"Wo wir uns finden – Die Berliner Republik als Vaterland" heißt das erbauliche, kleine Werk, das im Berlin Verlag erschienen ist. Bei unserem Gespräch habe ich Eckhard Fuhr zunächst gefragt, ob man sich den Feuilletonchef der "Welt" als einen Menschen vorstellen muss, der sich und seine Leser glücklich macht, indem er alles ausblendet, was in Deutschland nicht so gut läuft.
Eckhard Fuhr:
Also zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich die Schattenseiten nicht einfach weggelassen habe. Es geht ja im letzten Kapitel dieses Buches auch um den deutschen Sozialstaat und seine Zukunft, die ich nun nicht gerade in rosigen Farben schildere. Nur, wogegen ich mich immer wehre, ist diese hysterische Aufgeregtheit oder auch die, ich möchte es mal nennen "verstockte Depression", mit der viele Probleme, man kann es auch Schattenseiten der gesellschaftlichen Realität in Deutschland nennen, politisch bei uns behandelt werden. Als Feuilletonist beschäftige ich mich allerdings auch mit anderen Dingen, und zwar mit dem, was in der Literatur, in den Medien, im Film gedacht wird, welche Bilder über Deutschland erzeugt werden, welche Erzählungen entstehen. Und wenn man sich da anschaut, was in den letzten drei, vier, fünf Jahren, sagen wir mal seit der Jahrhundertwende, entstanden ist, dann bekommt man ein überraschend anderes Bild. Ein Bild, das eben nicht für Depressionen, Niedergeschlagenheit, Zukunftsverdruss spricht, sondern im Gegenteil eines, das dafür spricht, dass – jedenfalls unter Künstlern, Publizisten, Schriftstellern – eine Haltung zu Deutschland Platz greift, die mit Zuversicht und auch einem Grundgefühl von Zuwendung sozusagen verbunden ist.
Hermann Theißen:
Sie schreiben, jetzt zitiere ich: "Heute muss man nicht mehr viele Worte darum machen, dass man als Deutscher Europäer ist und als Europäer Deutscher bleibt." Das ist eine These, die Sie in Ihrem Buch – ich benutze mal Ihr Wort, was Sie auch gerne benutzen – wie eine Mantra wiederholen. Und eine Mantra benutzt man ja dann, wenn man nicht so ganz sicher ist, ob man über die Wirklichkeit redet oder über einen Wunsch redet.
Eckhard Fuhr: :
Dass wir als Deutsche Europäer sind und als Europäer Deutsche, ist heute in einem anderen Sinne wahr, als es in den 70er Jahren oder in den 60er Jahren wahr gewesen ist, wo es tatsächlich eine Beschwörung gewesen ist, eine Beschwörungsformel gewesen ist, die auch dazu diente, die Last der deutschen Geschichte, für den Moment jedenfalls, einmal zu realisieren.
Hermann Theißen:
In den 60er und 70er Jahren gab’s ja noch natürlich auch die Identifizierung "Ich bin Europäer", und die wurde gesagt, um nicht sagen zu müssen: "Ich bin Deutscher."
Eckhard Fuhr:
Genau. Das war eine synthetische Identität, die dort aufgerichtet worden ist oder an der man sich versuchte aufzurichten. Heute ist – ich will das an einem Beispiel zeigen: Es ist, glaube ich, nicht zu bestreiten, dass das große Thema einer künftigen europäischen Identität in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren das Aufeinandertreffen von Geschichtsbildern ist und Geschichtserfahrung ist, die sich heute in vielen zentralen Punkten widersprechen. Ich meine z.B. die Erfahrung der mittel- und osteuropäischen Völker unter der Herrschaft des Kommunismus und die westeuropäische Geschichtserfahrung, die ganz von diesem Auschwitzbild geprägt ist. Das trifft heute immer wieder aufeinander, es gibt dafür tausend Beispiele. In Deutschland haben wir das beides, und zwar im östlichen Teil in der ehemaligen DDR in einer etwas abgeschwächten Form, trotzdem, es waren 40 Jahre einer doch sehr unangenehmen und am Anfang auch brutalen Diktatur-Erfahrung. Und das gibt einen ganz anderen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wenn man diese Erfahrung selbst gemacht hat, selbst unter dieser Erfahrung gelitten hat, oder ob man da sozusagen auf der richtigen Seite stehend, auf der Gewinnerseite stehend beobachtet hat. Wenn wir uns also hier mit deutsch-deutschen Dingen beschäftigen, mit dieser deutschen Selbstbeschäftigung, die ist gar nicht anders zu verstehen, als dass man es als ein europäisches Thema begreift, als eine europäische Frage begreift. Insofern sind wir als Deutsche automatisch Europäer.
Hermann Theißen:
Bei der Lektüre Ihres Buches fühlte ich mich immer wieder erinnert an einen kleinen Band, der vor etwa anderthalb Jahren oder zwei Jahren erschienen ist: "Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal". Egon Bahr hat ihn geschrieben und auch plädiert dafür, dass die Deutschen die 89 gewonnene Souveränität souverän in Anspruch nehmen sollen. Bahr argumentiert aber auch und sagt, dass die doppelte Eindämmung, also das an die Karre nehmen der Westdeutschen, ein notwendiger Prozess war und die Selbstverständlichkeit, von der Ihr Buch berichtet im Bezug auf Patriotismus, erst erworben werden muss. Ist das auch Ihre Position?
Eckhard Fuhr:
Ja. Er musste erworben werden, aber er ist eben – das ist meine Einschätzung – auch erworben worden. Das heißt also, wir müssen uns nicht selber immer wieder mit dem erhobenen Zeigefinger drohen, wenn wir über uns selber sprechen, wenn wir uns als Deutsche definieren oder als Deutsche empfinden. Ich glaube, das können wir inzwischen ohne diesen erhobenen Zeigefinger, und die deutsche Politik in den letzten Jahren hat ja auch gezeigt, dass wir mit dieser Souveränität, die uns zugewachsen ist, die wir übrigens aber auch, um die Worte des Bundespräsidenten Köhler zu gebrauchen, auch aus eigenem Freiheitsvermögen gewonnen haben, wenn man die Reformbewegung, die Wende, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR betrachtet, dass wir mit dieser Souveränität doch auch vernünftig umgehen können, d.h., man kann sie dazu verwenden, um Dinge zu tun, die bis vor kurzem undenkbar gewesen sind, z.B. Soldaten auf den Balkan schicken oder Soldaten nach Afghanistan schicken, man kann aber auch sie dazu benutzen, entschieden nein zu sagen z.B. zu einem Krieg, den man für unsinnig und völkerrechtlich nicht vertretbar hält, obwohl das dann zu erheblichen Zerwürfnissen mit dem wichtigsten Bündnispartner führt, aber beides sind Äußerungen dieser neuen Souveränität, und ich glaube, in beiden Fällen waren es auch richtige politische Entscheidungen.
Hermann Theißen:
Die Deutschen stehen wieder zu ihrem Patriotismus, und überraschenderweise führt das überhaupt zu keinem größeren Unbehagen in der Welt, abgesehen von Boulevardblättern in England oder ähnlichem. Hängt das auch damit zusammen, dass Diskussionen sehr ernsthaft geführt worden sind, auch notwendig waren, in der Vergangenheit etwa die Diskussion – da gehen Sie auch drauf ein – Verfassungspatriotismus, Jürgen Habermas. War das ein notwendiger Schritt hin zu dieser heute gewonnenen Normalität?
Eckhard Fuhr: :
Ja, ich denke schon. Was mir beim Schreiben dieses Buches aufgefallen ist, ist, dass man das Moment der historischen Dialektik nicht unterschätzen darf. Diese Erfahrung, dass etwas immer auch sein Gegenteil bedeutet und immer Potenzen hervor bringt, die eigentlich nicht in seiner Intention liegen, und der Habermas’sche Verfassungspatriotismus ist ein gutes Beispiel dafür. Er war eigentlich von Habermas, also in dieser verschärften Formulierung im Vergleich jetzt zu Dolf Sternberger etwa, der Versuch, das Paradigma einer postkonventionellen Identität zu formulieren. Damit ist er weit gekommen, wenn man einmal den kulturellen, den politischen Einfluss dieser Denkströmung in Deutschland betrachtet, wenn man das an so etwas wie kultureller Hegemonie misst, kann man sagen: Ja, das war sehr weitgehend kulturelle Hegemonie, und es war dann 1998, als eine rot-grüne Regierung an die Macht kam, eigentlich auch Regierungspolitik, jedenfalls der größte Teil der Handelnden, der Regierungsmitglieder, war geprägt von diesem Verständnis. Und nun kommt dieses Verständnis in einen wiedererstandenen Nationalstaat und wird, kaum ist die Regierung ein halbes Jahr dran, mit der Frage von Krieg und Frieden konfrontiert. Und dieses gelang nur, indem man die Potenzen dieses Verfassungspatriotismus, also dieses Verständnisses von Nation oder von der Verknüpfung von Nationalstaat und Universalismus, politisch aktivierte und sagte – in einer sehr verkürzten Form: Nie wieder Auschwitz, das bedeutet, wir müssen die serbische Armee bombardieren. Eine unvorstellbare Sache eigentlich noch wenige Monate vorher. Aber diesen dialektischen Umschwung, diesen Qualitätssprung, hat dann Verfassungspatriotismus möglich gemacht, und dann sozusagen in das Gefäß dieses neuen Nationalstaates ist er eingeflossen und hat sich dann vermengt mit Geschichte, mit historischen Bildern, mit Geschichtserzählung, und da heraus gekommen ist schon etwas, was man langsam wahrnehmen kann als das spezifische Selbstverständnis dessen, was ich Berliner Republik nenne.
Hermann Theißen:
Sie zitieren in Ihrem Buch unter anderem den amerikanischen Ökonom Jeremy Riskin, und zwar unterscheidet Riskin zwei unterschiedliche Freiheitskonzepte, die zum einen in den USA und zum anderen in Europa wirksam seien. Er sagt, in den USA herrsche ein sehr individualistisches Freiheitskonzept, beruhend auf dem alten Mythos "Vom Tellerwäscher zum Millionär", das immer weniger gelebt werden kann, das nicht der Realität entspricht. In Europa dagegen gibt es ein Freiheitskonzept, das immer auch auf den anderen bezogen ist, auf Kommunikation, auf Integration, auf Geselligkeit und auf Solidarität. In Ihrem Buch singen Sie geradezu ein Hohes Lied auf Gerhard Schröder, der sich an die Sozialsysteme macht, die er reformieren will oder zurichten will für die Globalisierung. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass in diesem Prozess eine Angleichung an das amerikanische System passiert, weil … Offensichtlich ist es ja so, dass keiner Konzepte hat gegen die Arbeitslosigkeit, und Arbeitslosigkeit ist ein Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben.
Eckehard Fuhr:
Gut, ich verstehe allerdings Gerhard Schröders Reformpolitik als den Versuch einer Politik der Inklusion. Gerade Hartz IV, in dem ich ja einen Paradigmenwechsel der Sozialpolitik erkenne, ist deswegen eine Politik der Inklusion, weil es Leute eben nicht mehr sich selber überlässt, sondern nach dem Prinzip des fordernden Sozialstaates versucht, die Arbeitslosen wieder in Beschäftigung zu bringen.
Hermann Theißen:
Was ist das denn für eine Art der Integration, die fordert, ohne Arbeitsplätze anbieten zu können?
Eckehard Fuhr:
Wenn ich das Buch jetzt beenden würde, würde ich diesen Aspekt, der ja gerade in den letzten Monaten oder in den letzten Wochen, wenn man an Münteferings Kapitalismuskritik denkt, in den Vordergrund getreten ist, noch um genau diesen Aspekt ergänzen. Das ist tatsächlich ein Gesichtspunkt, der in diesem Buch nicht vorkommt, dass diese neue Sozialpolitik nicht einseitig eine Politik des Verzichts und des Abbaus von Sozialsicherungssystemen ist, sondern dass dazu mehrere Seiten, mindestens zwei, gehören.
Soweit Eckhard Fuhr. Sein Buch "Wo wir uns finden – Die Berliner Republik als Vaterland" ist im Berlin Verlag erschienen. 156 Seiten für 18 Euro.
Eckhard Fuhr:
Also zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich die Schattenseiten nicht einfach weggelassen habe. Es geht ja im letzten Kapitel dieses Buches auch um den deutschen Sozialstaat und seine Zukunft, die ich nun nicht gerade in rosigen Farben schildere. Nur, wogegen ich mich immer wehre, ist diese hysterische Aufgeregtheit oder auch die, ich möchte es mal nennen "verstockte Depression", mit der viele Probleme, man kann es auch Schattenseiten der gesellschaftlichen Realität in Deutschland nennen, politisch bei uns behandelt werden. Als Feuilletonist beschäftige ich mich allerdings auch mit anderen Dingen, und zwar mit dem, was in der Literatur, in den Medien, im Film gedacht wird, welche Bilder über Deutschland erzeugt werden, welche Erzählungen entstehen. Und wenn man sich da anschaut, was in den letzten drei, vier, fünf Jahren, sagen wir mal seit der Jahrhundertwende, entstanden ist, dann bekommt man ein überraschend anderes Bild. Ein Bild, das eben nicht für Depressionen, Niedergeschlagenheit, Zukunftsverdruss spricht, sondern im Gegenteil eines, das dafür spricht, dass – jedenfalls unter Künstlern, Publizisten, Schriftstellern – eine Haltung zu Deutschland Platz greift, die mit Zuversicht und auch einem Grundgefühl von Zuwendung sozusagen verbunden ist.
Hermann Theißen:
Sie schreiben, jetzt zitiere ich: "Heute muss man nicht mehr viele Worte darum machen, dass man als Deutscher Europäer ist und als Europäer Deutscher bleibt." Das ist eine These, die Sie in Ihrem Buch – ich benutze mal Ihr Wort, was Sie auch gerne benutzen – wie eine Mantra wiederholen. Und eine Mantra benutzt man ja dann, wenn man nicht so ganz sicher ist, ob man über die Wirklichkeit redet oder über einen Wunsch redet.
Eckhard Fuhr: :
Dass wir als Deutsche Europäer sind und als Europäer Deutsche, ist heute in einem anderen Sinne wahr, als es in den 70er Jahren oder in den 60er Jahren wahr gewesen ist, wo es tatsächlich eine Beschwörung gewesen ist, eine Beschwörungsformel gewesen ist, die auch dazu diente, die Last der deutschen Geschichte, für den Moment jedenfalls, einmal zu realisieren.
Hermann Theißen:
In den 60er und 70er Jahren gab’s ja noch natürlich auch die Identifizierung "Ich bin Europäer", und die wurde gesagt, um nicht sagen zu müssen: "Ich bin Deutscher."
Eckhard Fuhr:
Genau. Das war eine synthetische Identität, die dort aufgerichtet worden ist oder an der man sich versuchte aufzurichten. Heute ist – ich will das an einem Beispiel zeigen: Es ist, glaube ich, nicht zu bestreiten, dass das große Thema einer künftigen europäischen Identität in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren das Aufeinandertreffen von Geschichtsbildern ist und Geschichtserfahrung ist, die sich heute in vielen zentralen Punkten widersprechen. Ich meine z.B. die Erfahrung der mittel- und osteuropäischen Völker unter der Herrschaft des Kommunismus und die westeuropäische Geschichtserfahrung, die ganz von diesem Auschwitzbild geprägt ist. Das trifft heute immer wieder aufeinander, es gibt dafür tausend Beispiele. In Deutschland haben wir das beides, und zwar im östlichen Teil in der ehemaligen DDR in einer etwas abgeschwächten Form, trotzdem, es waren 40 Jahre einer doch sehr unangenehmen und am Anfang auch brutalen Diktatur-Erfahrung. Und das gibt einen ganz anderen Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wenn man diese Erfahrung selbst gemacht hat, selbst unter dieser Erfahrung gelitten hat, oder ob man da sozusagen auf der richtigen Seite stehend, auf der Gewinnerseite stehend beobachtet hat. Wenn wir uns also hier mit deutsch-deutschen Dingen beschäftigen, mit dieser deutschen Selbstbeschäftigung, die ist gar nicht anders zu verstehen, als dass man es als ein europäisches Thema begreift, als eine europäische Frage begreift. Insofern sind wir als Deutsche automatisch Europäer.
Hermann Theißen:
Bei der Lektüre Ihres Buches fühlte ich mich immer wieder erinnert an einen kleinen Band, der vor etwa anderthalb Jahren oder zwei Jahren erschienen ist: "Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal". Egon Bahr hat ihn geschrieben und auch plädiert dafür, dass die Deutschen die 89 gewonnene Souveränität souverän in Anspruch nehmen sollen. Bahr argumentiert aber auch und sagt, dass die doppelte Eindämmung, also das an die Karre nehmen der Westdeutschen, ein notwendiger Prozess war und die Selbstverständlichkeit, von der Ihr Buch berichtet im Bezug auf Patriotismus, erst erworben werden muss. Ist das auch Ihre Position?
Eckhard Fuhr:
Ja. Er musste erworben werden, aber er ist eben – das ist meine Einschätzung – auch erworben worden. Das heißt also, wir müssen uns nicht selber immer wieder mit dem erhobenen Zeigefinger drohen, wenn wir über uns selber sprechen, wenn wir uns als Deutsche definieren oder als Deutsche empfinden. Ich glaube, das können wir inzwischen ohne diesen erhobenen Zeigefinger, und die deutsche Politik in den letzten Jahren hat ja auch gezeigt, dass wir mit dieser Souveränität, die uns zugewachsen ist, die wir übrigens aber auch, um die Worte des Bundespräsidenten Köhler zu gebrauchen, auch aus eigenem Freiheitsvermögen gewonnen haben, wenn man die Reformbewegung, die Wende, die Bürgerrechtsbewegung in der DDR betrachtet, dass wir mit dieser Souveränität doch auch vernünftig umgehen können, d.h., man kann sie dazu verwenden, um Dinge zu tun, die bis vor kurzem undenkbar gewesen sind, z.B. Soldaten auf den Balkan schicken oder Soldaten nach Afghanistan schicken, man kann aber auch sie dazu benutzen, entschieden nein zu sagen z.B. zu einem Krieg, den man für unsinnig und völkerrechtlich nicht vertretbar hält, obwohl das dann zu erheblichen Zerwürfnissen mit dem wichtigsten Bündnispartner führt, aber beides sind Äußerungen dieser neuen Souveränität, und ich glaube, in beiden Fällen waren es auch richtige politische Entscheidungen.
Hermann Theißen:
Die Deutschen stehen wieder zu ihrem Patriotismus, und überraschenderweise führt das überhaupt zu keinem größeren Unbehagen in der Welt, abgesehen von Boulevardblättern in England oder ähnlichem. Hängt das auch damit zusammen, dass Diskussionen sehr ernsthaft geführt worden sind, auch notwendig waren, in der Vergangenheit etwa die Diskussion – da gehen Sie auch drauf ein – Verfassungspatriotismus, Jürgen Habermas. War das ein notwendiger Schritt hin zu dieser heute gewonnenen Normalität?
Eckhard Fuhr: :
Ja, ich denke schon. Was mir beim Schreiben dieses Buches aufgefallen ist, ist, dass man das Moment der historischen Dialektik nicht unterschätzen darf. Diese Erfahrung, dass etwas immer auch sein Gegenteil bedeutet und immer Potenzen hervor bringt, die eigentlich nicht in seiner Intention liegen, und der Habermas’sche Verfassungspatriotismus ist ein gutes Beispiel dafür. Er war eigentlich von Habermas, also in dieser verschärften Formulierung im Vergleich jetzt zu Dolf Sternberger etwa, der Versuch, das Paradigma einer postkonventionellen Identität zu formulieren. Damit ist er weit gekommen, wenn man einmal den kulturellen, den politischen Einfluss dieser Denkströmung in Deutschland betrachtet, wenn man das an so etwas wie kultureller Hegemonie misst, kann man sagen: Ja, das war sehr weitgehend kulturelle Hegemonie, und es war dann 1998, als eine rot-grüne Regierung an die Macht kam, eigentlich auch Regierungspolitik, jedenfalls der größte Teil der Handelnden, der Regierungsmitglieder, war geprägt von diesem Verständnis. Und nun kommt dieses Verständnis in einen wiedererstandenen Nationalstaat und wird, kaum ist die Regierung ein halbes Jahr dran, mit der Frage von Krieg und Frieden konfrontiert. Und dieses gelang nur, indem man die Potenzen dieses Verfassungspatriotismus, also dieses Verständnisses von Nation oder von der Verknüpfung von Nationalstaat und Universalismus, politisch aktivierte und sagte – in einer sehr verkürzten Form: Nie wieder Auschwitz, das bedeutet, wir müssen die serbische Armee bombardieren. Eine unvorstellbare Sache eigentlich noch wenige Monate vorher. Aber diesen dialektischen Umschwung, diesen Qualitätssprung, hat dann Verfassungspatriotismus möglich gemacht, und dann sozusagen in das Gefäß dieses neuen Nationalstaates ist er eingeflossen und hat sich dann vermengt mit Geschichte, mit historischen Bildern, mit Geschichtserzählung, und da heraus gekommen ist schon etwas, was man langsam wahrnehmen kann als das spezifische Selbstverständnis dessen, was ich Berliner Republik nenne.
Hermann Theißen:
Sie zitieren in Ihrem Buch unter anderem den amerikanischen Ökonom Jeremy Riskin, und zwar unterscheidet Riskin zwei unterschiedliche Freiheitskonzepte, die zum einen in den USA und zum anderen in Europa wirksam seien. Er sagt, in den USA herrsche ein sehr individualistisches Freiheitskonzept, beruhend auf dem alten Mythos "Vom Tellerwäscher zum Millionär", das immer weniger gelebt werden kann, das nicht der Realität entspricht. In Europa dagegen gibt es ein Freiheitskonzept, das immer auch auf den anderen bezogen ist, auf Kommunikation, auf Integration, auf Geselligkeit und auf Solidarität. In Ihrem Buch singen Sie geradezu ein Hohes Lied auf Gerhard Schröder, der sich an die Sozialsysteme macht, die er reformieren will oder zurichten will für die Globalisierung. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass in diesem Prozess eine Angleichung an das amerikanische System passiert, weil … Offensichtlich ist es ja so, dass keiner Konzepte hat gegen die Arbeitslosigkeit, und Arbeitslosigkeit ist ein Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben.
Eckehard Fuhr:
Gut, ich verstehe allerdings Gerhard Schröders Reformpolitik als den Versuch einer Politik der Inklusion. Gerade Hartz IV, in dem ich ja einen Paradigmenwechsel der Sozialpolitik erkenne, ist deswegen eine Politik der Inklusion, weil es Leute eben nicht mehr sich selber überlässt, sondern nach dem Prinzip des fordernden Sozialstaates versucht, die Arbeitslosen wieder in Beschäftigung zu bringen.
Hermann Theißen:
Was ist das denn für eine Art der Integration, die fordert, ohne Arbeitsplätze anbieten zu können?
Eckehard Fuhr:
Wenn ich das Buch jetzt beenden würde, würde ich diesen Aspekt, der ja gerade in den letzten Monaten oder in den letzten Wochen, wenn man an Münteferings Kapitalismuskritik denkt, in den Vordergrund getreten ist, noch um genau diesen Aspekt ergänzen. Das ist tatsächlich ein Gesichtspunkt, der in diesem Buch nicht vorkommt, dass diese neue Sozialpolitik nicht einseitig eine Politik des Verzichts und des Abbaus von Sozialsicherungssystemen ist, sondern dass dazu mehrere Seiten, mindestens zwei, gehören.
Soweit Eckhard Fuhr. Sein Buch "Wo wir uns finden – Die Berliner Republik als Vaterland" ist im Berlin Verlag erschienen. 156 Seiten für 18 Euro.