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Durch dick und dünn

Gewöhnlich sind sie verpönt, diese Lebenshilfe-Bücher. Aber zum einen gehören nun mal auch sie zum Büchermarkt, zum anderen ist das hier kein gewöhnliches Lebenshilfe-Buch. Freilich geht es um ein populäres Thema – Fitness, Wellness, Weight Watching und wie das sonst noch heißt, und das betrifft viele: In Deutschland trainieren rund 3,5 Millionen Frauen und Männer ihre Körper in Fitness-Studios. Was sie dort bearbeiten, sind vorzugsweise die so genannten "Problemzonen", wobei sich die Probleme, kurz gesagt, dort ergeben, wo die individuellen Körpermaße nicht mit den vermeintlichen Idealmaßen übereinstimmen. Die Kerngruppe ist zwischen 30 und 38 Jahre alt, und das ist kein Zufall, denn dies ist in etwa das Alter, in dem eine gewisse Panik um sich greift: Entweder man findet jetzt noch – mit dem Lockmittel der guten Figur – den idealen Partner und bereitet sich dann in Ruhe auf die Rente vor, oder es droht die lebenslange Dauerkrise.

Wilhelm Schmid |
    Diejenigen aber, die sich die Souveränität erwerben wollen, ihre eigene Person vom Stress der fremdbestimmten Maße fernzuhalten, finden jetzt Anregung und Unterstützung in einem Buch, das sich die "Abwehr idealer Körperformen" zum Ziel gesetzt hat. Einschlägige Texte zahlloser Autoren quer durch die Zeiten hat der Herausgeber, der in Leipzig lehrende Sportphilosoph Volker Caysa, hier versammelt. Natürlich trieft aus den Texten zuweilen die Ironie, wenn beispielsweise Kurt Tucholsky hinterhältig von den "sanft ansteigenden Kinnterrassen" der reifer werdenden Männer und Frauen schwärmt. Mager wie ein Suppenbein war dagegen bekanntlich der arme Karl Valentin, der hier einen Auftritt hat, um den allzu Schlanken wieder Mut zu machen: Immerhin konnte er es seiner mageren Gestalt zugute halten, überhaupt noch am Leben zu sein, denn als er einst, so berichtet er jedenfalls, unter die Menschenfresser fiel, konnten die an ihm einfach nichts zu nagen finden.

    Ernsthaft nachdenklich macht die offenkundige Dialektik von dick und dünn in globaler und sozialer Hinsicht, denn dort, wo es viel zu essen gibt, unterscheiden sich die Menschen voneinander gerne durch vorsätzlichen Verzicht. Wo aber die Nahrungsmittel knapp sind, wird jedes Gramm am Körper zum Statussymbol. Während in manch ärmlicher Gegend Afrikas junge Frauen wochenlang in einen "Mästraum" gesperrt werden, um die üppige Figur zu erzielen, die die Heiratschancen steigert, wird in den fetten Ländern der westlichen Welt ein absurdes Schlankheitsideal hochgehalten, das dann dazu führt, daß ein koreanischer Dichter, der zu einem Besuch in England weilt, nach Hause berichtet (es muß etwa zur Zeit des berüchtigten Fotomodells Twiggy gewesen sein): "Ich sehe Vogelscheuchen. Ich sehe Skelette. Ich sehe keine Frauen, die wie saftige Kürbisse sind."

    Die Ästhetik des Körpers ist für den Lebensvollzug, wie jeder weiß, keine nebensächliche Angelegenheit. Körperkonzepte sind auch Lebenskonzepte, wie Therapeuten wissen; und wer sein Leben ändern will, muß zuallererst den Körper transformieren. Es gibt tatsächlich ein konzeptionelles Verhältnis zum Körper, als wäre er eine formbare Masse, ein knetbarer Teig, der jede beliebige Form annehmen kann. Diese Überzeugung entspringt ganz konsequent der modernen Grundidee, nichts als gegeben hinzunehmen, nichts so zu belassen, wie es ist; alles ist veränderbar, und was zählt, ist allein die Veränderung. Nach langer Resistenz geben sich die modernen Subjekte heute ernsthaft alle Mühe, ständig andere zu sein, Madonna vorneweg. Würde man all diese Körpertransformationen eines einzigen Menschen namens, sagen wir, Joschka Fischer, im Zeitraffer verfolgen, würden wohl Lachsalven diesen Film begleiten: Die Wangen plustern sich allmählich auf und fallen wieder in sich zusammen, der Gürtel dehnt sich weiter und weiter und plötzlich ist die Luft wieder raus; bei vielen anderen wechseln die Haarschnitte so schnell wie die Filmschnitte in Videoclips, die aufeinander folgenden Farben sind dem Federkleid von Papageien ähnlich, und die Gesichtsfarbe changiert, als würde zwischen kreidebleich und sonnenverbrannt ständig auf- und abgeblendet.

    Nein, nicht der Beliebigkeit des Umgangs mit dem Körper will dieses Buch das Wort reden, vielmehr der bewußt getroffenen individuellen Wahl, für die es keine anderen Kriterien gibt als die eigene Vorstellung von der äußeren Gestalt: Dafür plädiert beispielsweise in diesem Buch die Anti-Diät-Autorin Rachel Swift. Die einzige Grenze, die zu überschreiten man sich füglich hüten sollte, ist nur die des Ekels, des Ekels vor sich selbst, auch des Ekels, den andere empfinden, an deren Wertschätzung dem Selbst sehr liegt. Im Verhältnis zu sich selbst ist die bewußte Sorge um den Körper eine Frage der Selbstachtung, im Verhältnis zu anderen droht die Vereinsamung, wenn die Grenze überschritten wird. Aber keine Sorge, der Spielraum ist dehnbar, er ist eine Frage der Interpretation, und da mühen sich die hier versammelten Autoren so redlich, daß man sagen kann: Vergessen Sie die Waage, schmökern Sie in diesem Buch! Aus dem Potpourri der Texte lugt auch noch der schmale Woody Allen irgendwo hervor, der sich die Folgen vorstellt, die sich ergäben, wäre er vollgefressen bis obenhin, um dann wieder zwanzig Pfund abzunehmen. Drohte da nicht die Gefahr, daß gerade diese Pfunde seine Genie enthielten? Das soll in der Tat die vordringlichste Sorge sein, die auch uns umtreibt.