in ein Weltsystem ein, in dem alle anderen böse sind, in dem sie sich immer mehr isolieren, in dem es immer nur eine kleine Gruppe aus Wissenden gibt und der ganze Rest der Welt böse ist - und das ist dann eben die Radikalisierung. Und in diese Falle tappen derzeit Deutsche, Türken, Araber, aber auch zum Beispiel Anhänger von Trump in den USA. Das ist die Gefahr unserer Zeit - und sie wird durch das Internet sehr, sehr verstärkt.
    Schulz: Ja, das Internet ... Soziale Netzwerke sind ja – haben Sie ja gesagt – ein Ort, wo Verschwörungstheorien offenbar ideale Wachstumsbedingungen vorfinden. Es gibt ja ein ähnliches Phänomen, als der Buchdruck erfunden wurde. Gehen Fortschritte in der Verbreitung von Wissen auch immer mit einem Boom von der Verbreitung von Lügen einher?
    Blume: Genau so ist es. Wir denken heute bei Buchdruck: 'Ja, super, da kamen die ganzen weisen Werke und die Lutherbibel und die 95 Thesen'. Tatsache ist, dass zunächst einmal im Buchdruck ganz furchtbare Werke erschienen sind. Zum Beispiel "Der Hexenhammer", der erschien 1486, da war Luther gerade mal drei Jahre alt und es wurden Menschen als Hexen verfolgt. Im Buchdruck kam erst einmal Sex and Crime and Violence dran - und auch bei Luther selber haben wir dann Schriften gegen die Juden, gegen die Katholiken, die sehr verschwörungsgläubig sind.
    So haben wir das heute wieder. Mit drei Klicks kann sich heute jeder Verschwörungsgläubige mit anderen zusammenschließen. Und das machen die auch und die putschen sich dann gegenseitig im Internet hoch und versichern sich, dass die Gruppe an allem schuld sei – und da merken wir eine deutliche Radikalisierung sowohl auf rechter, linker, wie auch religiöser Seite, weil die Leute dann eben einfach glauben, jetzt hätten sie die Wahrheit – und auch die Nachrichten nur noch gefiltert wahrnehmen, nur noch die Nachrichten wahrnehmen, die in ihre Weltbild passen. Ich denke schon, dass momentan die freiheitlichen Demokratien unter Druck sind und dass wir gucken müssen, dass dieser Verschwörungsglaube nicht unserer Rechtsstaatlichkeit, unsere Demokratie zerstört, wie es gerade in der Türkei geschieht.
    "Es gibt ja Verschwörungen"
    Schulz: Letzte Frage. Wir sprechen über Verschwörungsmythen, aber es gibt ja Verschwörungen durchaus, man kann das ja gar nicht immer leugnen. Ist das Wort Verschwörungstheorie oder Verschwörungsglaube nicht unter Umständen auch ganz schnell ein Kampfbegriff, um berechtige Zweifel sofort abzubügeln?
    Blume: Genau deswegen empfehle ich dringend zwischen Verschwörungstheorie und -mythen zu unterscheiden – eine Theorie ist überprüfbar. Also, wenn wir dem Nils D. vorwerfen, er ist Mitglied im Islamischen Staat, dann wird das in einem Rechtsstaat ordentlich geprüft. Er hat ein Recht auf eine Verteidigung, es werden Beweise vorgelegt, es gibt Plädoyers - und am Schluss kann er auch freigesprochen werden.
    Also, Verschwörungen gibt es ja, zum Beispiel Kartellbehörden, die dann feststellen, dass sich Unternehmen untereinander absprechen für höhere Preise, das gibt es ja. Der Punkt ist nicht zu sagen, es gibt keine Verschwörungen. Sondern der Punkt ist zu fragen: Ist das, was ihr da behauptet, überhaupt noch überprüfbar? Oder erfüllt das schon eine religiöse Funktion? Überprüfbarkeit, dafür gibt es bei uns Gerichte, dafür gibt es Journalisten, dafür gibt es Untersuchungsausschüsse in den Parlamenten, die kann man aufklären. Aber einen Verschwörungsmythos, den kann eben kein Mensch mehr überprüfen - und dann wird es wirklich gefährlich.
    Schulz: Über Verschwörungsmythen in der Türkei und andernorts als religiöses Problem habe ich gesprochen mit dem Religionswissenschaftler Michael Blume. Ganz herzlichen Dank.
    Blume: Vielen Dank. Alles Gute.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.