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Dyskalkulie
Wenig Förderung für Schüler mit Rechenschwäche

In fast jeder Schulklasse sitzen Kinder mit einer Dyskalkulie, einer Rechenstörung. Anders als bei einer Lese-Rechtschreibschwäche werden bei der Rechenschwäche Diagnose- und Fördermethoden an Schulen immer noch selten eingesetzt. Auch der Berliner Schülerin Norma fiel Mathe außerordentlich schwer.

Von Susanne Arlt |
    Ein Schulkind schiebt an einem Rechenschieber die Kugeln zur Seite
    Nach jüngsten Untersuchungen der Charité Berlin sind 6,6 Prozent der Grundschüler in Deutschland von Dyskalkulie betroffen. (picture alliance / ZB - Thomas Eisenhuth)
    Matheunterricht war für die 13-jährige Norma Janke früher eine Qual. Addieren, subtrahieren, multiplizieren, einfachste Rechenaufgaben fielen der Schülerin schon in der zweiten Klasse schwer. In allen anderen Fächer aber war sie dagegen überdurchschnittlich gut. Ihre Grundschullehrer konnten sich keinen Reim darauf machen, ihre Mutter dagegen schon. Sie vermutete, dass ihre Tochter Dyskalkulie hat. Eine Teilleistungsstörung, die umgangssprachlich auch Zahlenblindheit genannt wird. Die Mitarbeiter eines Therapiezentrums diagnostizierten Normas tatsächlich eine Rechenschwäche. Nicht so die zuständige Schulpsychologin. Nach einigen Tests stellte sie fest, es gebe keine Anzeichen für Dyskalkulie. Andrea Janke, Normas Mutter, glaubt, dass viele Lehrer, aber auch Schulpsychologen von Dyskalkulie zu wenig Ahnung haben.
    "Das habe ich mir nicht erklären können. Ich bin auch immer noch emotional sehr wütend darüber, dass so eine Person an so einer Stelle sitzt, weil ich das unfassbar finde. Letztlich müsste man mehr auch auf die Erfahrung der Eltern hören, also einfach eine bessere Zusammenarbeit zwischen Schülern, Lehrern, Eltern und den offiziellen Stellen finden."
    Wegen der Diagnose der Schulpsychologin erhielt ihre Tochter keinen Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Die Mathelehrerin durfte ihr also weder mehr Zeit für die Rechenaufgaben einräumen, noch sie mit einem Schmierzettel arbeiten lassen. Zumindest nicht offiziell. Als Norma in die siebte Klasse aufs Gymnasium wechselte, wurde ihre Rechenschwäche immer offensichtlicher. Zum einen, weil der Leistungsdruck immens zunahm, aber auch, weil die neue Mathelehrerin kein Verständnis für ihre Dyskalkulie hatte, erzählt Norma.
    "Ganz oft wollte ich eigentlich gar nicht mehr in die Schule, um einfach mal einen Tag Auszeit zu haben. Einfach nur ein Tag irgendwie im Bett liegen, einfach nichts machen, einfach nur schlafen. Und ich konnte mich auch nachmittags total wenig mit meinen Freunden verabreden, weil ich halt lernen musste oder nacharbeiten oder Hausaufgaben und da blieb halt nicht so viel Zeit für Spaß."
    In Berlin ab Klasse 7 kein Anspruch auf Nachteilsausgleich
    Objektiv gesehen muss die Lehrerin auch kein Verständnis für Normas Rechenschwäche zeigen. Denn ab der siebten Klasse haben Jugendliche mit Dyskalkulie in Berlin kein Anspruch mehr auf einen Nachteilsausgleich. Dies sehen die Fördervorschriften der Senatsverwaltung für Bildung nicht vor. Das Verhalten der Mathelehrerin und der Schulleitung findet Normas Vater, Ulrich Krampe, trotzdem ignorant.
    "Ich bin der Meinung, dass Schule einen Erziehungsauftrag hat neben dem Bildungsauftrag und auch den Auftrag, erwachsene Menschen heranzubilden und nicht irgendwelche Leute mit Störungen. Die Schule hat da meines Erachtens eben versagt, indem sie sagt, wir sind hier nur eine Bildungsanstalt und wir können ja jetzt nicht ein Kind bevorteilen und die anderen alle benachteiligen."
    Wäre Norma dagegen Legasthenikerin, dann bekäme sie einen Nachteilsausgleich, und das sogar bis zur zehnten Klasse. Ihre Deutschnote würde im Zeugnis kaum berücksichtigt und bis zur sechsten Klasse würde sie ganz wegfallen. Selbst in der Abi-Prüfung würden ihr die Lehrer mehr Zeit einräumen.
    Volksinitiative Chancengleichheit des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie
    Obwohl laut wissenschaftlicher Forschung beide Teilleistungsstörungen ähnlich weit verbreitet seien, fördere der Staat die Betroffenen sehr unterschiedlich, ärgert sich auch Jaqueline Wißmann. Die Psychologin und Lerntherapeutin unterstützt darum die Volksinitiative Chancengleichheit des Landesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie. Ziel ist es, für beide Gruppen dieselben staatlichen Hilfen zu erhalten. Die einseitige Förderung von Legasthenikern habe mehrere Gründe, sagt Wißmann.
    "Zum einen ist halt der Kenntnisstand noch nicht so hoch und zum anderen ist vielleicht die Motivation auf politischer Seite vielleicht auch nicht so wahnsinnig groß, da für die rechenschwachen Kinder in ähnlicher Weise diesen Apparat hochzufahren, wie es für die Legasthenie getan wurde. Weil es auch Kosten verursacht, weil es Aufwand bedeutet, weil es Personal erfordert. Ich sage jetzt mal ganz sarkastisch: Wenn ich keine Kinder finde, die Dyskalkulie haben, dann muss ich ja auch nichts dagegen tun."
    Die Eltern von Norma sind hartnäckig geblieben. Sie haben schließlich eine Gesamtschule gefunden, die auf Normas Schwächen eingeht. Die Lehrer unterstützen sie bei ihrer Rechentherapie und die Noten der 13-Jährigen sind wieder viel besser geworden. Es spricht also nichts dagegen, dass Norma eines Tages dort ihr Abi machen wird.