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Durchs Netz gerutscht

Sie lassen sich Formulare von andern ausfüllen, können den Fahrplan nicht lesen und müssen vieles auswendig lernen, um nicht aufzufallen: Analphabeten. In Deutschland sind es geschätzt vier Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung investiert nun 300 Millionen Euro, um diese Problem anzugehen. Unter anderem wird ein neuer Studiengang eingerichtet.

Von Eva Bendix | 08.09.2008
    Bekenntnisse eines Analphabeten.

    " Ich bin über 40 Jahre alt. Die meiste Zeit konnte ich nicht lesen und schreiben. Oft war es schwer. Wenn ich mit dem Zug fuhr, war ich sehr unsicher, weil ich die Stationen nicht lesen konnte. Für meinen Führerschein musste ich alle Fragen und Antworten im Kopf behalten und hatte eine mündliche Prüfung. Als ich bei der Arbeit Wochenzettel schreiben musste, konnte ich es nicht. Da sagte man mir: Geh doch wieder zur Schule."

    Hans Georg besuchte einen Alphabetisierungskurs an der Volkshochschule.

    "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Menschen nicht lesen und schreiben können und in unserer Gesellschaft zurechtkommen und daraufhin habe ich mich angemeldet, um mich mit dem Thema zu befassen. Das hat mich so fasziniert, dass ich mich auch beworben habe an der VHS Münster und dann bin ich als Kursleiterin ins kalte Wasser gesprungen."

    Gabriele Gesing musste sich größtenteils selbst überlegen, wie sie Erwachsenen lesen und schreiben beibringt. Kein Einzelfall. Die rund 1000 Alphabetisierungskursleiter, die in Deutschland unterrichten, haben alle keine umfassende Ausbildung. In einem zweiwöchigen Fortbildungsseminar werden sie aufs Nötigste für ihre Arbeit vorbereitet. Den Rest bringen sie sich privat bei.

    Hier will der neue Studiengang gegensteuern. Der Alphabetisierungspädagoge soll künftig auf ein breiteres Wissen zurückgreifen können.

    "Das Thema muss an die Hochschulen und das ist auch ein Grund, warum wir diesen Studiengang auf akademischen Niveau aufbauen wollen und werden. Die Forschung muss sich mit dem Thema endlich beschäftigen."

    Fordert Frank Drecoll vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung in Münster .

    "Es gibt so viele Fragen, wo wir nur Fragezeichen haben. Stichwort Ursachen von Analphabetisierung. Da müssen wir viel mehr wissen und Fragen auch der Prävention. Wie kann die Schule sich besser darum kümmern, dass Schüler nicht durchs Netz rutschen in den ersten zwei Jahren und gegensteuern. Das erst gar nicht dieses Problem des Erwachsenenanalphabetismus in diesem Umfang entsteht? Also 1000 Fragen, die Forschung anfassen muss."

    Frank Drecoll koordiniert mit seinem Team den neuen Master-Studiengang: Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogik. Er wird zunächst probeweise an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten eingeführt. Geplant sind insgesamt vier Semester, die an Wochenenden oder in Blöcken abgehalten werden. Einschreiben können sich Menschen mit abgeschlossenen Studium im Lehramt oder sozialpädagogischen Berufen. Start ist Wintersemester 2009. Cordula Löffler ist Professorin an der PH Weingarten und wird den Masterstudiengang leiten.

    "Eigentlich gehört das, was wir machen in die Lehrerausbildung. Aber das, was wir im Studiengang machen werden, kann nicht in jedem Lehramtstudiengang integriert werden, das ist vom Umfang viel zu groß.

    Wenn ich jemanden als Kursleiter einstelle, der Sozialpädagogik studiert hat, dann hat derjenige keine Möglichkeit gehabt über Schriftspracherwerb etwas zu lernen oder darüber, wie bringe ich Menschen rechnen bei, so dass sie ausrechnen können, welche Butter billiger ist, wenn unterschiedliche Mengen angeboten würden?"

    Die ersten Absolventen dieses Weiterbildungsstudiengangs werden 2011 fertig sein. Dann wird sich herausstellen, ob und wo sie eine Arbeit finden.

    ""Die Anerkennung des Abschlusses wird davon abhängen, inwieweit es uns gelingt, das Thema Analphabetismus publik zu machen und ihm einen Stellenwert zu geben. Im Moment ist es so, dass die Kursleitenden als Honorarkraft angestellt sind. Unser Ziel ist es, dass mehr Angebote für Alphabetisierung erfolgen. Was dazu führen würde, dass das Kursangebot erweitert wird und das dann die gut ausgebildeten Absolventen eingestellt werden."

    Gabriele Gesing, die seit 16 Jahren an der VHS-Alphabetisierungskurse leitet, sieht dem neuen Studiengang mit gemischten Gefühlen entgegen. Auf der einen Seite erhofft sie sich Vorteile für ihre praktische Arbeit in den Kursen.

    "In der Regel macht der Kursleiter parallel Einzelunterricht mit den Teilnehmern. Und dafür braucht es spezielle Methodiken und Materialien. Vor allen Dingen Material, was für Erwachsene entwickelt worden ist, die ganz andere Bedürfnisse und an die ganz andere Erfordernisse herangetragen werden als an Kinder. Zum Beispiel leichte Leselektüre, aber auf Erwachsenen Niveau. Themen, die Erwachsene betreffen. "

    Auf der andern Seite fürchtet sie, dass die langjährige Erfahrung von Kursleitern künftig nicht mehr so viel zählt.

    ""Ich würde auch als erfahrende Kurleiterin berufsbegleitend so einen Studiengang für mich wahrnehmen, weil heutzutage so ein Abschluss, ein Zertifikat sehr wichtig ist. Die 16-jährige Erfahrung wiegt bei manchen Institutionen nicht gleich. Von daher ist auch jemand, der einen Studiengang gemacht hat auch für erfahrende Kursleiter eine ernst zu nehmende Konkurrenz."