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Dunkler Ort der Sehnsucht

Ein Frühlingstag in Palermo – wir sind in der Villa Malfitana zu Gast an der Via Dante, einer herrschaftlichen Residenz inmitten von einem Garten mit Zitronenbäumen, kiesbestreuten Wegen, Feigenbäumen und Palmen. Im Arbeitszimmer schwere Mahagonimöbel, ein wuchtiger Schreibtisch, überladen mit Papieren, an den Wänden dunkelrote Seidentapeten. Als Leoluca Orlando mit anderthalbstündiger Verspätung herein stürmt, fegt ein sizilianischer Wirbelwind durchs Zimmer. Der ehemalige Bürgermeister, Juraprofessor und Stiftungsvorsitzende, ist ein weltweit gefragter Experte für Verbrechensbekämpfung und mittlerweile auch ein erfolgreicher Autor, und er erledigt immer mindestens fünf Dinge gleichzeitig. In seinem Sicilian Renaissance Institute geht es um die Erneuerung der Region, an der er während seiner 13jährigen Amtszeit maßgeblich beteiligt war. Jetzt stellt Leoluca Orlando erst einmal mehrere Telefone und Handys ab, stößt Anweisungen, Kommentare und Ideen aus, entlässt seine Assistentin in die Mittagspause, begrüßt seine Frau, vertröstet einen weiteren Besucher und beginnt, über Palermo in den 80er Jahren zu sprechen.

Von Maike Albath |
    Es herrschte Dunkelheit, Stille, Verzweifelung, Angst, Tod. Die Stadt Palermo war ein Synonym für die Mafia. Davon erzähle ich in meinem neuen Buch Der sizilianische Karren. Man kannte Palermo nur wegen der Mafia, aber die Palermitaner sprachen nicht über die Mafia. Ein Paradox. Es herrschte Omertà, Verschwiegenheit, und Angst. Wir haben diesen Bann durchbrochen, indem wir die Bedeutung des "sizilianischen Karrens" entdeckten. Es handelt sich um einen Karren mit zwei Rädern, dem des Gesetzes und dem der Kultur. Sie müssen gleich schnell rollen. Als ich in den 80er Jahren Bürgermeister wurde, steckte der Karren fest. Er steckte im Schlamm. Das Rad des Gesetzes drehte sich nicht, das Rad der Kultur drehte sich nicht, der Karren versank im Sumpf und Schlamm, das alte Stadtzentrum zerfiel, das Teatro Massimo war geschlossen.

    Bis Mitte der 90er Jahre war die Innenstadt ein gefährliches Terrain. Es gab keine Straßenbeleuchtung, die verfeindeten Mafiaclans lieferten sich Schießereien, die alten Parkanlagen verrotteten, auf den Straßen lag Müll, prachtvolle Jugendstilvillen fielen den Bauspekulationen der Bosse zum Opfer. Ein öffentlicher Raum, in dem man sich hätte frei bewegen können, existierte nicht, und als Anfang der 80er Jahre die Ermordungen von Staatsdienern, die gegen die Mafia ermittelten, zunahmen, verschärfte sich das Klima.

    Mitreißend und fesselnd schildert Orlando seine Arbeit in der sizilianischen Hauptstadt, und sicher hängt sein politischer Erfolg auch mit seiner gefühlsbetonten Art, dem ungescheuten Pathos, seinem rhetorischen Geschick und der natürlichen Herzlichkeit zusammen. Sein Wissen um die Wirkung von symbolträchtigen Gesten schlägt sich auch in seinem neuen Buch nieder. Wer die trockene Politikersprache und die pragmatische Kultur nordeuropäischer Länder gewöhnt ist, mag bei der Lektüre von Orlandos Sizilianischem Karren verblüfft inne halten.

    Da erzählt jemand von Tränen, Angst und Freude, berichtet mit kindlichem Stolz von Begegnungen mit Claudio Abbado, Hans Georg Gadamer, Papst Johannes II und bedankt sich formvollendet für die Loyalität seiner Ehefrau, der Töchter und seines Begleitschutzes. Orlando sonnt sich gern in der Bewunderung der Bürger, manchmal kommt er missionarisch daher und mitunter ist seine Brust allzu stolz geschwellt. Aber er hat Humor, nimmt die eigene Eitelkeit aufs Korn und bringt die Schieflage durch die Philosophie des Fischverkäufers Peppuccio oder schelmische Bemerkungen der Straßenhändler wieder ins rechte Lot. Neben den leichtfüßigen Anekdoten und Glossen bedient Orlando auch die altmodischere Form der Fabel - viele der kurzen Geschichten enthalten eine verschmitzte Moral. Nicht zuletzt ist Der sizilianische Karren ein Buch über Sizilien und die sizilianischen Werte.

    Wir sind ehrenwerte Leute, ehrenwert. Und die Mafia, was hat sie gemacht? Sie hat die Ehre genommen und in Scham umgewandelt. Sie hat aus einer positiven Eigenschaft eine negative gemacht. Wir haben die Familie, und was hat die Mafia gemacht? Sie hat die Familie genommen und aus ihr ein Wort für kriminelle Vereinigung gemacht. Wir haben Freunde, und was hat die Mafia gemacht? Freunde zu sein, steht in ihrem Jargon für eine kriminelle Verbindung, man spricht von "Freunden von Freunden", um auf Mafiosi hinzuweisen.

    Bis zu seiner Kandidatur bei den sizilianischen Regionalwahlen im Jahr 2000 war Orlando Bürgermeister, und sein Streben galt einer neuen politischen Moral und großer Transparenz. Die spektakuläre Ermordung der berühmten Antimafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino im Mai und im Juli 1992, beides enge Bekannte Orlandos, fiel in seine Amtszeit. Lange stand der Bürgermeister selbst auf der Abschussliste der Mafia. Obwohl die Anschläge den Tiefpunkt der Regionalpolitik kennzeichneten, waren sie zugleich der Beginn einer Gegenbewegung. Die Stadt konnte die Mafia nicht länger ignorieren.

    Dank der Empörung der Bürger von Palermo hat sich der sizilianische Karren wieder in Bewegung gesetzt. Dank der Frauen und Kinder, Dank der moralischen Rebellion und der Zivilcourage. Wir müssen uns bei diesen Leuten bedanken, auch bei denen der öffentlichen Einrichtungen, die ihrer Pflicht nachgekommen sind, und außerdem, auch wenn das paradox klingt, müssen wir uns bei den Mafiosi bedanken. Ja, denn sie haben ganz einfach übertrieben. Sie haben zu viele Leute umgebracht. Als die Mafia eine chronische Krankheit war, verschlossen die Leute Augen, Mund und Ohren. Die ordentlichen Leute, ganz normale Bürger, sagten: "Das ist nicht unser Problem. Wir gucken nicht hin, wir hören nichts, wir sagen nichts, denn wir sind keine Mafiosi, warum sollten wir uns also mit der Mafia beschäftigen, es geht uns nichts an."

    Aber als die Mafia dann ihr wahres Gesicht gezeigt hat, als sie Staatsdiener, Journalisten und Priester ermordet haben – natürlich war die Mafia immer gewalttätig, auch vorher -, da haben sich die Bürger gewehrt und gesagt "Basta. Jetzt reicht’s uns". Die chronische Krankheit der Mafia, die man ertrug, erduldete und akzeptierte, wurde akut, also hat die Stadt reagiert, die Frauen gingen mit ihren Kindern auf die Straßen, sie hängten weiße Laken aus den Fenstern, davon erzähle ich in meinem Buch. Wie die Zivilcourage zum Motor der Veränderungen wurde.


    Immer wieder bemüht Orlando die Metapher vom sizilianischen Karren und erklärt den engen Zusammenhang zwischen Kultur und Gesetz. Während er zu Beginn seiner Amtszeit vor allem als Polizist und Gesetzeshüter agieren musste, auf die korrekte Ausschreibung von öffentlichen Aufträgen achtete, alte Seilschaften kappte, Reformen durchsetzte und die Antimafiabewegung unterstützte, konnte er nach seiner Wiederwahl durch umfassende Sanierungspläne nicht nur den öffentlichen Raum zurück gewinnen, sondern 1997 auch mit der Wiedereröffnung des Teatro Massimo glänzen, eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt, wo schon Caruso das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriss.

    Inzwischen gehört Palermo wieder seinen Bürgern, die Straßen sind belebt, vor allem junge Leute gehen Abends in der Altstadt aus und kurven auf ihren Vespas laut hupend durch die Gassen, neben den alteingesessenen Garküchen haben Szenekneipen eröffnet. Orlando ist gebürtiger Palermitaner, aber seine Familie gehört zum sizilianischen Adel von Corleone, dem Ort, der durch Francis Ford Coppolas Filmtrilogie Der Pate weltweite Berühmtheit erlangte. Es war eine zwiespältige Fama. Inzwischen herrschen auch in Corleone neue Kräfte, jenseits der Mafia, aber ob sie auch in Zukunft tragfähig sind, ist offen.

    Corleone hat sich zweifellos verändert, viele Bosse sind im Gefängnis. Aber Corleone, wie ganz Sizilien, erlebt derzeit einen extrem schwierigen Moment. Auch darüber schreibe ich ausführlich in meinem Buch, denn es geht immer wieder um unseren Staatspräsidenten Berlusconi. In Italien setzt sich heute mehr und mehr eine Kultur der Illegalität durch. Ein Minister der Regierung hat öffentlich gesagt, dass es aus wirtschaftlichen Gründen durchaus Sinn macht, sich mit der Mafia zu arrangieren. Eine derartige Aussage ist natürlich eine Katastrophe, das ist noch viel schlimmer als ein schlechtes Gesetz.

    Denn gegen ein schlechtes Gesetz kann ich mich wehren, ich kann in Berufung gehen, es gibt den Kassationshof, ein Verfassungsgericht, es gibt ein europäisches Gericht für Menschenrechte, aber wie soll man sich gegen einen amtierenden Minister wehren, der für sämtliche Infrastrukturen verantwortlich ist und für beinahe alle öffentlichen Aufträge unseres Landes? Heute besteht also die Gefahr, dass wir neben der alten sizilianischen Mafia auch noch eine neue Mafia hinzu bekommen, die im Namen von Werten wie Freiheit ohne Regeln, wie Sicherheit ohne Respekt für die Rechte des Einzelnen und wie Reichtum ohne Entwicklung und ohne Respekt für die Legalität, ihre Interessen verfolgt.


    Leoluca Orlandos kleines Geschichten-Sammelsurium erzählt vom Alltag eines Bürgermeisters und stellt den sizilianischen Einfallsreichtum unter Beweis. Orlando hat Palermo verändert, aber Italien geht längst neue Wege, und auch Sizilien wird von einem Vertreter der Berlusconipartei regiert. Dass Palermo die Lektionen des unermüdlichen Mahners Leoluca Orlando nicht vergisst und der sizilianische Karren weiter rollt, bleibt zu hoffen.

    Leoluca Orlando
    Der sizilianische Karren
    Ammann, 198 S., EUR 18, 90